2. Leseabschnitt: Teil ZWEI (Seite 69 bis 179)

GAIA

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27. Dezember 2021
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Um also auch in der (post-)kolonialen Literatur meine Gefühle, Bedürfnisse, meine Geschichte zu erzählen, muss ich mich der Sprache derer bedienen, die mich unterdrückt und besiegt haben. Sprache ist dazu ein wesentliches Macht- und Unterdrückungsinstrument - wie man auch bereits in diesem Roman sieht, aber auch historisch in allen Kolonialgesellschaften oder auch in Irland.
Ich habe mal deinen Kommentar gekürzt, will aber einmal ganz global sagen: Danke für deine tollen Beiträge! Du kannst diesbezüglich alles so toll erklären. :)
 
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alasca

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13. Juni 2022
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Hamza bietet gegenüber Ilyas dem Autor den Vorteil, ein unbeschriebenes Blatt zu sein. Seine Vorgeschichte ist dem Leser nicht bekannt, eigentlich erfahren wir zu Beginn ja auch nur, dass er sich freiwillig gemeldet hat - die Gründe dafür sind gänzlich unbekannt (es sei denn, ich habe das überlesen).
Wer "Das verlorene Paradies" gelesen hat, kennt Hamza schon - wenn auch unter dem Namen Yussuf. "Nachleben" ist die Fortsetzung.
Für mich ist der Roman wirklich "großes Kino" - ich tauche hier völlig ab. Bisher ganz großartig.
Ja, ich bin auch sehr begeistert!
 

alasca

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13. Juni 2022
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Genau. Und da ist das Problem, weil mündliche Tradition nach wie vor der schriftlichen gegenüber als nicht gleich berechtigt gesehen wird, als nicht so dauerhaft.
Sie wird nicht nur so gesehen, sie ist es schlicht nicht. Die mündliche Überlieferung ist der schriftlichen unterlegen - deshalb ist ja auch Gutenberg so wichtig für die westliche Kultur gewesen - und ist es noch.

Länder mit niedriger Alphabetisierung hinken bis heute dem Weltgeschehen und -markt hinterher.
 

alasca

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13. Juni 2022
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Dazu kommt als wesentliches Thema in der Debatte um postkoloniale Literatur, dass natürlich fast alles in der Sprache der Herrschenden und Sieger geschrieben wird (und werden muss), damit es überhaupt jemand liest/versteht. Um also auch in der (post-)kolonialen Literatur meine Gefühle, Bedürfnisse, meine Geschichte zu erzählen, muss ich mich der Sprache derer bedienen, die mich unterdrückt und besiegt haben. Sprache ist dazu ein wesentliches Macht- und Unterdrückungsinstrument - wie man auch bereits in diesem Roman sieht, aber auch historisch in allen Kolonialgesellschaften oder auch in Irland. In Nordirland ist es z.B. erst seit diesem Jahr wieder gestattet, die irische Sprache bei Gerichtsverhandlungen zu verwenden.
Daher gibt es im Roman auch die vielen Einschübe in Suahili - Gurnah stellt diese der Amtssprache gegenüber.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Man darf nicht vergessen, dass im postkolonialen Roman die Protagonisten - gerade auch wenn es sich um Coming-of-Age/Ausbildungsprozesse handelt - als Sinnbild des Landes oder der Nation stehen. Bei Hamza drängt sich das in diesem Abschnitt fast für mich auf: von der Passivität zur Unabhängigkeit durch Momente der schlimmsten Gräueltaten und durch blutige und kraftzehrende Heilungsprozesse zu einem gewissen Maß an Unabhängigkeit.
Sehr wichtiger Hinweis, auf den ich nicht selbst gekommen wäre. Genau deshalb kann Ilyas nicht die Hauptfigur bleiben.
Bei Aifya verhält sich die Situation interessanterweise gegenläufig zum normalen Frauenbild, denn sie erscheint mir als Figur, die sich nach Aktivität und Herausforderung sehnt. Sie versucht im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Regeln zu beugen und es gelingt ihr auch immer wieder.
Im obigen Sinn verkörpert Aifya die Weiterentwicklung, die Zukunft des Landes.
Aber das sind alles "europäische" Aufzeichnungen aus der Sicht der Herrschenden. Da bekommt man nur schwerlich eine nicht imperialistisch geprägte Sichtweise zu lesen - ganz im Sinne von "Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben"...
Deshalb ist es so wichtig, Literatur aus Afrika ( oder anderen Kolonien) zu lesen. Dazu muss sie aber erstmal geschrieben, publiziert und übersetzt werden. Gerade letzteres ist oft das Problem, wenn die Autoren nicht auf Englisch oder Französisch schreiben. Literatur in der ursprünglichen Landessprache erhält nie die Aufmerksamkeit, dass sich der Weltmarkt dafür interessiert und wenn, fehlen die Übersetzer.

