2. Leseabschnitt: Seite 82 bis 178 (Ende Abschnitt 1)

petraellen

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11. Oktober 2020
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Der zweite LA bringt das Thema klar auf en Punkt. „In den Nachrichten wird China als unsere größte langfristige Bedrohung bezeichnet […] (S. 80)
Celeste NG bringt Beispiele, die das verdeutlichen. Als Bird und sein Vater eine Pizza bestellen, werden sie anstandslos bedient. Während der Wartezeit kommt ein asiatischer alter Mann in die Pizzeria. Ihm wird sein Wunsch, eine Pizza zu kaufen, verwehrt. „Der Pizzaverkäufer schaut nicht einmal auf. Wir haben geschlossen, sagt er.“ (S. 84)
Eine asiatisch Frau wird mitten auf der Straße zusammengeschlagen, ohne das jemand hilft. Es schauen alle weg. PACT ist überall. Das versucht sein Vater Bird klar zu machen. Er soll nach Möglichkeit nur nicht auffallen. „Achte auf deinen Nachbarn, steht auf einem Plakat und in Großbuchstaben am Rand: PACT. Celeste NG beschreibt diese Details ausserordentlich eindringlich und realitätsnah. Doch je weiter die Geschichte fortschreitet, umso mehr gerät der Stil der Autorin auf Ebene eines Jugendbuches. Spontan fällt mir Harry Potter ein. Das ist sicherlich legitim, aber dadurch werden manche Passagen unglaubwürdig. Bird geht alleine nach New York , um seine Mutter zu finden. Bird ist zwölf und fällt nicht auf, wenn er alleine durch die Straßen irrt. Er findet die Herzogin, die weiß, wo seine Mutter sich aufhält.
„Er stellt sich die bösen Königinnen aus den Märchen vor, die Bosheit mit Anmut tarnen.“ (S. 167)
Er fährt mit ihr durch ein Labyrinth, "ein getarnter Aufzug im Flur" S. 172 und "eine große Entfernung scheint als teleportiert" (S. 173) Dann trifft er auf seine Mutter. Was will Celeste NG mit diesem Stil erreichen? Ein ernsthaftes Thema als Märchen verpackt?
Im zweiten LA wird die Geschichte verschwommen und verliert Authentizität.
 

luisa_loves-literature

Aktives Mitglied
9. Januar 2022
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Die Szene mit der Asiatin fand ich sehr grausam.
Ich auch. Die Darstellung war sehr intensiv, vor allem da die Gewalt aus heiterem Himmel in die Geschichte einbrach - dazu noch der kleine Hund als verstärkendes Element...Gleichzeitig alles in sehr nüchterner Sprache geschildert, das war sehr heftig.
Manches hier hat sehr märchenhafte Züge.
Das empfinde ich auch so. Mir gefällt die deutliche Einbindung von Märchen in den Roman und die Tatsache, dass Bird Sätze und Lehren aus Märchen als Orientierungshinweise verwendet. Sie sind sein Bezugsrahmen, um sich in der Realität zurechtzufinden. (In gewisser Weise gibt es da eine Parallele zu unserem "Simon", der ja auch aus Romanen lernt - ein schöner und auch wahrer Gedanke.) Bei Bird erscheinen mir die Märchen die sinnvolle Wahl, weil sie meist mündlich weitergegeben werden, dafür braucht es dann keine Bücher, an die man nun nicht mehr so leicht herankommt. Gleichzeitig vereinfachen Märchen stark die Wahrnehmung der Welt: es gibt nur Gut und Böse und fast so erscheint ja das Amerika, das Ng präsentiert.
 

luisa_loves-literature

Aktives Mitglied
9. Januar 2022
845
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Ich finde den Roman sehr lesbar, sehr spannend und ich mag die Art, wie Bird durch die Welt navigiert. Der Protagonisten und seine Perspektive sind für mich glaubhaft dargestellt, seine Wahrnehmung, der leichte Hang zum Mysteriösen und die Märchenbezüge - das alles finde ich sehr rund.

Darüber hinaus weist der Roman für mich auch deutliche Schauerelemente auf: neben der "Geistergeschichte" mit der Riesenratte und den lebendig werdenden Katzen, ist natürlich auch der Besuch in seinem alten Wohnhaus inkl. des Verstecks sowie das verlassen wirkende Haus im heruntergekommenen Garten schon sehr "gothic". Auch die unheimliche Ebene der Uni-Bibliothek mit ihren leeren Gängen gehört in diese Kategorie, ebenso wie die extreme Gewalt aus heiterem Himmel (fast ein Hyde-Moment). Der Fokus liegt für Celeste Ng vielleicht auch darauf zu zeigen, wie leicht aus "Heimat" etwas "UnHEIMliches" werden kann. Spannung wird in diesem Roman in jeder Hinsicht großgeschrieben.

