2. Leseabschnitt: Teil ZWEI (Seite 69 bis 179)

GAIA

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2021
2.229
10.406
49
Thüringen
Hier kommt nun ein neuer Charakter hinzu. Und statt von Ilyas' Erfahrungen in der Truppe und vom Krieg zu lesen, lesen wir von Hamza und dessen Erfahrungen. Ilyas ist zwar schon einmal für seine Schwester von den Toten und Verschwundenen wieder aufgetaucht, aber ich befürchte, dass er dieses Mal nicht wieder zurückkommt. Warum hätten wir sonst den Krieg aus Sicht eines neuen Charakters kennengelernt?
Apropos aus Sicht von Hamza: Ich finde auch in diesem zweiten LA gibt es wieder, oder sogar vermehrt, Passagen, die wie aus einem Geschichtslehrbuch klingen. Besonders ist mir das um die Seiten 120-125 herum aufgefallen. Dort werden die Kriegsbewegungen etc. ganz besonders losgelöst vom Romangeschehen erzählt. Mitunter hatte ich das Gefühl, es fehlte nur noch eine erklärende Karte mit Einfärbungen für die Kreigsparteien und Truppenbewegungen in Pfeilform, wie wir es eben aus Geschichtsbüchern kennen. Das ist zwar definitiv interessant und wichtig zu beschreiben, da mir fast alles davon bisher unbekannt war (zumindest im Detail, denn dass sich der 1.Weltkrieg auch in den Kolonien mit einheimischen Soldaten als Kanonenfutter ausgefochten wurde, hatten wir durchaus im Geschichtsunterricht.).
Leider fand ich das Geschehen nicht gut in Romanform gebracht. Da musste ich an die aktuellen Veröffentlichungen von jungen afrikanischen Autroinnen denken, die das meines Erachtens viel besser schafften. z.B. Kopano Matlwa, Yaa Gyasi(!), Imbolo Mbue etc. Bei diesen Autorinnen wurde ich richtig in die Geschichte hineingezogen und habe zusetzlich noch viel gelernt. Hier wird mir zu viel referiert. Obwohl grundsätzlich der zweite Teil definitiv schon mehr in die Tiefe bezüglich einzelner Charaktere geht. Keine Frage. Hoffentlich steigert sich diese Begleitung der Charaktere im Verlauf der zweiten Romanhälfte noch weiter.
 

Irisblatt

Bekanntes Mitglied
15. April 2022
1.284
5.357
49
53
Jetzt hat mich Gurnah gepackt. Die Beschreibungen der Beschimpfungen, Demütigungen und Grausamkeiten, mit denen die Askari bzw. die Anwärter behandelt wurden gingen mir nahe. Ebenso Hamzas Zweifel, ob er die richtige Entscheidung getroffen haben mag, dann wieder sein Stolz, einer solchen furchteinflößenden starken Truppe anzugehören.
Ich finde dieses dritte Kapitel auch deshalb so gelungen, weil es verdeutlicht, dass die Kolonialmächte tatsächlich annahmen sie seien etwas besseres und daher im Recht so zu handeln. Nur, wenn Menschen ihr Menschsein abgesprochen wird, sie als unzivilisiert betrachtet werden, gibt es eine zweifelhafte Rechtfertigung für diesen menschenverachtenden Umgang - es kann sogar so gedreht werden, dass all diese Ungeheuerlichkeiten nur zum besten dieser "Wilden" seien. Ganz schlimm. So anschaulich habe ich das in Bezug auf Kolonialismus bisher noch nicht gelesen.
Erstaunt hat mich, dass Frauen und Kinder die Schutztruppe begleiteten, ein Zugeständnis an die einheimische Bevölkerung. Waren diese wirklich immer noch dabei als es die schweren Gefechte und Hinterhalte gab? Vermutlich nicht.
Hamza hatte Glück im Unglück. Wie es wohl Ilyas ergangen ist und ob wir noch von ihm lesen werden?
Die Geschichte um Afiya habe ich gerne gelesen. Sie spürt die Einschränkungen deutlich, die mit ihrem Erwachsenwerden zu tun haben. Jetzt ist bereits im Gespräch, sie zu verheiraten - ich denke, davon ist sie nicht begeistert. Sie ist für mich eine sehr interessante Protagonistin, bei der ich überhaupt nicht einschätzen kann, inwiefern sie sich den gesellschaftlichen Vorstellungen unterordnen wird.
Insgesamt war das ein hart zu lesender Abschnitt. Ob es jetzt erst einmal ein Durchatmen gibt?
 

alasca

Bekanntes Mitglied
13. Juni 2022
2.972
9.423
49
Wieder eine neue Figur: Hamza. Ich war erst ganz verwirrt, weil ich dachte, er wäre vorher schon mal vorgekommen und ich hätte es überlesen ... Am Beispiel Hamza bekommen wir vorgeführt, wie es war, ein Askari zu werden und zu sein. Ein Prozess der Abhärtung, auch der Demütigung und Unterordnung, der in den Stolz mündet, einer der legendären, schreckenerregenden Askari zu sein.

