Ich komme noch mal auf dieses merkwürdige Kapitel 'Gedankliches Zwischenspiel' zurück. Es ist natürlich eine Entscheidung des Autors, es so zu schreiben, wie er das will, aber ich tue mich doch ein wenig schwer damit. Sicher ist also nur, dass Pearce und Rehana eine Liebesbeziehung beginnen und nach Mombasa ziehen, bis Pearce irgendwann (?) wieder nach England zurückkehrt. Alles andere sind Vermutungen oder 'Geschichten', wie der Ich-Erzähler selbst sagt. Und das ist anscheinend Rashid, (S. 180 'mein Bruder Amin'). Er will die Familiengeschichte aufschreiben, weiß aber nicht alles und vermutet, wie es gewesen sein könnte.
Das gedankliche Zwischenspiel war für mich ein absolutes Highlight. Es stellt für mich Gurnahs Kunst eindrucksvoll unter Beweis. Statt weiter dem in der Tat bisher gelungenen Geschichtenfluss und den Dialogen der Europäer zu folgen, thematisiert er hier subtil auch den Gedanken der Fiktion. Er imaginiert Möglichkeiten des Kennenlernens und Zueinanderfindens der beiden, weil ihre Liebe/Affäre so unmöglich und ausgeschlossen ist, dass sie sich einem "normalen" Erzählen entzieht. Er weicht so wirklich auf sehr anspruchsvolle und überzeugende Weise dem möglichen Vorwurf der Leser aus, sein Handlungsstrang sei unglaubwürdig, beruhe auf Zufällen oder ähnlichem...Bei mir rennt er mit dieser Erzählweise offene Türen ein, aber ich mag solche "Spielereien" und solche präsenten, besonderen Erzähler auch sehr gern. Gleichzeitig kann ich aber auch sehr gut nachvollziehen, dass dieses "Zwischenspiel" nicht sonderlich befriedigend ist. Wir wollen ja eigentlich (auch in unserer natürlichen Neugier) erfahren, was denn nun wirklich passiert ist - spannend, dass er es offen lässt. Ich bin auch sehr daran interessiert, dass wir noch Genaueres über die Trennung von Martin und Rehana erfahren, aber vielleicht ist es so, wie es immer ist, irgendwann war es vorbei...
die Menschen reisen ununterbrochen durch die ganze Welt und trotzdem meinen wir, die richtige Lebensweise gepachtet zu haben.
Ja, das ist wirklich ernüchternd. Deutschland ist ja auch ein absoluter "Vorreiter" darin, anderen Nationen zu sagen, wie man es besser/richtig machen sollte - zum Fremdschämen finde ich das. Und gleichzeitig keine Ahnung, wie es wirklich ist. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele "Experten" hierzulande erklären können, wie es in Land xy so ist. Unfassbar und leider sehr lächerlich, was für Vorurteile, Unwissen und auch Respektlosigkeiten man da immer wieder präsentiert bekommt.
Für mich ist dieser Roman jetzt schon wieder ein Highlight. Ich bin von Gurnah, seinen Gedanken, Erzählstrukturen, Experimenten und Darstellungen sehr eingenommen. Ich mag ja diese Eleganz, Leichtigkeit und vor allem das Informative, das ich hier bisher sehr viel feiner eingebunden finde als bei "Nachleben". Ganz wunderbar finde ich auch die zarten Verweise auf die koloniale Literatur, wie man sie z. B. in den Kurzgeschichten von Rudyard Kipling findet. Bei Martin und Rehana und auch der Geschichte der Inderin, die mit dem Sahin dann auf die Teeplantage zieht, habe ich ganz viel von der Geschichte "Beyond the Pale".
@Literaturhexle Vielleicht wären Kiplings "Geschichten aus den indischen Bergen" auch mal etwas für die Weltliteratur-Leserunde?