Hätte ich weitergelesen, hätte ich bemerkt, dass Du auch auf das Thema eingehst.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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??? Natürlich nicht! Was meinst du überhaupt mit "befrieden"?
Nachtrag: Hier habe ich mich offenbar einer alten Ausdrucksweise bedient, die aber tatsächlich in meinem Wortschatz zu finden ist:
Befrieden =
  1. 1b.
    VERALTEND
    beruhigen, ruhig und friedlich stimmen; mit Frieden, innerer Ruhe erfüllen
    "er ließ sich befrieden"
Also den Mainstream bedienen, beruhigen, bestätigen, sich ihm anpassen. In der Richtung habe ich das gemeint. Das sollte aus dem Kontext heraus aber klar gewesen sein.
 

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29. März 2022
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Der Roman packt mich immer mehr. Ich denke, es ist ein gutes Lehrstück in der Verarbeitung deutscher Kolonialgeschichte.
Mit Hamza, einem neu eingeführten Charakter, erfahren wir, wie es ist ein Askari zu sein. Letztendlich hat er Glück im Unglück. Er wird schwer verwundet, aber überlebt. Er erbt mit dem Buch des Oberleutnants ein Stück deutscher Kultur, was hier sicherlich eine doppelte Bedeutung hat.
Über Illiyas erfahren wir erst mal nichts. Ich denke aber, er wird wieder auftauchen. Ich hoffe es.
Afiya reift zur jungen Dame heran und muss zunehmend die damit verbundenen Einschränkungen in Kauf nehmen. Ihre Verheiratung wird auch ins Gespräch gebracht.
Ich bin gespannt, wie es weiter geht...
 