Der Oberleutnant eine interessante Figur, ambivalent und undurchschaubar aus Hamzas Perspektive. Hamza wird gedisst, weil alle ihn für den Loverboy des OLeu´s halten; Hamza fürchtet ständig einen sexuellen Übergriff, der nicht geschieht, und am Ende des LAs erfahren wir, dass die Faszination des OLeu´s auf einer gefühlten Ähnlichkeit mit dessen Bruder herrührte.

Der ganze Abschnitt ein Lehrstück in ostafrikanischer Kolonialgeschichte - die Afrikaner schlagen sich stellvertretend für die europäischen Interessengruppen, zum eigenen Nachteil. Erschütternd. Warum haben sie das gemacht? Nicht dass ich die Deutschen mit ihrem Rassismus in Schutz nehmen will, aber warum haben die Afrikaner so willig mitgemacht?

Das Schiller-Buch steht für die ganze deutsche Kultur - und Hamza ist ihr Erbe.

Khalifa profiliert sich geschäftlich, und Afiya wächst heran - und bekommt die muslimischen Einschränkungen zu spüren, denen Frauen unterworfen sind. Interessanter- und realistischerweise ist Khalifas Frau diejenige, die diese patriarchalen Normen durchsetzen will, während (nicht so typisch) Khalifa die liberale Seite vertritt.

Die ganze Zeit fragt man sich, was aus Iliyas geworden ist, und befürchtet das Schlimmste. Aber gerade WEIL man nichts erfährt, glaube ich, dass er noch lebt und wir bald mehr erfahren werden.

Mittlerweile hat das Buch mich gepackt; ich mag diesen sachlichen, fast dokumentarischen Stil. Gleichzeitig gewinnen die Figuren an Tiefe - und ich nehme lebhaften Anteil an ihrem Schicksal.

Ob Afiya sich auflehnen wird?
 
Zuletzt bearbeitet:

Irisblatt

Bekanntes Mitglied
15. April 2022
1.284
5.357
49
53
Leider fand ich das Geschehen nicht gut in Romanform gebracht. Da musste ich an die aktuellen Veröffentlichungen von jungen afrikanischen Autroinnen denken, die das meines Erachtens viel besser schafften. z.B. Kopano Matlwa, Yaa Gyasi(!), Imbolo Mbue etc. Bei diesen Autorinnen wurde ich richtig in die Geschichte hineingezogen und habe zusetzlich noch viel gelernt.
Diese Autorinnen stehen alle noch auf meiner Wunschliste. Gurnahs Stärke liegt nicht darin, einen tief ins Geschehen hineinzuziehen.
Trotzdem mochte ich diesen etwas distanzierteren, berichtenden Blick in diesem Abschnitt - es war sowieso schon grausam genug. Außerdem habe ich den Eindruck, sehr viel von der damaligen Atmosphäre, den Wertvorstellungen und überhaupt dem Kriegsgeschehen mitbekommen zu haben. Ich beende diesen Abschnitt mit zahlreichen, lebendigen Bildern im Kopf. Das mag ich.
 

alasca

Bekanntes Mitglied
13. Juni 2022
2.972
9.423
49

Sassenach123

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2015
4.295
10.430
49
49
Es ist sehr sachlich, das stimmt. Die Emotionalität ist aber dennoch da, zwar zurückhaltend, aber die Charaktere packen einen dennoch.
Für meinen Teil ist es auch genug Emotionalität. Wäre sie stärker ausgeprägt, würde mir das lesen mehr zusetzen, da die Themen als solches schon harter Tobak sind.
 

Sassenach123

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2015
4.295
10.430
49
49
Hamzas auftauche hat mich erst verwirrt. Ganz kurz dachte ich, dass Ilyas Name verändert wurde, was natürlich totaler Quatsch ist, aber das ging mir als erstes durch den Kopf.
Er und der Leutnant……schon makaber das ganz. Das es zwischen den beiden nicht zu sexuellen Handlungen kam, hat mich zuerst überrascht, als ich dann aber erfahren habe, dass er bei dem Ganzen an seinen verstorbenen Bruder dachte, bekam ich einen neuen Blickwinkel. Auch die Lästerei, bald Schiller lesen zu können, bekam damit eine tiefe Bedeutung.

