2. Leseabschnitt: Seiten 45 bis 89

Mikka Liest

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Hilter am Teutoburger Wald
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Vermutlich muss man sich aber doch ein wenig mit der Deutsch-Deutschen Geschichte etwas befasst haben, denn sonst gehen manche Anspielungen vielleicht verloren?

Das kann natürlich gut sein! Ich kann mich an viel, was während der DDR-Zeit passiert ist, nur vage erinnern, weil ich da noch ein Kind war. Aber ich fühle mich hier an viel erinnert, was meine Stiefmutter mir später erzählt hat, die eine Verwandte drüben hatte, oder eine Kommilitonin, deren Eltern mit ihr "rübergemacht haben", als sie neun Jahre alt war. Daher fühle ich mich hier nicht ganz verloren.

Tatsächlich mag ich den melancholischen Ton der Autorin, die Dinge, die zwischen den Zeilen transportiert werden, ich mag auch, dass sie niemals offen anklagt, ihre Verwunderung, Verbitterung, Traurigkeit anklingt, aber eben 'nicht pathetisch'. Ich mag, wie mich manche Passagen unerwartet berühren können, schlucken oder plötzlich auflachen lassen, denn ja, auch ein zynisch-trockener Humor scheint der Autorin nicht fremd zu sein.

Oh ja, da stimme ich dir absolut zu, der Schreibstil gefällt mir sehr gut!

Um die einzelnen Geschichten nicht als mehr oder weniger belanglose Episoden abzutun, müssten sie ein wenig mehr in das Leben der Helga Schubert eingebunden sein. Würde ich Bücher von ihr kennen oder hätte ich eine Auto/Biographie von ihr gelesen - m.a.W. wäre sie mir vorher bekannt gewesen - würden mich ihre Gedanken mehr interessieren, aber da das nicht der Fall ist, finde ich sie z.T. schön, schön geschrieben, aber auch banal. Beides.

Komischerweise geht es mir gar nicht so, obwohl ich absolut nix über Helga Schubert und ihr Leben weiß. Ich kann es gar nicht wirklich begründen, ich fühle mich einfach sehr wohl dabei, mich in ihren Gedanken treiben zu lassen.

Man kann nur als Kind die Wahrheit sagen?

Man kann nicht nur als Kind die Wahrheit sagen, aber ich denke, manchmal (nicht immer!) fällt es einem als Kind leichter, weil man gewisse Erwartungen und Tabus nicht sieht oder noch nicht vollends begreift.

Gewalttaten hat es immer und überall gegeben. Das wollen wir nicht, aber wir wissen auch nicht, wie das zu ändern wäre. Auf den Wald sind sie nicht zu fokusieren.

Hier kann ich nur assoziieren. Der Wald ist ja für uns Deutsche ein mystischer Ort, ein Sehnsuchtsort. Für Helga Schubert hat er was Bedrohliches. Sie versucht eine Waldgeschichte zu schreiben, aber eine mit Happy- End, wie G. ihr rät. Doch bei ihr schlägt es immer um in Horrorgeschichten.

Ich glaube, es hätte genauso gut jeder andere Ort sein können, nicht unbedingt der Wald. Der Strand, das Straßencafé, die Bibliothek, irgendein an sich als idyllisch oder sicher empfundener Ort, der dann durch gewisse Geschehnisse "vergiftet" wird. So wie die Autorin sich meines Erachtens in der Situation sieht, dass sie unwillentlich eine mentale Verbindung geknüpft hat zwischen ihrem Sehnsuchtsort und dieser Gewalt.

Bleibt der Ton. Der ist wie Musik. Gewaltig. Dumpf. Traurig. Tosend. Machmal nur so ein paar zittriges Saitenzupfen.
Musik. Immerhin.

Das hast du sehr schön gesagt, das trifft es gut.

Hinzu kommt, dass Frau Schuberts Umsetzung dieser Idee einen Blick auf ihre Persönlichkeit zulässt. Da schlummert ein ewiges Kind in ihr. Ich mag diesen Gedanken, wobei ich mich gleichzeitig frage, warum man als Leser immer so wild darauf ist, dass ein Autor etwas von seiner Persönlichkeit Preis gibt. Als ob wir alle Stalker wären. Eigentlich sollte die Persönlichkeit egal sein, Hauptsache die Geschichte, die er erzählt ist gut. Ich verstehe es nicht, kann mich aber selbst nicht davon freisprechen.

Stimmt. Eigentlich sollte es wirklich egal sein, aber mir geht es sogar so, dass es mir Bücher verleidet, wenn ich erfahre, dass sie zum Beispiel von einer Rassistin oder einem absoluten Sexisten geschrieben wurden. Mag ich nicht lesen.

