2. Leseabschnitt: Seite 52 bis 91

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wenn man den Zugang erst einmal hat, liest sich das Buch wunderbar. Beim zweiten Abschnitt gab es keine Startschwierigkeiten mehr, man hat sich an Aufbau und Ton gewöhnt, so dass Fluss ins Gelesene kommt;)

Im eleganten Plauderton und belegt durch zeitgenössische Briefe und Zitate lässt sich Barnes über verschiedene Themen der Zeit aus. Dabei muss ich Wanda zustimmen: "Alles hat mich allem zu tun". Immer wieder nimmt Barnes Bezug zu bereits Gesagtem oder nimmt Fäden erneut auf. Herrlich ist das, aber ohne Bleistift und Notizzettel nicht machbar;)

Duelle sind eines der Themen. Sie scheinen in Frankreich Mode gewesen zu sein in gewissen Kreisen. Mancher hat sie sich zum Hobby gemacht.[zitat]Ein Duell, fährt Maupassant fort, ist der Schutzschild für alle Verdächtigen: Die Windigen, die Zwielichtigen und die Kompromittierten versuchen, sich damit eine wohlfeile neue Unschuld zu erkaufen. S. 53[/zitat]
Ganz konsequent war Maupassant aber auch nicht und ich finde es schön, wie Barnes den Zeitgenossen immer wieder den Finger in die Wunde legt und Schwächen aufdeckt. Der Grund für Duelle war meist lächerlich, die Austragung selbst lebensgefährlich, wie viele Beispiele zeigen. In England war das Duell schon in den 1830er Jahren aus der Mode gekommen.

Maupassant ist der Aufhänger für das nächste eingeschobene Thema: London.
Die Stadt scheint auf Franzosen abstoßend zu wirken. Die Industrialisierung dürfte dort weiter fortgeschritten sein, was den Dreck, Nebel, "Anbetung des Mammons" erklärt.
Dieser Auflug tangiert wieder das übergeordnete Thema der Unterschiedlichkeit zwischen Frankreich und England.

Pozzi war derweil "überall", auch er kam um ein Duell nicht herum, das ihm die Hand verletzte. "Damit war der Ehre und der Dummheit Genüge getan". Durch eine zweite Kugel wird die Geburt des berühmten Marcel Proust ausgelöst;)

Pozzi ist ein Verfechter wissenschaftlichen Arbeitens. Er setzt sich nachhaltig für bessere hygienische Bedingungen bei Operationen ein. Bei einer Konferenz lernt er Joseph Lister kennen und überführt dessen Methode nach Frankreich. Ich bin kein Mediziner, empfand die Ausführungen hierzu aber erneut spannend erzählt.
Mit seinem Pastoren-Vater muss er sich zwangsläufig überwerfen, beide schreiben je ein Buch, dessen Weltanschauungen diametral zueinander stehen (göttliche Wahrheit versus wissenschaftliche Wahrheit). Wir lasen zuvor ja schon, dass der Vater nicht an der Hochzeit des Sohnes teilnahm.

Dem Dandy gelten weitreichende Ausführungen. Klassenzugehörigkeit, Kleidung, Snobismus, Extravaganz, Oberflächlichkeit, Vermögen, Dekadenz - all das sind Charakteristika. Viele waren homosexuell, verkleideten sich gern (Fotos). "Der Dandy ist ein Dekorateur".
[zitat]Der (nichtskandalöse) Homosexuelle war in der Pariser Gesellschaft willkommen. Die Lesbe sogar noch mehr. S. 71[/zitat] Das hat mich nun überrascht.

Ein weiterer kleiner Ausflug handelt vom Geschmack, der in bereits angerissenen Betrachtungen über "Die Engländerinnen" mündet. Sie gehen spazieren - höchst verdächtig:D!
Schönheitsdefinitionen schließen sich an.
[zitat]Das Dandytum sei nach Wilde ein Versuch, die absolute Modernität der Schönheit zu bezeugen. S. 76[/zitat]

Haben wir im ersten Abschnitt schon über unterschiedliche Ansichten zur Ehe erfahren, wird nun ein konkreter Bezug zu Pozzi sichtbar: Offensichtlich hat er eine romantische Definition der Ehe (untypisch für Franzosen) und fühlt sich von seiner Frau nicht richtig geliebt, die offenbar die Ehe eher als praktischen Stand versteht. Allerdings bekommen wir nur Samuels Perspektive mitgeteilt. Therese würde das Problem naturgemäß anders beurteilen...
[zitat]Dreißig Jahre lang lebten sie in öffentlicher Ehe und ertrugen privaten Klatsch. S. 82[/zitat]

