2. Leseabschnitt: Seite 97 bis 203

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.438
49.868
49
sondern ich empfinde es mehr und mehr als verworren und chaotisch.
Leider trifft das genau meinen Leseeindruck. Es ist einfach zuviel. Vielleicht richtet sich Filipenko an eine Leserschaft, der die ganzen Namen, Orte, Ereignisse besser bekannt sind? Für uns ist die russische Geschichte doch erst seit 12 Monaten wieder ins Rampenlicht gerückt. Ich weiß nicht viele Details. Um hier alles nachvollziehen zu können, müsste ich Stunden bei Dr. Google investieren und dafür interessiert mich das Romangeschehen zu wenig.
Es geht geschichtlich drunter und drüber, womit dem Leser aber keinerlei Klarheit über oder Einsicht in die russische Geschichte erwächst:
Genau.
Ich habe eher den Eindruck, er lässt sich treiben und reagiert auf die Gegebenheiten, planlos.
So wirkt es. Er ist doch auch nur in die Türkei gekommen, weil er Vera zum Schiff begleitet hat (nehme ich an). Spontaner geht wohl kaum. Dass diese vielen Ortswechsel Verdächtigungen nach sich ziehen, kann ich mir vorstellen. Man könnte da schon Flucht- oder Spionagetätigkeiten unterstellen.
Nesterenko wird die Planung eines Attentats auf Stalin unterstellt. Dieser Abschnitt verdeutlicht die Konstruktion von Beweisführungen
Ja. Das Unrechtssystem wird immer wieder deutlich. Es geht im Grunde nicht um Beweisführung, sondern um Anklage. Gründe, die gegen eine Aburteilung sprechen, werden verschluckt.
merkwürdig, wie Filipenko hier alles kommentarlos vermischt: Romanhaftes und Dokumentarisches.
Das soll bestimmt Authentizität ausdrücken. Bei mir verfängt es nicht, auf mich wirkt das Ganze wie aneinandergefügte Fragmente. Wobei die Atmosphäre des Unrechtsstaates, des Untedrückersystems, der Diktatur gut rüberkommt. Das wird es sein, was ich als positiv werten kann: Die traurige Aktualität des Ganzen. Wenn man nach Russland schaut, werden GENAU SOLCHE Prozesse hier (also in Russland) und heute geführt und Menschen abgeurteilt. Die Fensterstürze, die Selbstmorde, die Vergiftungen.... Alles Früchte der Diktatur.
Wir sehen doch die verdrehte Wahrheit auch in den Aussagen Putins und Lawrows: über den Terror des Westens, über das Nazi-Regime in der Ukraine uvm. Wenn keine Kamera anwesend ist, wird das Unrecht nicht kleiner sein - eher das Gegenteil.

Das ist es, was ich diesem Roman zugute halte: Seine Kritik am Faschismus und seine brennende Aktualität.
 

Federfee

Bekanntes Mitglied
13. Januar 2023
2.129
8.836
49
Es ist einfach zuviel. Vielleicht richtet sich Filipenko an eine Leserschaft, der die ganzen Namen, Orte, Ereignisse besser bekannt sind?
Das bezweifle ich, denn in der Russländischen Föderation und in Belarus sind seine Bücher verboten und die wenigen, die hier gut Bescheid wissen, werden ihn nicht unbedingt lesen.
Für uns ist die russische Geschichte doch erst seit 12 Monaten wieder ins Rampenlicht gerückt. Ich weiß nicht viele Details. Um hier alles nachvollziehen zu können, müsste ich Stunden bei Dr. Google investieren und dafür interessiert mich das Romangeschehen zu wenig.
Ich weiß inzwischen einiges, aber lange nicht genug, Details auch nicht. Deshalb denke ich auch, dass das Buch am Leser vorbeigeht. Ein Autor kann nicht erwarten, dass ein Leser alles aus der Stalinzeit weiß, was er möglicherweise andeutet.
Dass diese vielen Ortswechsel Verdächtigungen nach sich ziehen, kann ich mir vorstellen. Man könnte da schon Flucht- oder Spionagetätigkeiten unterstellen.
Ich glaube, das war nur ein Vorwand. So habe ich z.B. gelesen, dass russische Kriegsgefangene der Deutschen von Stalins Schergen (auf seine Anordnung hin natürlich) gleich als Spione verhaftet wurden, seine eigenen Landsleute, die in den meisten Fällen gar nichts getan hatten. Sie haben einfach allen Spionage unterstellt ohne triftigen Grund. Möglicherweise war es hier so, dass Nesterenko zu viel wusste.
Bei mir verfängt es nicht, auf mich wirkt das Ganze wie aneinandergefügte Fragmente.
Bei mir auch nicht und genau DAS ist auch mein Eindruck.
Wir sehen doch die verdrehte Wahrheit auch in den Aussagen Putins und Lawrows: über den Terror des Westens, über das Nazi-Regime in der Ukraine uvm.
Das ist es, was ich diesem Roman zugute halte: Seine Kritik am Faschismus und seine brennende Aktualität.
Das ist schon mehr als verdrehte Wahrheit, sondern es sind dicke, dreiste Lügen: Hast du die kleine Szene gesehen, als Lawrow ausgelacht wurde? Wenigstens das.

