2. Leseabschnitt: Tasso im Irrenhaus (S. 75 bis 118)

RuLeka

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Der Ich- Erzähler, ein Schriftsteller, der aktuell als Stipendiat in der Villa Massimo wohnt, soll in 4 Wochen einen Vortrag über das Gemälde „ Tasso im Irrenhaus“ von Eugene Delacroix halten. Spontan beschließt er seine Lesereise mit einem Besuch in Winterthur zu verbinden, um sich das Original anzuschauen.
Beim Besuch der Galerie „ Am Römerholz“ zweifelt er anfänglich, ob er sich nicht das falsche Bild ausgesucht hat. Dann aber beginnt er mit einer detaillierten Beschreibung des Bildes „ Tasso im Irrenhaus“, macht sich Notizen . Dabei spricht ihn ein Mann um die sechzig an. Der verwickelt den Erzähler , eigentlich gegen dessen Willen, in ein längeres Gespräch über das Gemälde, weist ihn auf Details hin, stellt Fragen und brilliert mit seinem Wissen. Danach hält der Fremde noch eine Wutrede auf die Schweiz, die mit ihren Waffenlieferungen in die ganze Welt sehr gut verdient und dabei die eigene Neutralität betont und mit ihrem Bankgesetz von weltweiten Verbrechen profitiert.
Der Ich- Erzähler befürchtet am Ende , dass dieser „ Doktor Allwissend“ seinen Vortrag besuchen könnte.
Auf dem Schiff über den Bodensee fühlt sich der Erzähler, wie Tasso auf dem Bild, von sonderbaren Mitreisenden beobachtet. Einer stört sich sogar an seinem ständigen Notieren.
Am Ende geht er mit den aufmunternden Worten eines Bediensteten der Schifffahrtsgesellschaft von Bord . „ Wir haben‘s geschafft!….odder.“
Auch in dieser Geschichte verbindet Ingo Schulz das Thema des Künstlers in der Gesellschaft mit einem konkreten Kunstwerk. Ingo Schultze schreibt aber nicht einfach einen Aufsatz über das Gemälde ( also das, was eigentlich von dem Ich- Erzähler verlangt wird ), sondern er baut die Interpretation in eine Geschichte ein. Kein Essay oder Vortrag, sondern eine Erzählung .
Diese Konstruktion hier finde ich gelungen. Der Leser erfährt zum einen viel über das Bild, über den Portraitierten und über den Maler. Raffiniert sind auch die verschiedenen Ebenen. Ein Schriftsteller schreibt über einen Maler, der einen Dichter gemalt hat.
Da mich hier das Gemälde angesprochen hat ( im Gegensatz zur Installation der ersten Erzählung ) , bin ich den Ausführungen dazu gerne gefolgt. Parallel habe ich mir natürlich das Bild „ Tasso im Irrenhaus“ angeschaut.
„Der eingesperrte Tasso“ … als „ Sinnbild der Künstlerexistenz, ..der Gesellschaft überhaupt.“
 

Xirxe

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19. Februar 2017
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Ich sehe schon, ich schaue offenbar lieber Kunst, als dass ich darüber lese ;) Interessanterweise gefiel mir dieser Text hier weniger als der erste, wobei ich das zugrunde liegende Kunstwerk wie @RuLeka auch deutlich ansprechender finde.
Was Schulzes Schreibstil angeht: auch hier wieder einfach klasse. Aber den Inhalt fand ich einfach zu nichtssagend. Zum Einen entsprach Schulzes Bildbeschreibung überhaupt nicht meinem Eindruck (Tasso knochig? Der Blick der Frau am Fenster, sein 'schwebendes' Bein ...), den ich von dem Bild hatte. Wobei es natürlich völlig anders sein kann, wenn man direkt vor dem Gemälde steht.
Zum Andern:
„Der eingesperrte Tasso“ … als „ Sinnbild der Künstlerexistenz, ..der Gesellschaft überhaupt.“
Dieser ganze Text für diese mehr oder weniger schlichte Aussage ist einfach zu lang. Und wie diese ganze Schimpftirade auf die Schweiz (der ich durchaus zustimme ;)) damit zusammenhängt, habe ich nicht so ganz verstanden. Vielleicht muss ich es nochmal lesen, damit es sich mir erschließt - jetzt aber war es für mich ein recht willkürliches Thema. Da war die erste Erzählung doch wesentlich vielschichtiger.
Aber wie schon geschrieben: Vielleicht ist ein zweites Mal lesen angesagt - manchmal brauch ich auch länger ;)
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Wobei es natürlich völlig anders sein kann, wenn man direkt vor dem Gemälde steht.
Es schränkt die Wahrnehmung schon sehr ein, wenn man nur eine kleine Kopie auf dem Computer hat. Dafür kann man herzlosen und im Museum muss ich Abstand halten.
Dieser ganze Text für diese mehr oder weniger schlichte Aussage ist einfach zu lang. Und wie diese ganze Schimpftirade auf die Schweiz (der ich durchaus zustimme ;)) damit zusammenhängt, habe ich nicht so ganz verstanden
Ich habe die Aussage natürlich verkürzt, es geht schon noch um mehr. Allerdings stimme ich Dir zu, dass Ingo Schulze hier verschiedene Dinge, die nicht zusammenhängen, in Verbindung zu bringen versucht. Z.B. auch die drei Episoden mit den Bettlern, bei denen er jedes Mal seinen Ablass entrichtet.
Er hätte einfach die Kunstwerke in einem Essay interpretieren können. Das macht er nicht, sondern beschreibt eher den Schaffensbericht eines Schriftstellers, der den Auftrag hat, über ein Kunstwerk zu schreiben.
So ganz begeistern mich die Geschichten nicht, aber vielleicht vermitteln mir eure Leseeindrücke noch ein paar Erleuchtungen.
 

