2.Leseabschnitt: Unterhosen des Empire und Tödlicher Nachtschatten (Kapitel 8 - 20)

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Die Ich-Erzählerin scheint aus der Vergangenheit "Narben" davongetragen zu haben.
[zitat]Mit diesem Wort brachte ich mich am Ende in Verbindung, mit einem Nichts, als wäre ich nichts, als gäbe es da überhaupt nichts (Anfang Kapitel 8[/zitat]
Das klingt nach mangelndem Selbstwertgefühl, Minderwertigkeitsgefühlen, die vielleicht sogar in einer Depression gemündet sind.
In der Vergangenheit beschreibt sie, wie sie allmählich zum Mädchen wird, Freundinnen hat: zuerst Carol, für die sie eine Kuriosität zu sein scheint - und Grace. Die Art und Weise zu spielen, ist zu diesem Zeitpunkt (Ende der 40er) noch stark geschlechtsspezifisch ausgeprägt. Das zeigt sich auch an den unterschiedlichen Schulhöfen für Jungen und Mädchen. Elaine bedauert es einerseits und vermisst die Spiele mit ihrem Bruder, andererseits ist sie auch bestrebt sich anzupassen, empfindet es als Erleichterung, da die Regeln für die Spiele klar abgesteckt sind - es geht zunächst nach Grace Willen.
Ein gemeinsames Spiel ist das Murmelwerfen - da kommt auch der Titel her. Elaines Lieblingsmurmel ist ein sogenanntes "Katzenauge".
Nachdem die Familie einen Sommer im Norden verbracht hat, da der Vater eine Raupenplage untersucht, kehren sie nach Toronto zurück.
Elaine sieht Cordelia, die Neue, zum ersten Mal "ohne Vorahnung" an. Allein diese Aussage weckt schon ungute Vorahnungen beim Lesen...
Schnell wird deutlich, dass Cordelia ab jetzt den Ton angibt und die bedrohliche, bedrückende Stimmung manifestiert sich. Cordelia erzählt den anderen Geschichten, auch anzügliche - daher der Titel "Unterhosen des Empire", denn sie spekuliert darüber, welche Unterwäsche die Lehrerinnen tragen.
Im Kapitel "Tödliche Nachtschatten" springt die Handlung zunächst wieder in die Gegenwart. Besonders gut gefallen hat mir das Interview mit der Journalistin, als sich Elaine geweigert hat, sich in eine Schublade stecken zu lassen.
Am Ende des Abschnittes bestätigt sich die Vermutung, dass Cordelia Elaine gegenüber Macht ausübt. Die Szene mit dem lebendigen Begraben ist gruselig. Furchtbarer Gedanke und bezeichnend, dass die Ich-Erzählerin die Erinnerungen ausgelöscht zu haben scheint. Nur die tödlichen Nachtschatten assoziiert sie damit.
 

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Elaine scheinen depressive Phasen nicht fremd zu sein. Auch hier in Toronto überfällt sie die Melancholie. Antriebslosigkeit, Erschöpfung, Konzentrationsschwäche, Wertlosigkeitsgefühle... Wie brüchig ihr Inneres ist, zeigt sich an dem Satz: „Sachen, die auseinanderfallen, machen mir Mut: was auch geschieht, ich bin in besserer Verfassung als sie.“ (S. 55)
Auch aus der Szene in der Galerie kann man ablesen, dass sie eine eher unsichere und sich minderwertig fühlende Frau ist.
Die Formulierung „Ich lasse mich noch immer von Frauen wie Charna herumkommandieren.“ ist eine Andeutung ihrer Tendenz zu Unterwürfigkeit und übermäßiger Anpassung und lässt erahnen, dass ihr etwas Belastendes widerfahren ist.

Schon als Kind scheint sie sich eher als zweitklassig und minderwertig erlebt zu haben. „Carol freundet sich mit ihr an.“ - nicht: „Ich freunde mich mit Carol an.“ Das ist eine typische Aussage für jemanden, der das Gefühl hat, nicht wählen zu dürfen, sondern froh sein zu müssen, dass er auserwählt wird.
 