Afiya hat es gut getroffen, es wirkt nicht so, als ob sie daran zu Grunde geht, dass ihr Bruder in den Krieg gezogen ist. Sie weiß nur wenig, und ich frage mich, ob er als Funker, nicht Möglichkeiten gefunden hätte, sich in der langen wenigstens einmal zu melden. Das er dies nicht getan hat, könnte auch bedeuten, dass er tot ist. Wir werden es sehen.
Afiya wird zur Frau, dennoch hoffe ich, dass sie nicht schon verheiratet wird. Auch wenn es natürlich nicht ungewöhnlich wäre, wünscht man sich als Leser doch etwas anderes für sie. Sie kann lesen und schreiben, sie ist anders als die meisten Frauen in ihrer Umgebung, wahrscheinlich denke ich deshalb direkt an eine andere Laufbahn für sie. Doch war das damals überhaupt möglich, ohne an der Seite eines Mannes zu stehen? Wohl eher nicht.
so oder so, die Geschichte hat mich gepackt.
 

Sassenach123

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2015
4.295
10.430
49
49
Ich finde dieses dritte Kapitel auch deshalb so gelungen, weil es verdeutlicht, dass die Kolonialmächte tatsächlich annahmen sie seien etwas besseres und daher im Recht so zu handeln. Nur, wenn Menschen ihr Menschsein abgesprochen wird, sie als unzivilisiert betrachtet werden, gibt es eine zweifelhafte Rechtfertigung für diesen menschenverachtenden Umgang - es kann sogar so gedreht werden, dass all diese Ungeheuerlichkeiten nur zum besten dieser "Wilden" seien.
Ja, und leider ist dies in der Geschichte ja auch kein Einzelfall. :sad
Am Ende des Abschnitts wird gesagt, der Feldwebel, der Hamzas das angetan hat, sei verrückt? Er wollte obendrein so auch den Leutnant angehen? Ob er sich jemals verantworten musste?
 

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.635
4.771
49
62
Essen
Ich war zu Beginn des 2. LA sehr verwirrt, das Buch hat mich irgendwie an der Nase herum geführt, oder ich war einfach zu unaufmerksam. LA1 endet damit dass, Ilyas sich auf den Weg in den Krieg macht. Und so las und las ich den 2. LA zunächst erstmal mit de Verständnis, hier geht es weiter um Ilyas und seine Erlebnisse. Bis ich irgendwann stolperte und dachte "Hamsa, warum Hamsa, wer ist Hamsa?" Wir verlieren Ilyas in LA2 fast ganz aus dem Blick. Und wenden uns diesem Hamsa zu, der auch irgendeine Vergangenheit im Heimatdorf von Ilyas hat. Wissen wir, welche? Mir war er vorher nicht aufgefallen, jedenfalls nicht im Sinn geblieben bei der doch recht großen Anzahl von Personen mit uns unbekannten Namen. Aber irgendwann habe ich mich dann auf Hamsa eingelassen und so habe ich LA2 mit Interesse gelesen. Er vermittelt uns das Geschehen während des 1. Weltkriegs, als auf einmal auch die Kolonien an der Seite ihrer zufälligen Kolonialisten kämpfen mussten.
Inzwischen finde ich es schade, dass der Verlag es nicht für nötig befunden hat, den Lesern ein wenig Hilfestellung zu geben mit zB einem Glossar oder auch einer kleinen Landkarte zum Geschehen.
Was genau zB ist ein Askari? Wie sieht eine Kanga aus? Selbst über Google ist das nicht so einfach zu finden.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.186
49
Da musste ich an die aktuellen Veröffentlichungen von jungen afrikanischen Autroinnen denken, die das meines Erachtens viel besser schafften. z.B. Kopano Matlwa, Yaa Gyasi(!), Imbolo Mbue
"Mehr Emotionalität" birgt aber auch immer das Risiko von mehr Effekthascherei, Sentimentalität und Klischee. Damit kann ein Roman an Glaubwürdigkeit verlieren. Diesem Risiko setzt sich Gurnah nicht aus.
Alles ist Geschmackssache. Aber Imbolo Mbue (andere der Genannten kenne ich nicht) würde ich nie als großartige Literatur feiern. Deren Intention steht von Anfang an fest. Gurnah wirkt auf mich viel eindringlicher. Vergleiche sind aber immer heikel.
 

