2. Leseabschnitt: Seite 77 bis 151

ThomasWien

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19. März 2021
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Wien
Ich bin ja - um Lisa Eckhart zu zitieren - eine devote Leserin. Wenn mir der Autor im Vorwort sagt, das Buch ist politisch und eine Analyse eines Landes im Tiefschlaf, dann halte ich mich dran. :)

Ja da stimme ich dir voll und ganz zu. Da ich aber weder das Vorwort noch den Klappentext gelesen habe, hats bei mir ein bissi länger gedauert.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Kann sein, aber tirtt nicht momentan das genaue Gegenteil in Weissrussland ein. Menschen die auf die Straße gehen und gegen das System protestieren.
Beides ist wahrscheinlich möglich. Leute, die sich zur Wehr setzen und andere, die versuchen, für sich das Beste rauszuholen.
Bezogen auf das Buch glaube ich, dass der Autor hier bewusst übertreibt.
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Zum Teil sind derbe Metapher enthalten, die mir zu viel des Gutes sind, ich aber auch nicht recht deuten kann: So Seite 142:
[zitat]Der Großmutter fiel auch ein, dass sie von Stein- und Blutregen gehört hatte. Von Regen in allen Farben und allen Geschmacksrichtungen....[/zitat]
Versteht das jemand?

Dann wieder der Schwiegersohn so derb: Ihr könnt ihm die Zähne ausreißen und er wird es nicht spüren...

Die Oma dekoriert alles mit Zeitungsartikeln, die sie vorliest, um uns damit erneut zu informieren. Wir befinden uns immer noch Anfang der 2000er Jahre. Mir ist das zu konstruiert. Wie geht es euch mit diesem Stil?
Nun wird noch eine Prostituierte engagiert. Die Oma lässt nichts unversucht. Soll das eine Art Humor sein, die ich nicht verstehe?
Erkennen tue ich anhand der gesunkenen Preise die rasante Inflation. Sonst nichts.
 
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Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Was man damit möglicherweise in Familien dort ausgelöst hat, oder was das für Kinder hieß, die nicht hierher durften, habe ich mir nicht überlegt. Das zeigt mal wieder, dass Hilfsangebote nicht immer das bewirken, was man möchte bzw. unerwünschte Nebenwirkungen haben kann.
Mir ist durch die Gedanken der Großmutter aufgefallen, dass es sogar für die Familien die es geschafft haben schwierig war. Zum einen mussten sie jeden Cent umdrehen um das Geld zusammenzusparen. Hinzu kam, dass die Jugendlichen nach dieser Art Ferien gewohnt waren, gewisse Dinge zu bekommen. Das Essen schmeckte zu Hause nicht mehr, warum gibt es kein Geld für ein Eis usw. Ein Fluch und ein Segen, wie du schon schreibst.
Ich persönlich kannte dieses Arrangement übrigens auch nicht
 

claudi-1963

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29. November 2015
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Ich bin schon erstaunt wie ausführlich der Autor hier die Hingabe der Großmutter für ihren komatösen Enkel beschreibt. Eigentlich dachte ich nicht das wir so viel über die Zeit während des Komas erfahren.
Schön wie sie ihn in das Zeitgeschehen mit einbezieht und versucht alles menschnmögliche zu tun, damit Zisk aufwacht. Dagegen bin ich richtiggehend von seiner Mutter enttäuscht. Zwar hat sie sich auch schon vorher wenig um Zisk gekümmert, doch nun mit ihrem neuen Mann wird das immer noch schlimmer. Dieser verbietet ihr sogar das sie ihn besuchen soll. Ich finde ihn einfach nur herzlos, wie er da so herablassend Zisk Zustand beschreibt.
Zumal ich ihn gar nicht verstehen kann, Zisk kann alleine atmen, also was sollen sie denn da tun? Es geht hier ja nicht mehr darum das man Geräte abstellen muss, damit er erlöst ist. Oder möchte er das man Zisk verhungern und verdursten lassen soll? So eine Debatte würde es bei uns gar nicht geben, wenn ein Komapatient selbstständig atmet.

Also ich kann da Zisk Großmutter schon verstehen, das sie sich über den neuen Mann und Arzt ärgert. Schon alleine wie er ihr die Wohnung wegnimmt fand ich einfach unversämt und dreist.

