2. Leseabschnitt: Teil 1, Kapitel 3 (ab Seite 83 bis S. 182)

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29. März 2022
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Martin Pearce, der Orientalist, hat eine komplett andere Sichtweise der afrikanischen Angelegenheiten, als Burton und Frederick - verständlich. Martin konnte sich ganz unabhängig Land und Leuten widmen, ja, war sogar gezwungen sich durch Sprache und Handlungen (Schuhe ausziehen) anzupassen, sonst hätte er es allein nicht so weit gebracht.

Burton und Frederick unterstehen dem Empire und seinen Grundsätzen, nämlich Land und Leute gewinnbringend auszubeuten. Da wird dann nur über die richtige Methode gestritten, aber das Gebahren in ihren Grundsätzen nicht in Frage gestellt. Burton und Frederick leben in ihrer eigenen Bubble, Pearce ist von anderem Schlag, das wird im Pearce-Kapitel sehr schön herausgearbeitet.
Hier prallen wirklich zwei Welten aufeinander, so dass Gurnah hier eine sehr kontroverse Perspektive auf den Kolonialismus einbringt. Das finde ich sehr gut gelungen: Auf der einen Seite der gegenüber Kolonialismus kritisch eingestellte Orientalist Pearce, auf der anderen Burton und Frederick, die das koloniale System stützen und an Ausbeutungen beteiligt sind. Es ist eine Stärke Gurnahs die kolonialen Verhältnisse mitsamt der innewohnenden Ambivalenzen anschaulich vor Augen zu führen.
 

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29. März 2022
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Mainz
Ein bisschen neidisch vielleicht
Vielleicht ist das die zutreffendere Formulierung :)
Das macht Gurnah wirklich grandios. Durch die privaten Geschichten erfährt der Leser, wie das Leben dort ablief. Sehr anschaulich und lebendig! Gefällt mir sehr.
Dem kann ich nur zustimmen. Durch Einblicke in individuelle Lebendgeschichten treibt er die Geschichte und das, was er eigentlich sagen will, kontinuierlich voran. Und man befindet sich als Leser oft mittendrin.
Ich fand es sehr ehrlich von Gurnah, das so zu schreiben, denn so wie die Weißen ihre Vorurteile gegenüber den Afrikanern haben, so haben diese auch welche, z.B. über die Inder und Mischehen.
Genau, das ist wichtig. Gurnah verfällt nicht ins gegenteilige Extrem, wenn er koloniale Machenschaften kritisiert. Ist auch eine Kunst.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich glaube, dass er es war, der Aziz mitgebracht hat und sie zur Heirat gedrängt hat.
Gedrängt ist meiner Ansicht nach zu streng formuliert. Hassanili hat seiner Schwester gut zugeredet, weil er selbst so begeistert von dem neuen Bruder war. Er hat ihm vertraut und Bedenken in den Wind geschlagen, auch vor dem Hintergrund, dass Rehanas Perspektiven nicht mehr die besten sind.
Das war der vorher erwähnte Aziz. Ob er wohl doch verheiratet war? Ob er im Buch noch einmal auftaucht?
Gute Fragen, die ich mir auch gestellt habe. Es riecht nach einer Art Doppelleben...
Aber ich finde es äußerst traurig, dass auch er sie irgendwann verlässt, 'um nach England zurückzukehren'
Ja. Eine Erklärung dürfen wir wohl nicht mehr erwarten? Alles nutzt sich ab, auch die erste Euphorie, aber man hätte von Martin mehr erwartet, weil er so integer schien.
musste dann allerdings die Schule verlassen, weil sie ihre Monatsblutung bekam und nun in Gefahr war.
Da kräuseln sich einem die Nackenhaare: die Mädchen dürfen nicht mehr lernen, weil die Jungs ihre Triebe/Blicke/Gelüste nicht im Griff haben. Welche eine Logik!
Und man befindet sich als Leser oft mittendrin.
Das empfinde ich auch sehr angenehm! So lernt man nebenbei viel über Gewohnheiten und Eigenarten der verschiedenen Akteure.
Gurnah verfällt nicht ins gegenteilige Extrem, wenn er koloniale Machenschaften kritisiert.
Er zeigt sämtliche (oder viele) bestehenden Vorbehalte der verschiedenen Ethnien auf. Wobei das koloniale Gedankengut zum Himmel stinkt. Es sind bestimmt genau solche Eroberertypen wie Frederick gen Afrika gezogen.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Ich komme noch mal auf dieses merkwürdige Kapitel 'Gedankliches Zwischenspiel' zurück. Es ist natürlich eine Entscheidung des Autors, es so zu schreiben, wie er das will, aber ich tue mich doch ein wenig schwer damit. Sicher ist also nur, dass Pearce und Rehana eine Liebesbeziehung beginnen und nach Mombasa ziehen, bis Pearce irgendwann (?) wieder nach England zurückkehrt. Alles andere sind Vermutungen oder 'Geschichten', wie der Ich-Erzähler selbst sagt. Und das ist anscheinend Rashid, (S. 180 'mein Bruder Amin'). Er will die Familiengeschichte aufschreiben, weiß aber nicht alles und vermutet, wie es gewesen sein könnte.
Das gedankliche Zwischenspiel war für mich ein absolutes Highlight. Es stellt für mich Gurnahs Kunst eindrucksvoll unter Beweis. Statt weiter dem in der Tat bisher gelungenen Geschichtenfluss und den Dialogen der Europäer zu folgen, thematisiert er hier subtil auch den Gedanken der Fiktion. Er imaginiert Möglichkeiten des Kennenlernens und Zueinanderfindens der beiden, weil ihre Liebe/Affäre so unmöglich und ausgeschlossen ist, dass sie sich einem "normalen" Erzählen entzieht. Er weicht so wirklich auf sehr anspruchsvolle und überzeugende Weise dem möglichen Vorwurf der Leser aus, sein Handlungsstrang sei unglaubwürdig, beruhe auf Zufällen oder ähnlichem...Bei mir rennt er mit dieser Erzählweise offene Türen ein, aber ich mag solche "Spielereien" und solche präsenten, besonderen Erzähler auch sehr gern. Gleichzeitig kann ich aber auch sehr gut nachvollziehen, dass dieses "Zwischenspiel" nicht sonderlich befriedigend ist. Wir wollen ja eigentlich (auch in unserer natürlichen Neugier) erfahren, was denn nun wirklich passiert ist - spannend, dass er es offen lässt. Ich bin auch sehr daran interessiert, dass wir noch Genaueres über die Trennung von Martin und Rehana erfahren, aber vielleicht ist es so, wie es immer ist, irgendwann war es vorbei...
die Menschen reisen ununterbrochen durch die ganze Welt und trotzdem meinen wir, die richtige Lebensweise gepachtet zu haben.
Ja, das ist wirklich ernüchternd. Deutschland ist ja auch ein absoluter "Vorreiter" darin, anderen Nationen zu sagen, wie man es besser/richtig machen sollte - zum Fremdschämen finde ich das. Und gleichzeitig keine Ahnung, wie es wirklich ist. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele "Experten" hierzulande erklären können, wie es in Land xy so ist. Unfassbar und leider sehr lächerlich, was für Vorurteile, Unwissen und auch Respektlosigkeiten man da immer wieder präsentiert bekommt.