GAIA

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2021
2.229
10.406
49
Thüringen
Ganz kurz dachte ich, dass Ilyas Name verändert wurde, was natürlich totaler Quatsch ist, aber das ging mir als erstes durch den Kopf.
Haha, das hätte in einem russischen Roman gut passieren können. Dort sehe ich immer ganz schwer nur durch, wenn plötzlich Protagonisten bei einem Kosenamen genannt werden, der sich für russischsprachige Leser:innen ganz logisch herleitet, aber für mich ein vollkommen anderer Name ist... ;)
 

Irisblatt

Bekanntes Mitglied
15. April 2022
1.284
5.357
49
53
Warum haben sie das gemacht? Nicht dass ich die Deutschen mit ihrem Rassismus in Schutz nehmen will, aber warum haben die Afrikaner so willig mitgemacht?
Irgendwo stand, dass Druck ausgeübt wurde, damit die Familien Askari stellen. Vermutlich gab es zahlreiche Beweggründe. Gurnah macht ja auch sehr deutlich, dass die Menschen Angst und Ehrfurcht vor den Askari hatten. Auf einmal so mächtig sein zu können, war bestimmt auch für den einen oder anderen einen Beweggrund. Vielleicht aber auch einfach Armut oder wie im Fall von Ilyas Dankbarkeit oder sie waren eingeschüchtert vom selbstbewussten Auftreten, den Maschinen, der Technik, dem so ganz anderen Wissen der Europäer, oder, oder, oder ... Die ganze Situation ist sowieso blanker Irrsinn - da fallen Europäer auf anderen Kontinenten ein, fragen nicht demütig an, ob sie da auch leben dürfen oder schauen mal wie es so läuft, sondern morden, installieren Machtapparate, verdienen Kohle und lassen dann auch noch für sich kämpfen. Ein wirklich düsteres Kapitel der Geschichte.
 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
6.408
23.974
49
66
Jetzt hat mich Gurnah gepackt
Ging mir genauso.
Am Anfang des Buches tat ich mich schwer mit den vielen Namen, aber vielleicht hätte ich auch nicht kurz vor Mitternacht mit dem Buch anfangen sollen.
Aber mittlerweile lese ich mit wachsendem Interesse und manchmal mit angehaltenem Atem.
Ich bin froh, dass Gurnah relativ sachlich seine Geschichte erzählt. Das Geschehen selbst sorgt bei mir für Emotionen.
Am Beispiel von Hamza wird gezeigt, welche Gründe die Männer veranlasst haben, sich der Schutzgruppe anzuschließen. Aber er bereut seine Entscheidung bald. Welche Schikanen und Brutalitäten sie ausgesetzt sind, unglaublich. Und was macht das mit ihnen, ständig zu rauben und zu töten. Die Abgebrühten unter ihnen genießen ihre Macht, andere werden verdrängen. Später geht es eh nur darum zu überleben.
Hamza hat Glück, dass er dem Offizier gefällt. Das schützt ihn zwar nicht vor Beschimpfungen, aber davor, ausgepeitscht zu werden oder hart zu arbeiten. Dafür ist er den Launen des Offiziers ausgesetzt.
 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
6.408
23.974
49
66
oder sogar vermehrt, Passagen, die wie aus einem Geschichtslehrbuch klingen
Das empfinde ich garnicht so. Im Gegenteil! Gurnah beschreibt sehr anschaulich, wie die Kämpfe dort aussagen und was sie für Land und Leute bedeuten.
“ Die Askati hinterließen ein verwüstetes Land, auf dem Hunderttausende Menschen hungerten und starben, während sie selbst immer weiter in blindem und mörderischen Eifer für eine Sache kämpften, deren Hintergrund sie nicht kannten, die vergeblich war und letztlich auf ihre eigene Unterdrückung hinwirkte.“ Was für ein Irrsinn!
Nur, wenn Menschen ihr Menschsein abgesprochen wird, sie als unzivilisiert betrachtet werden, gibt es eine zweifelhafte Rechtfertigung für diesen menschenverachtenden Umgang
Das sieht man immer wieder in der Geschichte. War mit der Judenvernichtung das Gleiche. Wenn man Menschen als Untermenschen, Ratten und Ungeziefer bezeichnet, ist der Schritt, sie zu vernichten, nicht mehr so groß.
ein Zugeständnis an die einheimische Bevölkerung.
Nicht nur. Die Frauen hatten auch eine wichtige Funktion für die Armee.
Sie ist für mich eine sehr interessante Protagonistin, bei der ich überhaupt nicht einschätzen kann
Auf deren Weiterentwicklung bin ich auch gespannt.