Aber eines ist sicher: Ich habe schon seit langem keine Kurzgeschichten mehr gelesen, werde auch nach diesem Buch für lange Zeit keine mehr lesen. Das ist einfach nicht mein Format.

Also "Geschichten", ich möchte fast sagen, dass wir gar keine Geschichten vor uns haben. Das sind Gedanken ... die mal hierhin und mal dorthin spazieren, eher so eine Art Tagebucheintragungen. Aber Geschichten ... never.

Ich muss Wandablue zustimmen, für mich fühlt es sich auch eher wie Tagebucheinträge an und weniger wie Geschichten.

Ja, so geht es mir auch, aber irgendwie stört es mich gar nicht! Es ist komisch, dass ich mich mit Kurzgeschichten oft schwer tue, aber mir diesem Bewusstseinsstrom überhaupt nicht.

Aber genau bei der Geschichte merkt man auch, wie mutig die Autorin ist. Einem Unbekannten nur aufgrund einer Geschichte behilflich zu sein, auf 'illegalem' Weg an verbotene Bücher zu gelangen. Hätte sie nicht misstrauischer sein müssen, was diesen fremden Mann anbelangt? Die Stasi war sozusagen überall

Das stimmt, da ist sie ein echtes Wagnis eingegangen! Aber anscheinend hat sie ein gutes Gespür, eine gewisse Menschenkenntnis.
 

Mikka Liest

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Ich habe den Eindruck, es gibt keine plausible Einbettung. Es sind Gedankensplitter, die die Autorin in den letzten Jahrzehnten gehabt hat. Die gute Frau ist 80 Jahre alt. Da reflektiert man schon mal, was man erlebt hat, welche Vorkommnisse für einen selbst wichtig waren. Ich glaube, sie tut das bewusst ohne Chronologie. (...) Ein Vorwort wäre ein Rahmen, den die Autorin bewusst gemieden hat.

Ich habe auch das Gefühl, sie macht das durchaus bewusst so fließend.

Toll, wie sie ihre Kritik am DDR Regime in Sätze verpackt, die vor Ironie und Sarkasmus strotzen: „Und dass ich zur Belohnung für mein Wohlverhalten Lesereisen im Westen unternehmen durfte, ein ungeheures Privileg.“

Ja, sie betont immer wieder das "dürfen" von "Privilegien", die eigentlich selbstverständlich sein sollten.

Aber ich fand die Geschichte aufgrund ihrer Metaphorik genial.
Der Wald als Symbol für Einsamkeit und Bedrohlichkeit. Dunkelheit, Kälte, Gefahr. Etwas ganz Archaisches. Etwas, das Angst macht. Er kann für alles mögliche stehen.

Aber aus der Distanz sieht er ja ganz anders aus. Da ist er ungefährlich und sogar romantisch. Es gibt Licht, Wärme, Lichtung und Schutz.

Geht es hier vielleicht darum, wie man die Dinge betrachtet? Oder betrachten kann? Geht es hier ums Umdenken und darum, wie aus einer bedrohlichen Fantasie, wenn man sie von einem anderen Standpunkt aus betrachtet, eine wohlige oder zumindest ungefährliche Fantasie werden kann?

Das ist durchaus möglich! Aber wie ich eben schon geschrieben habe, ich bin mir nicht sicher, ob der Wald nicht einfach nur gewählt wurde, weil er für die Autorin ein Sehnsuchtsort war, ungeachtet der Wald-Metaphorik.
 
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Ich habe auch das Gefühl, sie macht das durchaus bewusst so fließend.



Ja, sie betont immer wieder das "dürfen" von "Privilegien", die eigentlich selbstverständlich sein sollten.



Das ist durchaus möglich! Aber wie ich eben schon geschrieben habe, ich bin mir nicht sicher, ob der Wald nicht einfach nur gewählt wurde, weil er für die Autorin ein Sehnsuchtsort war, ungeachtet der Wald-Metaphorik.
Es könnte ja auch einfach beides sein. Vielleicht müssen wir uns nicht für die eine oder andere Interpretation entscheiden. Das ist doch das Schöne. Man kann so vieles hinein lesen oder heraus hören.
 

Mikka Liest

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Es könnte ja auch einfach beides sein. Vielleicht müssen wir uns nicht für die eine oder andere Interpretation entscheiden. Das ist doch das Schöne. Man kann so vieles hinein lesen oder heraus hören.

Oh ja, absolut! Ich wollte damit nicht sagen, dass meine Interpretation die einzig Wahre ist!
 
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