Für mich ist dieser Roman jetzt schon wieder ein Highlight. Ich bin von Gurnah, seinen Gedanken, Erzählstrukturen, Experimenten und Darstellungen sehr eingenommen. Ich mag ja diese Eleganz, Leichtigkeit und vor allem das Informative, das ich hier bisher sehr viel feiner eingebunden finde als bei "Nachleben". Ganz wunderbar finde ich auch die zarten Verweise auf die koloniale Literatur, wie man sie z. B. in den Kurzgeschichten von Rudyard Kipling findet. Bei Martin und Rehana und auch der Geschichte der Inderin, die mit dem Sahin dann auf die Teeplantage zieht, habe ich ganz viel von der Geschichte "Beyond the Pale". @Literaturhexle Vielleicht wären Kiplings "Geschichten aus den indischen Bergen" auch mal etwas für die Weltliteratur-Leserunde?
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Das gedankliche Zwischenspiel war für mich ein absolutes Highlight. Es stellt für mich Gurnahs Kunst eindrucksvoll unter Beweis. Statt weiter dem in der Tat bisher gelungenen Geschichtenfluss und den Dialogen der Europäer zu folgen, thematisiert er hier subtil auch den Gedanken der Fiktion.
Ich verstehe, wie du das meinst und finde es gut, dass es dir nicht nur gefällt, sondern dass du auch einen Blickwinkel hinzufügst, wie man es auch sehen kann (auch wenn ich rein gefühlsmäßig nicht folgen kann).
 

dracoma

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16. September 2022
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Das finde ich sehr gut gelungen: Auf der einen Seite der gegenüber Kolonialismus kritisch eingestellte Orientalist Pearce, auf der anderen Burton und Frederick, die das koloniale System stützen und an Ausbeutungen beteiligt sind.
... wobei Burton und Frederick wiederum unterschiedliche Auffassungen von ihrer Rolle als Kolonial"herren" haben. Frederick spricht von einer gewissen Fürsorgepflicht, was Burton aber ablehnt.
Burton ist ein interessanter Charakter, finde ich. Kann es sein, dass er anders redet als er handelt? Er verachtet die Afrikaner, aber er ist sich nicht zu schade, mit seinen Leuten gemeinsam zu arbeiten und auch zu feiern.
Mir hat dieses Gespräch nicht so gut gefallen; für mich war die Absicht, mich über die verschiedenen Schattierungen des Kolonialismus zu informieren, zu deutlich. Mir war das Gespräch deswegen zu akademisch.