Wandablue

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Brandenburg
Diese Erzählung gefällt mir wesentlich besser.

Zwar … mokiere ich mich über die scheinbar tiefgründigen, aber völlig unwichtigen Unterhaltungen des Bildungsbürgers, aber ich erfahre auch etwas über
  • Torquino Tasso, italienischer Dichter
  • Giacomo Leopardi, italienischer Literat und
  • Eugène Delacroix – der mir nun glücklicherweise (wenigstens!) kein Unbekannter ist. Einige Gemälde von ihm habe ich im Louvre besichtigen dürfen. Freilich ohne bildungsbedeutungsschwanger stundenlang vor ihnen zu verweilen.

Die Erzählung beginnt (mais o menos) mit einer Bildbeschreibung. (Was sind wir glücklich über das Internet). Diese Bildbeschreibung ist schrecklich langweilig, aber nicht ganz so schlimm langweilig wie die Beschreibung vom Deutschlandgerät. Danach erfährt man durch die Unterhaltung mit einem anderen Museumsbesucher etwas über die Hintergründe des Bildes. // Über das Bildungsbürgertum und seine Auswüchse könnte man sich stundenlang unterhalten.

In der Unterhaltung der beiden Museumsbesucher wird es nun bunter. Man unterhält sich über die Welt. Osten. Westen. Die Schweiz sei das westlichste Land, Staat, weil es die heile Welt verkörpere. Von wegen heile Welt, meint der Gesprächspartner. Die Welt ist korrupt. Aber das wissen wir schon, Herr Schulze! Und das Bankgeheimnis ist zumindest teilweise abgeschafft. Monaco ist jetzt das El Dorado- oder? Ich kenne mich da nicht so aus.

Warum müssen wir erfahren, dass der Erzählungsschulze sich im Hotel einen Porno reinzieht?

Auf der Rückreise ist der Erzähler noch immer im Bildbeschreibungsmodus.


Resümee: Die Erzählung ist facettenreicher als die erste. Und kommt so viel besser bei mir an.
 
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Literaturhexle

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Ihr seht mich ein bisschen ratlos. Vielen Dank @RuLeka für die Zusammenfassung. Sie wird mir bei der Rezension eine wertvolle Stütze sein. Der Text hat mich über weite Strecken gelangweilt, ich habe die Inhalte als belanglos empfunden. Ein Schriftsteller nimmt sich vor, seine Reise zu dokumentieren. Ein devoter Schriftsteller, einer, der es allen Recht machen will, den Konflikt scheut. Komischer Vogel!

Diese ganze Auseinandersetzung um das Bild als solches fand ich noch ganz interessant, hatte aber keine Lust, in die Tiefe zu recherchieren. Den Tasso habe ich mir natürlich aufgerufen.

Manche Gedankengänge sind spannend: dass die Schweiz gar nicht so neutral ist, wie sie scheint, dass sie Krieg mit Geld führt, dass Dürrenmatt das schon vor Jahrzehnten kritisiert hat. Diese kleinen Nebenepisoden haben meine Aufmerksamkeit kurzzeitig fesseln können.

Der Zusammenhang zwischen Tassos Begafftwerden und der Schaulust in der Gegenwart wurde überdeutlich - auch angesichts der Leiche am Bahnhof. Die zahlreichen Schnorrer sind gleichfalls bedeutsam. Wer würde tatsächlich 21 Franken wegschenken? Der Erzähler tut alles für seine Ruhe, tut das, was andere von ihm wollen.

Welche Relevanz hat die Episode mit der mitfahrenden Familie? Der Sohn will ebenso aus dem Fenster schauen wir die Lippenstiftfrau wie der Sandfarbene. Erzählerschulze räumt immer seinen Platz... Im letzten Fall entschuldigt er sich noch bei dem Blödmann!

Bei dieser Erzählung fühle ich mich mächtig wie in der Schule: was will der Dichter damit sagen?

Ich stimme aber zu: schreiben kann der Autor. Auch über völlig belangloses Zeug.
 