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Trotz der düsteren Vorahnungen und z. T. beklemmenden Atmosphäre stößt man immer wieder auf witzige Passagen (z. B. die Ausführungen über die Pinkelschrift, Mohrrüben, Extrafinger, die Vorstellung, wie sich Graces Eltern splitternackt paaren (S. 120)) oder Stellen, die ein Wiedererkennungsschmunzeln (Murmelspiel, Strickspule (Strickliesel), Thema Unterhosen/Rock/Jungs...) auf die Lippen zaubern. Auch Die ganz normalen Alltagsbeschreibungen (Schwarz zieht Fussel an, shoppen, Schulalltag, ...) sind vergnüglich zu lesen.

Viele Fragen kommen auf.
Was ist mit der Mutter von Grace, die sie hasst und in einem Porträt verewigt?
Was passierte an ihrem 8. Geburtstag?

Ach ja! Wunderbar, differenziert und klug finde ich die Ausführungen zum Thema Geheimnisträger (S. 132)
 
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Am Ende des Abschnittes bestätigt sich die Vermutung, dass Cordelia Elaine gegenüber Macht ausübt.
... ja, Cordelia scheint ein tonangebendes, besserwisserisches Mädchen mit blühender Fantasie aus einem vornehmeren und reicheren Hause zu sein. Dass sie zwei ältere und damit erfahrenere Schwestern hat, ist ein Vorteil für sie. Die Kränkung, bei diesen Schwestern aber nur das dritte Rad am Wagen zu sein, gibt sie auf verschiedene Arten weiter.
Bezeichnend für ihre zu vermutende Bösartigkeit/Gemeinheit bzw. besser: bösartige oder gemeine Seite, ist neben dem „lebendigen Begräbnis“, das Du beschreibst, vllt auch, dass Elaine in der Umkleidekabine, als sie fast bestohlen wird, sofort an Cordelia denkt.
 

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Elaine ist extrem anpassungsfähig. Das Nomadenleben, sesshaft sein. Wild und frei, zivilisiert. Hose oder Rock. Aber umso älter sie wird, desto mehr beginnt sie nachzudenken. Unmut gegen ihre Eltern kommt auf. Als sie ihr neues Zuhause wieder mal für einige Monate verlassen, denkt sie: „Ich werde aus meinem neuen Leben gerissen, dem Leben von Mädchen.“
Und nachdem sie mit ihrer Freundin Grace deren Kirche besucht hat, hadert sie: „Ich bin ein bisschen verärgert über meine Eltern. Es gibt Dinge, die sie mir vorenthalten haben, Dinge, die ich wissen muss.“
Wie Elaine aufgewachsen ist und aufwächst bringt Gewinn/Gutes und Schwierigkeiten mit sich. Ich bin gespannt, wie‘s weitergeht.
 

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Elaine ist extrem anpassungsfähig. Das Nomadenleben, sesshaft sein. Wild und frei, zivilisiert. Hose oder Rock. Aber umso älter sie wird, desto mehr beginnt sie nachzudenken. Unmut gegen ihre Eltern kommt auf. Als sie ihr neues Zuhause wieder mal für einige Monate verlassen, denkt sie: „Ich werde aus meinem neuen Leben gerissen, dem Leben von Mädchen.“
Und nachdem sie mit ihrer Freundin Grace deren Kirche besucht hat, hadert sie: „Ich bin ein bisschen verärgert über meine Eltern. Es gibt Dinge, die sie mir vorenthalten haben, Dinge, die ich wissen muss.“
Wie Elaine aufgewachsen ist und aufwächst bringt Gewinn/Gutes und Schwierigkeiten mit sich. Ich bin gespannt, wie‘s weitergeht.
Ihre Erziehung passt definitiv nicht in die Zeit und weicht von der Norm ab. Vielleicht hat sie deswegen gegenüber den Freundinnen auch das Gefühl minderwertig zu sein. Andererseits scheint sie die Freiheit auch zu genießen,, wenn sie im Norden mit ihrem Bruder spielen kann.
 