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Diese Autorinnen stehen alle noch auf meiner Wunschliste. Gurnahs Stärke liegt nicht darin, einen tief ins Geschehen hineinzuziehen.
Trotzdem mochte ich diesen etwas distanzierteren, berichtenden Blick in diesem Abschnitt - es war sowieso schon grausam genug. Außerdem habe ich den Eindruck, sehr viel von der damaligen Atmosphäre, den Wertvorstellungen und überhaupt dem Kriegsgeschehen mitbekommen zu haben. Ich beende diesen Abschnitt mit zahlreichen, lebendigen Bildern im Kopf. Das mag ich.
Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass Gurnahs distanzierter Blick auf die Geschichte die Stärke des Romans ausmacht. So kann man sich als Leser auch ganz anders dazu selbst positionieren. Mir gefällt es gut.
Ich weiß. Und nicht nur das: Sie wollen es oft auch, weil es schwer auszuhalten ist, wenn die eigene Einschränkung (oder Beschneidung) und das Leiden, das damit einhergeht, plötzlich unnötig und überflüssig - und sogar falsch - sein soll.
Mhm, ich denke man muss auch das Thema Genitalbeschneidung versuchen aus der inneren Kulturlogik heraus zu betrachten. In vielen Kulturen ist es die Normalität, es hat eine besondere Bedeutung. Wir neigen dazu, das Phänomen vorschnell zu verteufeln. So schneiden wir uns aber letztlich von der Möglichkeit selbst ab, ein tieferes Verständnis zu erlangen (und dann auf diesem Hintergrund agieren zu können).
Genau das habe ich auch vermisst. Ständig versucht man, Begriffe zu googeln, die sich aber als uneindeutig herausstellen. Die Bewegungen, Aufstände und Stämme hätte man zudem gut in einem Anhang zusammenfassen können
Stimme zu. Ein Glossar wäre sehr hilfreich.
Für mich war die Einführung einer neuen Figur (Hamza) eine Art Kunstgriff, um das Wesen dieses Kolonialkrieges zu zeigen. Mal schauen, wie ihn Ilyas überstanden hat - wenn er noch am Leben ist
So sehe ich das auch.
Das war nicht nur in Afrika, sondern letztlich in allen Kolonien (egal ob deutsche, britische, französische usw.) so - man unterschätzt u.a. aber auch die Macht und die Autorität, die die Kolonisierten, die sich anpassten, von den Kolonialisten erhielten
Das ist eine Debatte, die unter dem Begriff "innere Kolonisierung" geführt wird. O'Tiongo hat dazu in seinen Essays einige interessante Einblicke gegeben. Er zeigt eben auch auf, wie Machthaber von der Kolonisierung profitierten. Natürlich ein massives Hindernis, sich von Kolonialmächten zu befreien.
Wer "Das verlorene Paradies" gelesen hat, kennt Hamza schon - wenn auch unter dem Namen Yussuf. "Nachleben" ist die Fortsetzung
Das wusste ich gar nicht. Vielen Dank für den Hinweis.
Deshalb ist es so wichtig, Literatur aus Afrika ( oder anderen Kolonien) zu lesen. Dazu muss sie aber erstmal geschrieben, publiziert und übersetzt werden. Gerade letzteres ist oft das Problem, wenn die Autoren nicht auf Englisch oder Französisch schreiben. Literatur in der ursprünglichen Landessprache erhält nie die Aufmerksamkeit, dass sich der Weltmarkt dafür interessiert und wenn, fehlen die Übersetzer.
Da hast Du vollkomen Recht. Letztendlich bedeutet aber auch das Schreiben auf Englisch und Französisch ein Entfernen der Afrikaner von der egienen Kultur. O'Thiongo fordert deswegen vehement zur eigenen oralen Erzähltradition zurückzukehren. Es ist ein spürbares Überbleibsel der Kolonialmacht, dass Kinder in Schulen gezwungen werden, die Sprache der Kolonisierer zu sprechen. Es geht sogar so weit, dass Kinder sanktioniert werden, wenn sie afrikanische Sprachen an Schulen sprechen.
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Leider fand ich das Geschehen nicht gut in Romanform gebracht. Da musste ich an die aktuellen Veröffentlichungen von jungen afrikanischen Autroinnen denken, die das meines Erachtens viel besser schafften. z.B. Kopano Matlwa, Yaa Gyasi(!), Imbolo Mbue etc. Bei diesen Autorinnen wurde ich richtig in die Geschichte hineingezogen und habe zusetzlich noch viel gelernt.

Ich finde es schwierig, Autoren nur aufgrund ihrer Herkunft zu vergleichen, noch dazu, wenn sie aus ganz unterschiedlichen Ländern dieses großen Kontinents stammen. Aber grundsätzlich gebe ich dir damit recht, dass mir Gyasis und Mbues Bücher besser gefallen.

Wer "Das verlorene Paradies" gelesen hat, kennt Hamza schon - wenn auch unter dem Namen Yussuf. "Nachleben" ist die Fortsetzung.

Hmm. Das hätte ich gerne früher gewusst. Dann hätte ich das Paradies noch vorher eingeschoben. Danke für die Info!
 

alasca

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13. Juni 2022
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Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass Gurnahs distanzierter Blick auf die Geschichte die Stärke des Romans ausmacht. So kann man sich als Leser auch ganz anders dazu selbst positionieren. Mir gefällt es gut.
Sehe ich auch so.
Mhm, ich denke man muss auch das Thema Genitalbeschneidung versuchen aus der inneren Kulturlogik heraus zu betrachten. In vielen Kulturen ist es die Normalität, es hat eine besondere Bedeutung. Wir neigen dazu, das Phänomen vorschnell zu verteufeln. So schneiden wir uns aber letztlich von der Möglichkeit selbst ab, ein tieferes Verständnis zu erlangen (und dann auf diesem Hintergrund agieren zu können).
Holla. Dir sind die blutigen Details bekannt? Welches tiefere Verständnis jenseits der Erkenntnis, dass diese Praxis dazu dient, die Frauen ihrer Sexualität zu berauben, mit dem Nebeneffekt, dass man ihre Reproduktionsorgane noch besser unter Kontrolle hat, könnte es da geben? Da machst du mich neugierig.