Literaturhexle

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Aber den Inhalt fand ich einfach zu nichtssagend.
Genau.
Dieser ganze Text für diese mehr oder weniger schlichte Aussage ist einfach zu lang.
Ganz deiner Meinung.
Vielleicht ist ein zweites Mal lesen angesagt -
Mach mal ruhig. Ich brauche das nicht. Ich lese immer langsam und habe alles aufgenommen. Es liegt nicht an mir. Definitiv nicht:(
Man sollte sich nie nur auf den Schriftsteller verlassen, sondern sich auch das Thema anschauen. Hoffentlich vergesse ich das nicht wieder...:rolleyes:
 

Wandablue

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Seltsam. Bin ich die einzige, die die zweite Geschichte besser findet und sie mehr mag?
Es ist mit den Details einer Story wohl auch oft so wie mit den Details auf den Gemälden. Nicht alles Dargestellte erfordert einen tieferen Sinn. Kann, muss aber nicht.
 

RuLeka

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Seltsam. Bin ich die einzige, die die zweite Geschichte besser findet und sie mehr mag?
Es ist mit den Details einer Story wohl auch oft so wie mit den Details auf den Gemälden. Nicht alles Dargestellte erfordert einen tieferen Sinn. Kann, muss aber nicht.
Nein, Du bist nicht allein. Diese Geschichte gefiel mir besser als die erste, auch wenn mir der tiefere Sinn nicht bei allem aufgeht. Aber das muss es auch nicht.
 

Xirxe

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Diese Geschichte gefiel mir besser als die erste, auch wenn mir der tiefere Sinn nicht bei allem aufgeht. Aber das muss es auch nicht.
Ach, einen tieferen Sinn brauche ich auch nicht unbedingt. Bücher von Yoko Ogawa beispielweise
finde ich stellenweise auch, nun ja, etwas sinnbefreit ;) Aber sie sind wunderschön - und das kann ich von den Erzählungen hier bisher nicht schreiben.
 

kingofmusic

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Lesen bildet - hier zeigt es sich wieder. Ich kannte weder Delacroix noch Tasso noch Leopardi. Insgesamt las sich diese Geschichte wesentlich einfacher als die vorangegangene. Das die Schweiz nicht so neutral ist wie sie immer tut und dargestellt wird, war mir (fast) nichts Neues - das hat man in der Vergangenheit schon immer mal wieder in irgendwelchen (literarischen) Texten herausgelesen. Mir ging es aber wie euch: einige Episoden waren und sind ein (großes) Fragezeichen. Auf zum letzten Teil.
 

Wandablue

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Lesen bildet - hier zeigt es sich wieder. Ich kannte weder Delacroix noch Tasso noch Leopardi. Insgesamt las sich diese Geschichte wesentlich einfacher als die vorangegangene. Das die Schweiz nicht so neutral ist wie sie immer tut und dargestellt wird, war mir (fast) nichts Neues - das hat man in der Vergangenheit schon immer mal wieder in irgendwelchen (literarischen) Texten herausgelesen. Mir ging es aber wie euch: einige Episoden waren und sind ein (großes) Fragezeichen. Auf zum letzten Teil.
Wer hat' s gesagt: Fernsehen macht die Klugen klüger und die Dummen dümmer. So ist es auch mit dem Lesen!
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Nach der Installation gehts hier nun weiter mit einem Gemälde... mag ich! Wie oberflächlich ich bisher Bilder betrachtet habe, hat mir nicht zuletzt Julian Barnes klargemacht, Ingo Schulze schafft es auch ganz vorzüglich, mir ein schlechtes Gewissen zu machen!
Weitaus interessanter fand ich allerdings die Bemerkungen über die Schweiz. Was ist da folgerichtiger, als das der Erzähler dem Bettler das angelblich fehlende Geld fürs Zugticket zu geben. Möchte er der Welt (den Schweizern) zeigen, wie man sie besser gestalten kann?
 
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Emswashed

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Allerdings stimme ich Dir zu, dass Ingo Schulze hier verschiedene Dinge, die nicht zusammenhängen, in Verbindung zu bringen versucht.

Das macht er aber mit einigem Geschick!
Diese Bildbeschreibung ist schrecklich langweilig, aber nicht ganz so schlimm langweilig wie die Beschreibung vom Deutschlandgerät.

Nicht langweilig, aber diesesmal hat mich meine Ungeduld doch gleich ins Internet getrieben.;)
Bin ich die einzige, die die zweite Geschichte besser findet und sie mehr mag?

Ich finde beide haben ihren ganz eigenen Charme.
Das die Schweiz nicht so neutral ist wie sie immer tut und dargestellt wird, war mir (fast) nichts Neues - das hat man in der Vergangenheit schon immer mal wieder in irgendwelchen (literarischen) Texten herausgelesen.

Naja, auf Empfehlung werde ich mir jetzt Dürrenmatt unter die Lupe legen.
 
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