Allerdings kann ich sie nicht verstehen warum sie so barsch auf das deutsche Ehepaar reagiert hat, das sich für Zisk sogar einsetzten wollte. Vielleicht wäre es ihm in Deutschland behandlungsmäßig sogar besser gegangen? Den eigentlich braucht er ja ständig Therapie, damit die Sehnen und Muskeln nicht verkümmern. Ich weiß nicht ob das in der Ukraine wirklich alles so geschieht, nach der ganzen Einschätzung der Ärzte denke ich eher nicht.
Das man nach dem Unglück in Tschernobyl viele Kinder aus der Ukraine und Weissrussland zur Erholung nach Deutschland geschickt hat in den Ferien, das wusste ich. Doch bei Zisk scheint das ja schon ein inniger Aufenthalt bei Privatleuten gewesen zu sein, den sonst würden die ja jetzt nicht nach ihm schauen. Den sonst wurde es meist von Kirchengemeinden organisiert und sicherlich sind da nicht alle bei Privatleuten untergekommen sondern auch in größeren Einrichtungen. Man wollte damals einfach das die Kinder sich ein paar Wochen in besserer Luft etwas erholen können.
Das sie allerdings danach verwöhnt waren durch die westlichen Produkte und Erwartungen hatten wenn sie wieder nach Hause kamen, das hatte ich nicht vermutet.

Auch hier wieder wird mir klar, warum dieses Buch in der Sowjetunion umstritten ist. Den die Großmutter schildert hier ja schon einige politische Dinge die sie auch nicht gut findet. Sei es das Gebräbnis des Schriftstellers, das sie mit einem Staatsbesuch vergleicht.

Nastjas Reaktion bei ihrem Besuch kann man irgendwie nachvollziehen, sie ist einfach noch zu jung und sie waren zu kurz zusammen.
Umso schlimmer finde ich inzwischen wird das Erwachen für Zisk sein. Viele Jahre nicht erlebt zu haben, keine Freundin mehr, die Mutter wieder verheiratet mit einem Mann der ihn eigentlich eher tot sehen wollte. Zudem gibt es das Lyzeum nicht mehr und er hat imgrunde ja nicht mal einen Abschluss. Das einzige was ihm geblieben ist, wird seine Großmutter sein.

Ich glaube ich hätte es auch besser gefunden, wenn wir als Leser im Ungewissen geblieben wären, ob Zisk wieder aufwacht. Den so wartet man im Grunde immer auf das Erwachen von ihm und der Überraschungsmoment fehlt dadurch. Anderseits erfährt man noch genug andere Dinge, von denen ich nicht dachte das man so viel davon erfährt. Gerade das politische und überhaupt die Zustände von der Weissrussland finde ich interessant.
 

claudi-1963

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29. November 2015
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Das sehe ich ähnlich. Das Koma ist nur ein stilistischer Kniff, damit die Oma ihre Monologe loswerden kann. Trotzdem hätte ich mir die Unsicherheit gerne bewahrt. Ich gebe euch allen die Empfehlung, Klappentexte zu meiden;)
Naja irgendwoher muss ich mir ja meine Einschätzung holen ob ich bei der LR dabei sein will und das geht eben nur über den Klappentext.
Und so viel macht es mir nun auch wieder nichts aus, das ich das schon wusste. In dem Buch gibt es genug interessante Informationen.

Wie entscheidest du dann ob du ein Buch list oder nicht, wenn du keinen Klappentext liest?
 
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claudi-1963

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29. November 2015
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Beides ist wahrscheinlich möglich. Leute, die sich zur Wehr setzen und andere, die versuchen, für sich das Beste rauszuholen.
Bezogen auf das Buch glaube ich, dass der Autor hier bewusst übertreibt.
Ich glaube nicht das er so arg übertreibt, den wie gesagt sein Buch ist anscheinend sehr umstritten in der Sowjetunion. Vielleicht gerade weil er da so viel wahres preisgibt.
 

claudi-1963

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29. November 2015
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Zum Teil sind derbe Metapher enthalten, die mir zu viel des Gutes sind, ich aber auch nicht recht deuten kann: So Seite 142:
[zitat]Der Großmutter fiel auch ein, dass sie von Stein- und Blutregen gehört hatte. Von Regen in allen Farben und allen Geschmacksrichtungen....[/zitat]
Versteht das jemand?