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Ihre Erziehung passt definitiv nicht in die Zeit und weicht von der Norm ab. Vielleicht hat sie deswegen gegenüber den Freundinnen auch das Gefühl minderwertig zu sein. Andererseits scheint sie die Freiheit auch zu genießen,, wenn sie im Norden mit ihrem Bruder spielen kann.
... Ich finde das ziemlich spannend. Irgendwie ist das Nomadenleben für Sie auch eine Bereicherung. Die Freiheit, die Natur Verbundenheit, die Beziehung zum Bruder. Sie kann sich da ziemlich natürlich entfalten. Und ihre Eltern haben eine ziemlich unkonventionell Erziehung und geben ihr auch viel Freiheit, um sich zu entwickeln. Auch was das Thema Religion betrifft, gewähren ihre Eltern ihr Freiheit und Entscheidungsbefugnis.
Aber aufgrund dieses mangels an Grenzen und Normen und Konventionen hat sie dann in der Zivilisation gewisse Schwierigkeiten. Plötzlich spielen Dinge eine Rolle, die vorher kaum eine oder keine Rolle gespielt haben. Plötzlich entdeckt sie so manches, was ihr gefällt, was sie verführt, was sie reizt. Und das bringt sie durcheinander und macht sie unsicher. Glaube ich.
 

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Aber aufgrund dieses mangels an Grenzen und Normen und Konventionen hat sie dann in der Zivilisation gewisse Schwierigkeiten. Plötzlich spielen Dinge eine Rolle, die vorher kaum eine oder keine Rolle gespielt haben. Plötzlich entdeckt sie so manches, was ihr gefällt, was sie verführt, was sie reizt. Und das bringt sie durcheinander und macht sie unsicher. Glaube ich.
In dieser Unsicherheit liegt meines Erachtens ihre Unfähigkeit, Cordelia in die Schranken zu weisen. Sie verdrängt das Begräbnis, weil sie sich anpassen will.
 

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In dieser Unsicherheit liegt meines Erachtens ihre Unfähigkeit, Cordelia in die Schranken zu weisen. Sie verdrängt das Begräbnis, weil sie sich anpassen will.
...und weil es so eine schlimme und beängstigende Erfahrung war. Besonders schmerzliche Ereignisse werden häufig verleugnet und die Gefühle dazu verdrängt.
 

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Ihre Erziehung passt definitiv nicht in die Zeit und weicht von der Norm ab. Vielleicht hat sie deswegen gegenüber den Freundinnen auch das Gefühl minderwertig zu sein. Andererseits scheint sie die Freiheit auch zu genießen,, wenn sie im Norden mit ihrem Bruder spielen kann.
Na ja, sie hat ja einigen Grund, sich minderwertig zu fühlen. Ihre Familie kann finanziell mit den anderen nicht mithalten, da fällt sie schon allein durch ihre Kleidung aus dem Rahmen.

Ihre Erziehung passt definitiv nicht in die Zeit. Da war es wohl eher anstößig unkonventionell zu sein.
 

sursulapitschi

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... Ich finde das ziemlich spannend. Irgendwie ist das Nomadenleben für Sie auch eine Bereicherung. Die Freiheit, die Natur Verbundenheit, die Beziehung zum Bruder. Sie kann sich da ziemlich natürlich entfalten. Und ihre Eltern haben eine ziemlich unkonventionell Erziehung und geben ihr auch viel Freiheit, um sich zu entwickeln. Auch was das Thema Religion betrifft, gewähren ihre Eltern ihr Freiheit und Entscheidungsbefugnis.
Aber aufgrund dieses mangels an Grenzen und Normen und Konventionen hat sie dann in der Zivilisation gewisse Schwierigkeiten. Plötzlich spielen Dinge eine Rolle, die vorher kaum eine oder keine Rolle gespielt haben. Plötzlich entdeckt sie so manches, was ihr gefällt, was sie verführt, was sie reizt. Und das bringt sie durcheinander und macht sie unsicher. Glaube ich.
Ich glaube, es kommt auch dazu, dass sie ihr unkonventionelles Familienleben nicht zu schätzen weiß. Das kennt sie, das ist nichts besonderes. Dagegen das spießige Familienleben ihrer Freundinnen ist eine unbekannte Welt und viel interessanter.
 