Und ja: Filipenkos ist auf jeden Fall gut.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.438
49.868
49
Sie haben einfach allen Spionage unterstellt ohne triftigen Grund. Möglicherweise war es hier so, dass Nesterenko zu viel wusste.
Aber die Spionageunterstellung ist ja eine Folge seiner ständigen Aufenthaltswechsel. Er erklärt sie ja alle ziemlich schlüssig, aber der Bürger Ermittler hat eine andere vorgefertigte Auffassung... Du hast wohl Recht: Wenn er nicht so mobil gewesen wäre, hätten sie die Anklageschrift umformuliert. Er war unbequem, weil er zuviel wusste, weil er verdächtig oder zu klug war. Gründe gibt es tausendfach.
Die Russen wollten ihre Kriegsgefangenen ja gar nicht zurückhaben. Sie waren in ihren Augen Verräter, weil sie sich vor Gefangennahme hätten selbst erschießen müssen!!!. Wie menschenverachtend ein Staat sein kann!!!
 

Eulenhaus

Aktives Mitglied
13. Juni 2022
329
1.547
44
Nesterenko hätte in Paris ein einfaches freies Leben führen können, aber er lässt sich als Spitzel anwerben und meldet Interna der Emigrantenszene nach Moskau. Ist es die Geliebte oder die Heimatliebe, die ihn diesen gravierenden Fehler begehen lässt?
Perepeliza erklärt nach dem 6. Verhör das Verfahren für beendet. Aus den Bausteinen „Krieg - Denikin - Emigration - Rückkehr - Stalin“ S. 201 formuliert er Nesterenkos Schuld. Mit dem Stalin-Attentat setzt er der Willkür die Spitze auf.
 

Renie

Moderator
Teammitglied
19. Mai 2014
5.890
12.569
49
Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Bevor ich mich über Eure Beiträge hermache:
Schade, aber der Roman baut ab, genauso wie N. abbaut. Im ersten Leseabschnitt habe ich noch mit Interesse gelesen, der zeitliche Kontext, N. Gedanken zum Krieg, Ehre, Flucht, der Einfluss seines Vaters haben mir gefallen. Doch mit diesem LA verliert Filipenko den Fokus. Genau wie sein Prota, begibt er sich auf eine Irrfahrt und schlingert dabei durch N.s Beweggründe für dessen Handlungen, dem historischen Hintergrund und dieser Liebesgeschichte Vera/N. . Das ist nichts Halbes und nichts Ganzes.
Gut gemacht ist die Entwicklung von N. und P. innerhalb des Verhörs.
N. verliert an Präsenz, wird vom Tausendsassa zum unbedeutenden Individuum; P. gewinnt die Oberhand, hatte eigentlich von Anfang an die Kontrolle, nur jetzt wird es offensichtlich - auch für N.
Ich bin immer noch gespannt, wie es weitergeht und hoffe, dass der letzte Abschnitt mich wieder zurückholen kann.
 

Emswashed

Bekanntes Mitglied
9. Mai 2020
2.733
9.770
49
Die Fußnote am Ende ("Ein junger Vater! Herzlichen Glückwunsch!") kommt doch von N., oder?

Ich denke, dass sich der Autor eingemischt hat. Ganz vertieft in seine Arbeit des Schreibens, hat er seinen Gedanken zu Papier gebracht.
Auf mich wirkten die Fotos völlig deplatziert.