Dann wieder der Schwiegersohn so derb: Ihr könnt ihm die Zähne ausreißen und er wird es nicht spüren...

Die Oma dekoriert alles mit Zeitungsartikeln, die sie vorliest, um uns damit erneut zu informieren. Wir befinden uns immer noch Anfang der 2000er Jahre. Mir ist das zu konstruiert. Wie geht es euch mit diesem Stil?
Nun wird noch eine Prostituierte engagiert. Die Oma lässt nichts unversucht. Soll das eine Art Humor sein, die ich nicht verstehe?
Erkennen tue ich anhand der gesunkenen Preise die rasante Inflation. Sonst nichts.

Also dieser Blutregen steht für den Saharasand der immer wieder ab und zu bei uns herunterkommt. Und weil er so rötlich aussieht nennen sie ihn gerne Blutregen. Aber der Steinregen weiß ich auch nicht was das sein soll.
Ahh hab jetzt was bei Google gefunden. Der Steinregen steht für kosmische Materien, die es herabregnet. War wohl in Frankreich schon mal der Fall. Hier näheres:

https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/kalenderblatt/2604-steinregen100.html

Ja den Schwiegersohn finde ich auch entsetzlich, besonders in Anbetracht das er Arzt ist geht sowas gar nicht.
Wie sich dagegen die Oma für Zisk einsetzt und alles macht, finde ich eher menschlich. Ich glaube ohne seine Großmutter wäre er schon längst tot oder abgeschoben.
Wobei ich es schon sehr eigenartig finde, das sie ihn aufgeben wollten obwohl er selbständig geatmet hat.
 
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Xirxe

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19. Februar 2017
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Sind wirklich alle Belarussen nur auf ihren Vorteil aus? Was will uns der Autor mit dieser Figurenzeichnung sagen?
Wenn Du zu denen gehörst, denen es in solch einem System besser geht, dann hast Du das mit großer Wahrscheinlichkeit mit Mitteln erreicht, die nicht so schön sind: Rücksichtslosigkeit, Erpressung, Korrumpierbarkeit undundund. Mit Nächstenliebe, Solidarität und ähnlichem kommst Du da nicht weit.
Ich finde, er hat das ganze System recht realistisch beschrieben. Da ich öfters in Ländern der ehemaligen Sowjetunion unterwegs war, habe ich Ähnliches schon erlebt. Um nichts in der Welt möchte ich dort leben, so schön es dort auch sein mag (und das ist es durchaus). Wenn es Dir dort gutgeht, ist das fast immer auf Kosten von Anderen.

Dieser zweite Teil gefiel mir auch recht gut, wenn auch nicht so gut wie der erste. Ich fand die langen Erzählteile manchmal etwas zäh, vielleicht weil ich das Gefühl hatte, dass sich Manches wiederholt bzw. ich es schon kannte. Aber ich mag den Erzählstil von Filipenko und besonders diesen latent ironisch-spöttischen Unterton.
Dass Nastja so sehr Klischee ist - geschenkt. Irgendwoher müssen Klischees ja her kommen und nach den Äusserungen von Zisks Freunden hätte mich alles andere sehr gewundert. Was erwartest Du denn von einer 16jährigen, liebes Hexlein? Tiefschürfende Gespräche über den Sinn des Lebens ;)? Du solltest mal ab und zu öffentliche Verkehrsmittel nutzen und da den Gesprächen lauschen - besser als jede Comedy, ehrlich!
Dass seine Großmutter sich für Zisk so verausgabt, kann ich verstehen, denn sie hat ja ausser ihrer Arbeit nichts im Leben. Das Leben in diesem Land (und auch in anderen) ist eine Plage, man bringt die Tage hinter sich und der einzige Lichtblick sind die Menschen, die man liebt. Es gibt kaum Schönes, nur Armut, Mangel und die eigene Würde. Und keine Aussicht, dass es irgendwann besser wird. Kein Wunder, dass sie ihre letzten Hoffnungen auf die Genesung ihres Enkels konzentriert. Welchen Sinn hätte denn sonst noch ihr Leben?
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Also dieser Blutregen steht für den Saharasand der immer wieder ab und zu bei uns herunterkommt. Und weil er so rötlich aussieht nennen sie ihn gerne Blutregen. Aber der Steinregen weiß ich auch nicht was das sein soll.
Ahh hab jetzt was bei Google gefunden. Der Steinregen steht für kosmische Materien, die es herabregnet. War wohl in Frankreich schon mal der Fall. Hier näheres:
Danke für die Informationen.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Ebenso krass agiert die Großmutter in der anderen Richtung: sie hält bedingungslos zu ihrem Enkel und fordert Gleiches vom überforderten Personal. Die hier so stark gezeichnete Frau knickt gegenüber dem Schwiegersohn völlig ein und lässt sich ihrer Wohnung berauben....
Der Arzt ist ein echtes Ekelpaket. Da verstehe ich die Großmutter auch nicht, dass sie sich von dem so "unter Druck" setzen lässt. Etwas irritiert war ich, dass das Kind 5 Kilogramm bei der Geburt gewogen haben soll - halte ich für etwas übertrieben...
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
7.318
19.012
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Ich hatte mir letzte Woche noch einige Sätze markiert, die mich tief berührt bzw. erschüttert haben.