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Ich tue mich inzwischen etwas schwer mit dem Buch. Ja, der Stil ist wunderbar, die Beschreibungen höchst treffend und es wurde wirklich viel Zeitgeist und Lokalkolorit eingefangen, aber es geht auch sehr gemächlich dahin... bis das Begräbnis kam. Das machte dann wach.
:D
...dann hoffen wir mal, dass noch Einiges kommt, das Dich wach hält
;-)
 

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Ja, der Stil ist wunderbar, die Beschreibungen höchst treffend und es wurde wirklich viel Zeitgeist und Lokalkolorit eingefangen, aber es geht auch sehr gemächlich dahin... bis das Begräbnis kam. Das machte dann wach.
Da bin ich ganz bei dir. Die Handlung dümpelt so vor sich hin. Es wird die Kirche beschrieben. Die Sternsammlung des Bruders. Die Parallelen zwischen beidem....
Man wird so richtig eingelullt. Dann auf einmal wieder eine markante Szene, die meinen Bleistift zucken lässt.

Man braucht einen langen Atem. Ich glaube, dass macht Atwood extra so. Gaaaanz langsam nähert sie sich dem Ziel.
Hier war es dieses Begräbnis. Aus dem wenigen, was Elaine darüber noch weiß, geht anhand der Schlüsselworte Verrat, Panik, Scham und Versagen die Tragweite hervor, die das Ereignis hat. Über den 9. Geburtstag werden wir gewiss noch mehr erfahren.
 

Literaturhexle

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Furchtbarer Gedanke und bezeichnend, dass die Ich-Erzählerin die Erinnerungen ausgelöscht zu haben scheint. Nur die tödlichen Nachtschatten assoziiert sie damit.
Absolut. Ein traumatisches Erlebnis!
Das ist eine typische Aussage für jemanden, der das Gefühl hat, nicht wählen zu dürfen, sondern froh sein zu müssen, dass er a
Das hast du sehr genau und treffend beobachtet. Das Minderwertigkeitsgefühl Elaines zieht sich durch das ganze Buch (bis jetzt zumindest).
Elaine ist extrem anpassungsfähig. Das Nomadenleben, sesshaft sein. Wild und frei, zivilisiert. Hose oder Rock.
Deine Charakterisierungen sind sehr zutreffend! Manches würde ich einfach überlesen... Gerne weiter so ;)
 

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Anlehnend an unsere kleine Lesemontagsdiskussion gebe ich zu, dass mich die Berichte der erwachsenen Elaine stärker fesseln. Die Figur hat Tiefe und strahlt Traurigkeit aus, was irgendwo in der Kindheit seine Ursache haben muss.

Elaine war Außenseiterin in vielen Beziehungen. Sie hat ein anderes Elternhaus, die Unterschiede habt ihr bereits beschrieben. Ihr Wissen über Pflanzen und Tiere, über Umzüge hat keine Relevanz. Damit kann sie nicht punkten.

Warum hasst Elaine Mrs Smeath (die herzkranke Mutter) so sehr?
War sie gar nicht herzkrank sondern zeitweilig depressiv? Vielleicht erfahren wir es noch. Die Szene am Ende von Kap.11 halte ich für wichtig. Auch deshalb, weil sie in ihrem malerischen Werk eine Rolle zu spielen scheint: "Mrs Smeath, wunderschön in Temperafarben..." (Kap.16)

Auch die Lehrerin Miss Lumley ist eine Granate! Sie tut wirklich alles, um das Selbstbewusstsein der Kinder zu brechen und sie zu kleinen Briten zu erziehen. Dieser Lehrerin können sich die Mädchen nur erwehren, indem sie sie intern lächerlich machen - teilweise allerdings durch Cordelia gelenkt etwas sehr bösartig.
 

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Anlehnend an unsere kleine Lesemontagsdiskussion gebe ich zu, dass mich die Berichte der erwachsenen Elaine stärker fesseln. Die Figur hat Tiefe und strahlt Traurigkeit aus, was irgendwo in der Kindheit seine Ursache haben muss.
Interessant, mich fesseln die Rückblicke mehr, da ich wissen will, wie sie zu der geworden ist, die sie jetzt ist.
 

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Interessant, mich fesseln die Rückblicke mehr, da ich wissen will, wie sie zu der geworden ist, die sie jetzt ist.
... Mir geht es da ja ähnlich wie Literaturhexle. Ich glaube, das hängt mit dem Identifikationsbedürfnis zusammen ;-)
Ich mag beides. Aber ich würde gern anteilsmäßig mehr vom „hier und jetzt“ und der erwachsenen Elaine lesen... vllt kommt das ja noch.