Gurnah strukturiert seine Erzählung sehr schön, finde ich. Er fokussiert jedes Kapitel auf eine der handelnden Personen, und diese Art, seinen Leser mit den Personen vertraut zu machen, finde ich sehr geschickt. Das gibt ihm auch die Möglichkeit, die Familiengeschichte quasi "geordnet" zu vertiefen.

Was mir gut gefällt: die Beschreibung der Straßenszenen. Da bin ich mitten drin und gehe mit, höre die Kinder schreien, sehe den Schmutz und die alten Männer auf den Bänken sitzen. Sehr anschaulich!
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Pearce legt ein ungezwungenes Verhalten mit den Männern auf der Bank an den Tag, er will diese Menschen nicht umerziehen, ihnen die westlichen Dinge aufzwängen. Schade, dass er damit eher alleine war. Vielleicht übte auch diese Art zusätzlich eine gewisse Anziehung auf Rehana aus. Verwundert hat es mich allerdings schon, dass sie aus ihren Konventionen ausgebrochen ist, um wieder enttäuscht zu werden.
Interessant ist auch, dass der Autor ein halbes Buch braucht um zur eigentlichen Geschichte zu kommen.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Genau das dachte ich auch beim Lesen. Eine andere Art zu leben als die eigene (westliche) wird gar nicht akzeptiert oder als Alternative angesehen. Das ist immer noch so.
Stimmt, und immer noch versuchen die westlichen Länder die anderen umzukrempeln. Auch wenn wir vieles unvorstellbar finden, sollten man ihnen ihre Kultur und Bräuche lassen. Viele sehen dies dann sogar noch als Hilfe an….
Waren es kulturelle oder religiöse Differenzen oder war es für Pearce nur eine Affäre?
Ich hoffe sehr, dass das noch geklärt wird, denn eigentlich hatte ich ein sehr positives Bikd von Pearce. Ich hätte ihm nicht zugetraut es als Affäre abzutun
Gedrängt ist meiner Ansicht nach zu streng formuliert. Hassanili hat seiner Schwester gut zugeredet, weil er selbst so begeistert von dem neuen Bruder war. Er hat ihm vertraut und Bedenken in den Wind geschlagen, auch vor dem Hintergrund, dass Rehanas Perspektiven nicht mehr die besten sind.
Das sich alles so entwickelt konnte er ja auch nicht ahnen, ansonsten wäre er sicher nicht geneigt gewesen diese Verbindung zu unterstützen
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Interessant ist auch, dass der Autor ein halbes Buch braucht um zur eigentlichen Geschichte zu komkommen
Wobei die Frage ist, was die " eigentliche" Geschichte ist. Laut Gurnah hängt alles mit allem zusammen, die Gegenwart hat ihre Wurzeln in der Vergangenheit. Der Klappentext will eine Liebesgeschichte verkaufen, dem Autor aber geht es um weit mehr!

Auch wenn wir vieles unvorstellbar finden, sollten man ihnen ihre Kultur und Bräuche lassen.
Das entspricht auch meiner Meinung. Jedes Land hat seine eigene Entwicklung und sein eigenes Tempo. Gegen Übergestülptes erregt sich leicht Widerstand, der auch ins unerwünschte Gegenteil ausschlagen kann. Toleranz heißt das Zauberwort und Unterstützung, sofern gewünscht.
 

dracoma

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16. September 2022
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Das gedankliche Zwischenspiel war für mich ein absolutes Highlight.
Für mich auch! Genial!
Und das Spiel mit der Fiktion bricht er selber wieder für kurze Zeit, wenn er das erste Zusammentreffen von Pearce und Rehana ohne die Hülle der Familie, der Nachbarn etc. erzählt: da wird er wieder genau, ähnlich wie in den ersten Kapiteln.
Wie der Ich-Erzähler sich von seiner Geschichte distanziert und sich an den Leser wendet - Gurnah ist wirklich ein souveräner Erzähler.