[zitat]Wenn du jetzt und hier existierst, dann heißt das, es wird dich nie mehr irgendwo anders geben. (S. 133)[/zitat]

[zitat]Es war ja auch nicht ein Mensch gestorben, sondern ein politischer Widersacher. (S. 135)[/zitat]

Auszug aus dem Dialog zwischen der Bankbeamtin und der Großmutter:
[zitat]Was haben Sie denn nicht? - Freiheit...(S. 140)[/zitat]

Außerdem der zweite Absatz auf S. 141 - ein sehr bildhafter Textabschnitt.
 

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
wordpress.mikkaliest.de
Zur Debatte über den Klappentext: ich ärgere mich auch oft, dass ein Verlag entweder schon zu viel verrät im Klappentext oder Dinge sogar verfälscht, aber hier hat es mich mal gar nicht gestört! Mir geht es da eher wie @RuLeka oder @ThomasWien, mich interessiert vor allem, war uns dadurch enthüllt wird, was die Großmutter erzählt oder worüber die Menschen rund um Zisk sprechen und was sie beschäftigt.

Die Gesellschaftskritik kommt an vielen Stellen durch. Polizisten verdienen viel Geld, alle wollen dahin. Umgezogen wird im Rettungswagen, weil der billiger ist als ein Möbelwagen:mad:

Das hat mich verwundert, denn hier wäre es ja umgekehrt – wenn man einen Rettungswagen selber bezahlen müsste, wäre das definitiv teurer als ein Möbelwagen... Das erfüllt mich nicht unbedingt mit Hoffnung, dass die Rettungswagen dort auf dem technisch neusten Stand sind und die Möbelpacker, äh, Rettungssanitäter fachlich geschult.

ich bin zwar kein Freund von Monologen, aber diese hier haben es mir echt angetan. Ich finde die sind mit einer ungemeinen Dynamik geschrieben mit unheimlich viel Inhalt.

Ditto! Ich habe zwischendurch gedacht: warum stört mich das sonst aber hier stört es mich nicht? Sie sind ja nicht immer "realistisch", im Sinne von "so drücken sich Menschen in Gedanken aus, wenn sie mit sich selber sprechen", aber es passt sehr gut zur Geschichte. Und wie du sagst, tolle Dynamik.

Allerdings ist es erzählerisch nicht schlecht gemacht, dass die Oma ihm von bestimmten Ereignissen erzählt. So bekommen wir die Informationen ganz einfach geliefert.

Ja, genau, und nach meinem Empfinden wirkt das gar nicht so gekünstelt, wie man befürchten könnte. Passt, liest sich wie aus einem Guss.

Die Oma dekoriert alles mit Zeitungsartikeln, die sie vorliest, um uns damit erneut zu informieren. Wir befinden uns immer noch Anfang der 2000er Jahre. Mir ist das zu konstruiert. Wie geht es euch mit diesem Stil?