Ich hatte die Fotos voher (beim Durchblättern) nicht bemerkt und wurde überrascht. Ich habe mir das erste Bild lange angeschaut und beim zweiten zurückgeblättert, um zu vergleichen. Das "Gesichterlesen" hat mir noch einmal eine Tiefe vermittelt, eine Realität, die ich so nicht erwartet hätte.
Ich denke, dass sie auch richtig platziert waren. Hätten sie am Anfang gestanden, hätte ich beim Lesen immer dieses Gesicht vor Augen und mich vielleicht nicht so auf seine Worte konzentriert.
Vielleicht war es aber auch eine Abitte Filipenkos an Nesterenko, weil er im ja doch ein paar schriftstellerische Freiheiten untergeschoben hat. (Vielleicht lässt er ihn am Ende deswegen auch nicht eindeutig sterben?!)
 

Federfee

Bekanntes Mitglied
13. Januar 2023
2.129
8.836
49
Es ist ja nicht nur das. Ich frage mich, wie N. an diese Autobiografie geraten ist. Die Fußnote am Ende ("Ein junger Vater! Herzlichen Glückwunsch!") kommt doch von N., oder?
Ich verstehe, dass Perepelizas und Nesterenkos Leben gegeneinandergestellt werden, aber es kommt mir so zusammenhanglos, so verbindungslos in diese Verhörsache hineingestellt. Was die Fußnote soll, weiß ich auch nicht. Wieder ein bisschen Zynismus von N.?
 

Renie

Moderator
Teammitglied
19. Mai 2014
5.890
12.569
49
Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Interessante und wichtige Sätze habe ich mir notiert:
Ja, die gibt es in diesem Roman, wobei sie für mich eher interessant als wichtig sind. Mein Favorit ist der Satz aus dem (Profi)Fußball:
"Einmal spielst du für die einen, dann für die anderen." (S. 186)
Zack, mit einem Satz weiß man, auf welcher Seite N. steht: auf der Seite desjenigen, der gerade am meisten bezahlt, also N. die meisten Vorteile bietet. Das macht es mir einfach, denn zum Schluss dieses LAs habe ich nicht mehr durchgeblickt, für wen er spioniert, was im Grunde auch keine Rolle spielt.
 

Renie

Moderator
Teammitglied
19. Mai 2014
5.890
12.569
49
Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Das soll bestimmt Authentizität ausdrücken.
Mit viel Wohlwollen könnte man Filipenko dies zusprechen. Genauso chaotisch, wie die damalige Zeit war, ist auch seine Erzählweise. Ob das aber wirklich Filipenkos Intention war? Oder eine bequeme Ausrede für einen mittelmäßigen Roman?:think
 

Renie

Moderator
Teammitglied
19. Mai 2014
5.890
12.569
49
Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Ich glaube, das war nur ein Vorwand.
Das sehe ich auch so. Das Verhör hat nur stattgefunden, weil man halt Verhöre gemacht hat und jemanden in N. Position nicht einfach verschwinden lassen konnte, ohne "gerechtes" Verfahren. Ich sehe es so, dass N.s Schicksal von dem Moment an besiegelt war, als er auf dem Radar der Behörden aufgetaucht ist.
 

Federfee

Bekanntes Mitglied
13. Januar 2023
2.129
8.836
49
Mir fehlt glaube ich Hintergrundwissen, weil ich mich nicht vorab mit dem Roman beschäftigt habe. Für mich sind N. und P. fiktive Figuren, sehe ich das falsch?
Ich denke, P. ist fiktiv, er ist ein Typ des Verhörers, wie es wahrscheinlich damals viele gab. Ob es N. gab? Hm, die beiden Fotos geben Anlass, das in Betracht zu ziehen, vielleicht Unterlagen von 'Memorial', vielleicht nicht dieser Name, vielleicht hat Filipenko etwas Fiktives um Wahres herumgebastelt. Außer einem Glossar hätte man auch ein Nachwort erwarten dürfen. Das würde sicher auch denen helfen, die über diese Zeit wenig wissen.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.438
49.868
49
Für mich sind N. und P. fiktive Figuren, sehe ich das falsch?
Es sind fiktive Namen, hinter denen aber echte Menschen stehen. Wahrscheinlich gab es auch den abgeurteilten Kremulator, ebenso wie einen entsprechenden Ermittler. Aber darauf kommt es nicht an. Dieses Schicksal ist nur ein Beispiel für viele.
Man denke an das kleine vorgestellte Sätzchen: "Hier ist alles wahr..."