Mein Lieblingsteil war bisher eigentlich Birds Wanderung durch Manhattan. Seine sich wandelnden Eindrücke, der Gang durch die verschiedenen Stadtabschnitte und das sich verändernde Bild der Straßenzüge sind sehr gut eingefangen. Es verdeutlicht auch, wie weit Chinatown von dem Reichtum einer Duchess entfernt ist, und dass sie aber dennoch durch eine Achse verbunden sind. Dazu erscheint es mir, als sollte hier durch die Richtung, in die Bird läuft, auch verdeutlicht werden, dass der Reichtum Amerikas nicht zuletzt auf den Schultern der (asiatischen) Einwanderer liegt. Einwanderung und Einwanderer sind schließlich die Keimzelle und letztlich auch das Herz der USA - vielleicht auch da ein Verweis zum Titel?
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Der Fokus liegt für Celeste Ng vielleicht auch darauf zu zeigen, wie leicht aus "Heimat" etwas "UnHEIMliches" werden kann.
Wieder sehr gut beobachtet.
Dazu erscheint es mir, als sollte hier durch die Richtung, in die Bird läuft, auch verdeutlicht werden, dass der Reichtum Amerikas nicht zuletzt auf den Schultern der (asiatischen) Einwanderer liegt. Einwanderung und Einwanderer sind schließlich die Keimzelle und letztlich auch das Herz der USA - vielleicht auch da ein Verweis zum Titel?
Auch hier bringst Du wieder einen Aspekt hinzu, den ich so nicht bemerkt hätte. Ich bin mir nicht mal sicher, ob die Autorin diese Intention hatte, aber es stimmt natürlich m was Du sagst.
 

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Ich finde den Roman sehr lesbar, sehr spannend und ich mag die Art, wie Bird durch die Welt navigiert. Der Protagonisten und seine Perspektive sind für mich glaubhaft dargestellt, seine Wahrnehmung, der leichte Hang zum Mysteriösen und die Märchenbezüge - das alles finde ich sehr rund.
Das hast du sehr treffend ausgedrückt! Anfangs war ich ein wenig skeptisch, da Birds Perspektive sich wie ein Jugendbuch las, aber das Märchenhafte konnte mich dann doch schnell einfangen.
Darüber hinaus weist der Roman für mich auch deutliche Schauerelemente auf: neben der "Geistergeschichte" mit der Riesenratte und den lebendig werdenden Katzen, ist natürlich auch der Besuch in seinem alten Wohnhaus inkl. des Verstecks sowie das verlassen wirkende Haus im heruntergekommenen Garten schon sehr "gothic". Auch die unheimliche Ebene der Uni-Bibliothek mit ihren leeren Gängen gehört in diese Kategorie, ebenso wie die extreme Gewalt aus heiterem Himmel (fast ein Hyde-Moment). Der Fokus liegt für Celeste Ng vielleicht auch darauf zu zeigen, wie leicht aus "Heimat" etwas "UnHEIMliches" werden kann.
Das hatte ich noch gar nicht bewusst wahrgenommen, aber du hast absolut recht!
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Er bittet die Bibliothekarin um Hilfe, von der wir erfahren, dass sie an der Suche nach den verschwundenen Herzen beteiligt ist.

Dass sie ebenfalls kritisch eingestellt ist, hatte ich schon vermutet. Menschen, die Bücher mögen, können einfach nicht schlecht sein. ;)

Es liest sich leicht, beinahe wie ein Jugendbuch. Dazwischen finden sich poetische Stellen.

Den Eindruck habe ich auch und mir sofort überlegt, es meiner Tochter zu lesen zu geben. Die kindliche Perspektive ist bisher aber sehr authentisch.

Ich finde die kindliche Perspektive ebenfalls eindrücklich und authentisch umgesetzt. Ich bin aber immer noch unschlüssig, ob ich nicht lieber einen erwachsenen Protagonisten gehabt hätte.
 
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Reaktionen: RuLeka

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Ich lese den Roman weiterhin sehr gerne. Irgendwie erschreckend, dass das dort Beschriebene einerseits fiktiv, andererseits aber gar nicht so weit hergeholt ist bisher.

Ich bin leider sprachlich bisher nicht so begeistert wie bei „Kleine Feuer überall“. Zum Teil finde ich die Übersetzung etwas missglückt. Das ist mir schon im ersten Abschnitt aufgefallen.