Ich finde das ganz einleuchtend: so wie sie ihm Musik vorspielt, damit er später leichter wieder den Einstieg findet, um Cellospieler zu werden, versucht sie so, ihn immer auf dem neusten Stand zu halten, damit er leichter wieder ins Leben findet. Ob er davon viel mitbekommt oder einfach nur wahrnimmt, DASS sie mit ihm redet, das ist natürlich die Frage. Obwohl es ja durchaus auch schon Komapatienten gab, die nach ihrem Erwachsen sagten, sie hätten durchaus mitbekommen, was in ihrem Umfeld gesagt wurde.

Nun wird noch eine Prostituierte engagiert. Die Oma lässt nichts unversucht. Soll das eine Art Humor sein, die ich nicht verstehe?

Ich finde, es zeigt vor allem, wie verzweifelt sie ist. Ihr fällt langsam nichts mehr ein, um ihren Enkel zu erwecken, da greift sie nach jedem Strohalm...

Allerdings kommt Filipenko auch hier nicht ohne sehr stereotype Charaktere aus. Gleich am Beginn des Abschnittes ist es Freundin Nastja, eine total oberflächliche Göre, die offenbar kein bisschen geschockt war über Zisks Unfall. Schwupps, hat sie sich einen Neuen geangelt und bittet dafür auch noch um Vergebung (!). Außerdem ist sie stolz, "Den Jackpot geknackt" zu haben.

So weit denkt sie nicht, dass, wenn sie pünktlich gewesen wäre, Zisk vielleicht schon nicht mehr ins Gedränge geraten wäre...
Niemand erwartet von einem jungen Mädchen ewige Treue - Aber dieser Monolog war schon arg konstruiert und empathielos.

Ja, da habe ich meinem Mann (der als Lehrer in Klasse 7 bis 10 ja viel mit Teeniemädeln zu tun hat) gefragt: gibt's das? Gibt es Mädchen, die wirklich SO oberflächlich sind, dass ihnen, wenn der eigene Freund ins Koma fällt, nichts besseres einfällt als Disko und Kosmetikbeutel und der heiße Junge, den sie sich jetzt angeln wollen? Er meinte: Das ist aber auch eine heftige Situation, mit der sie vielleicht einfach nicht umgehen kann und die sie deswegen nicht an sich ranlässt.

Vielleicht, aber so liest es sich für mich nicht... Sie wirkt, man möge es mir verzeihen, wie ein kleines Hohlbrötchen.

Mir ist das aber in positiver Erinnerung. Was man damit möglicherweise in Familien dort ausgelöst hat, oder was das für Kinder hieß, die nicht hierher durften, habe ich mir nicht überlegt. Das zeigt mal wieder, dass Hilfsangebote nicht immer das bewirken, was man möchte bzw. unerwünschte Nebenwirkungen haben kann.

Ich kenne die Debatten über Promis, die Kinder aus Dritteweltländern adoptieren, was für die Familien der Kinder oft das ultimative Opfer ist. Sie lassen ihre Kinder ziehen, damit die es später mal besser haben. Da wird ja oft gesagt (sicher nicht zu Unrecht): stattdessen sollte man die Familien vor Ort unterstützen, damit die Familieneinheit zusammenbleiben kann und die Kinder es trotzdem besser haben.

Vielleicht ist das hier ähnlich? Aber die Frage ist, ob es in anderer Form möglich gewesen wäre.

Die Großmutter ist und war ihnen gegenüber skeptisch, sieht die, ich nenne es mal, Vereinnahmung der Reichen, als Bedrohung für ihren familiären Frieden, in der mit diesen Besuchen immer das Fenster zu Alternativen aufgestoßen scheint und die Zufriedenheit mit dem Möglichen in Minsk nicht größer gemacht hat. Diese Figurenkonstellation mit dem dazugehörigen Konfliktpotential fand ich sehr gut dargestellt.

Und das ist doch auch ein Beweis dafür, wie sehr die Großmutter Zisk liebt – trotz aller Vorbehalte sparte sie sich das Geld vom Mund ab, um ihn nach Deutschland schicken zu können, im Wissen, dass er es nicht IHR danken würde, sondern den Deutschen.

Vielleicht wäre es ihm in Deutschland behandlungsmäßig sogar besser gegangen? Den eigentlich braucht er ja ständig Therapie, damit die Sehnen und Muskeln nicht verkümmern. Ich weiß nicht ob das in der Ukraine wirklich alles so geschieht, nach der ganzen Einschätzung der Ärzte denke ich eher nicht.