Man kann es mit der Toleranz auch übertreiben.
O'Thiongo fordert deswegen vehement zur eigenen oralen Erzähltradition zurückzukehren.
Das ist ein zweischneidiges Schwert - ich würde es für einen Rückschritt halten, jedenfalls dann, wenn es die schriftbasierte Kultur ersetzen soll. Als Ergänzung ist das sicher eine gute Sache.

Mit O´Thiongos eigenem Stil habe ich übrigens große Probleme; er orientiert sich sehr an der oralen Manier, was zu ausufernden Geschichten führt, die extrem redundant und von den Figuren her vollkommen eindimensional sind. Den hochgelobten "Herrn der Krähen" habe ich keine 50 Seiten lang ausgehalten.
 
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29. März 2022
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Holla. Dir sind die blutigen Details bekannt? Welches tiefere Verständnis jenseits der Erkenntnis, dass diese Praxis dazu dient, die Frauen ihrer Sexualität zu berauben, mit dem Nebeneffekt, dass man ihre Reproduktionsorgane noch besser unter Kontrolle hat, könnte es da geben? Da machst du mich neugierig.
Ja schon. Aber man kann nur kultursensibel damit und mit dessen Folgen umgehen, wenn man die Hintergründe in der betreffenden Kultur kennt, warum die Praktiken so weit vertreten sind und welche Bedeutung sie in der betreffenden Kultur haben. Viele Mädchen und Frauen entscheiden sich ja bewusst dafür. Bitte nicht falsch verstehen, im Sinne, ich würde solche Praktiken schön reden. Aber ich denke, es ist auch hier ein Fehler, einseitig unsere "westliche" Sichtweise zuzulassen. Mehr Wissen über kulturspezifische Hintergründe hilft sicher eher, das Problem wirklich an der Wurzel anzugehen.
Mit O´Thiongos eigenem Stil habe ich übrigens große Probleme; er orientiert sich sehr an der oralen Manier, was zu ausufernden Geschichten führt, die extrem redundant und von den Figuren her vollkommen eindimensional sind. Den hochgelobten "Herrn der Krähen" habe ich keine 50 Seiten lang ausgehalten.
Das ist eine bewusste Entscheidung des Autors, nachdem er lange Zeit seine Werke erst auf englisch publiziert hatte. Nun schreibt er in seiner Muttersprache Kikuyu und übersetzt dann selbst ins Englische. Das hat eine stärkere Nähe zur oralen Erzähltradition zur Folge. Ich finde es aber durchaus interessant und lohnenswert, diesen Kulturen eine Stimme zu geben, da sie in der Weltliteratur ja leider oft untergehen.
 

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29. März 2022
2.572
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Mainz
Bewertet das doch bitte nicht über;)
Dieser Roman funktioniert völlig ohne Vorkenntnisse. Alles andere ist Geschmackssache
Tatsächlich scheint es ja auch so, dass der Autor selbst die Werke eher getrennt sieht. Sonst hätte er den Protagonist wohl kaum mit einem anderen Namen versehen.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Ja schon. Aber man kann nur kultursen Viele Mädchen und Frauen entscheiden sich ja bewusst dafür.
Die Mädchen auch?
Da ist ganz viel Aufklärung nötig. Man muss Frauen und Männer darüber aufklären, was eine solche Verstümmelung bedeutet. Da braucht es Männer und Frauen aus den jeweiligen Communities am besten auch solche mit Einfluss, die von Dorf zu Dorf ziehen, beide Geschlechter vom Schaden der Beschneidung überzeugen und diejenigen stützen, die mit dieser Tradition brechen.