Ich vermute, die Großmutter tut selber, was sie kann, um ihn rund um die Uhr zu pflegen. Es wurde ja schon gesagt, dass sie ihn mithilfe der Krankenschwester regelmäßig umdreht und auch badet, ich könnte mir vorstellen, dass sie auch versucht, seine Sehnen und Muskeln zu dehnen und zu strecken. Vielleicht überschätzt sie sich da (wahrscheinlich), aber ich kann beide Seiten verstehen – beiden wollen für Zisk das Beste, haben aber komplett unterschiedliche Ansichten, was für ihn das Beste ist.

De Großmutter (Tradition, altes System) streitet mit den Deutschen (Deutschland, EU?) über das Fortkommen des "Patienten" Belarus, während sich die Mutter (Russland?) sich anderen neuen Projekten mit attraktiven Kapitalgebern zuwendet?

Interessante Interpretation! Ich habe es tatsächlich gar nicht als Analogie gesehen, nur als Konflikt, der in Zisk frühem Leben eine große Rolle gespielt hat.

Sind wirklich alle Belarussen nur auf ihren Vorteil aus? Was will uns der Autor mit dieser Figurenzeichnung sagen?

Vielleicht genau das. Ein unmenschliches System bringt rücksichtslose Menschen hervor. Dazu passt wahrscheinlich auch die derbe Sprache in den Dialogen

Das kann natürlich sein, RuLeka. Ich fand zum Beispiel die Sprache des Arztes oft zu übertrieben fies und menschenverachtend, aber das stimmt, es kann einfach ein Sinnbild sein für genau das.

Ich glaube nicht das er so arg übertreibt, den wie gesagt sein Buch ist anscheinend sehr umstritten in der Sowjetunion. Vielleicht gerade weil er da so viel wahres preisgibt.

Ja, das spricht dafür, dass da viel Wahrheit drinsteckt.

Ja den Schwiegersohn finde ich auch entsetzlich, besonders in Anbetracht das er Arzt ist geht sowas gar nicht.
Wie sich dagegen die Oma für Zisk einsetzt und alles macht, finde ich eher menschlich. Ich glaube ohne seine Großmutter wäre er schon längst tot oder abgeschoben.

Mit Sicherheit... Bestenfalls irgendwo "verwahrt" und ohne Pflege dahinvegetieren gelassen, bis er hoffentlich bald stirbt.
 

parden

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13. April 2014
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Etwas irritiert war ich, dass das Kind 5 Kilogramm bei der Geburt gewogen haben soll - halte ich für etwas übertrieben...
Och, das gibt es aber durchaus, wenn auch zugegebenermaßen nicht so häufig. Wenn die Mutter beispielsweise unter (Schwangerschafts-)Diabetes leidet, entwickelt das Kind als Reaktion auf den Zuckergehalt im Blut der Mutter viel Fett. Tatsächlich ist Diabetes wohl der häufigste Grund für solche "Riesenbabys"...
 

parden

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Ich lese den Klappentext immer vor der Entscheidung, ob ich einen Roman lesen möchte oder nicht - und natürlich auch hier. Einerseits verstehe ich den Ärger, dass hier schon vorab verraten wird, was erst in der zweiten Hälfte des Romans geschehen wird, andererseits geht es hier m.E. doch nur vordergründig um Zisk als Person, vielmehr aber wie bei einer Parabel um die hintergründigen Informationen - hier: zum desolaten Staat mit all den negativen Auswüchsen, die hier Erwähnung finden. Gerade die Zeitungsartikel an der Wand des Krankenhauszimmers zeigen dies spotlightmäßig und quasi im Zeitraffer. So grau und trist wie die Zustände da in Weißrussland waren/sind, so deprimierend finde ich die Lektüre. Was zählt schon das Leben eines Einzelnen, was zählt das Individuum? Nichts, wenn man dem Roman Glauben schenken darf. Erst recht nicht, wenn kein Nutzen mehr für die Gesellschaft zu erwarten ist... Nur die Großmutter hält menschliche Werte dagegen, wenn auch nicht nur uneigennützig.
 
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