Jean Lorrain (Paul Duval) ist ein skandalträchtiger Dandy der schlimmen Sorte, die Ausführugen schrecken mich regelrecht ab (wenn ich sie auch höchst neugierig gelesen habe. Skandale sind immer eine spannende Sache;)). Trotzdem wird er einer von Pozzis engsten Freunden.
[zitat]Drei Menschen gegenüber blieb der streitsüchtige Lorrain immer loyal (oder so loyal, wie er eben konnte): seiner Mutter, Edmond de Goncourt und Dr. Pozzi. S. 88[/zitat]

Die Tagebücher der Goncourts - wieder eine höchst interessante Geschichte mit Bezug zum wichtigsten französischen Literaturpreis (ich habe einen Link dazu gepostet).
[zitat]Unser Bemühen richtet sich darauf, der Nachwelt ein getreuliches, lebendiges Bild von unseren Zeitgenossen zu hinterlassen. S. 90[/zitat]
Das scheint den Brüdern gelungen zu sein: Die Tagebücher sind heute noch erhältlich.
 
Zuletzt bearbeitet:

Bibliomarie

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10. September 2015
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Ich lese wirklich mit Begeisterung weiter und muss auch konstatieren, dass alles mit allem zusammenhängt.
Vor Jahren sammelte ich die Bände der "Anderen Bibliothek", dort hatte ich auch einen Band der Brüder Goncourt, die "Blitzlichter". Allerdings hatte ich sie damals mit mittelmäßigen Interesse gelesen und die Reihe inzwischen aufgelöst. Tja, jetzt im Anschluss des Romans würde ich gern noch einmal hineinschauen.

Das Dandytum - man kann darüber spötteln. Eine bestimmte Klasse junger Männer, gut aussehend, vermögend und gelangweilt, so scheint mir. Oft auch (noch) nicht ihr sexuellen Neigung bewusst, wollen sie einander übertreffen. Vielleicht war es auch eine bewusste Abgrenzung zu den Älteren, Etablierten, wie es in jeder Zeit zu beobachten ist.

Was hat wohl Pozzi von seiner Ehe erwartet? Eine fromm erzogene junge Frau, der die Bedeutung der Ehe wahrscheinlich von klein auf anerzogen war, für Leidenschaft war da wohl wenig Platz, wahrscheinlich ist sie auch noch völlig unschuldig in die Ehe geschickt worden. Wie hätte sie da Pozzi zufriedenstellen können? Weder intellektuell, noch als Freigeist. Immerhin hat sie seine Leidenschaften bezahlt und wurde die Mutter seiner Kinder. Wie sie über ihren Mann gesprochen hätte?

Die Duell - Inbegriff des Ehrgefühls und das über die Jahrhunderte. Dieses Buch bringt mich dazu, ständig in meinen Regalen zu wühlen, jetzt habe ich mir eine Kulturgeschichte des Duells rausgezogen, das ich auch vor Jahren mal als Ergänzung zu einer Lektüre gekauft habe. Aber bis auf Dumas sind die Franzosen dort nicht berücksichtigt.

Ich finde Jean Lorrain ist eine abstoßend faszinierende Persönlichkeit, der sich immer mehr in seine Selbstinszenierung verloren hat. Während die Weggefährten im Alter zurück in den Schoss der Kirche fanden ( man wusste ja nicht, was im Jenseits wartete und war dann lieber auf der sicheren Seite) bleibt er sich treu.

Ich habe mal vorgeblättert, Barnes Literaturliste hätte mich interessiert, die ist leider für die deutsche Ausgabe sehr knapp gehalten.
 

Yolande

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13. Februar 2020
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Mir gefällt das Buch auch sehr gut :). Es ist mein erstes Buch von Julian Barnes, ich bin begeistert und habe mir gleich mal ein paar seiner Werke auf meiner Wunschliste notiert.
Den Abschnitt über die Duelle fand ich äußerst interessant. Oft wurden sie wegen Nichtigkeiten ausgetragen. Und eher von Leuten, die politisch eher rechts einzuordnen ware, weil das Empörungspotiental größer ist. Kommt mir irgendwie bekannt vor ;).
Schade, dass Pozzis Ehe nicht so gut war, aber hier sind die beiden wohl mit völlig unterschiedlichen Vorstellungen an die Sache herangegangen. Pozzi scheint eine weltoffene und unvoreingenommene Persönlichkeit gewesen zu sein, natürlich im Rahmen der damaligen Verhältnisse. Aber das macht ihn für mich sehr sympathisch.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Erstmal ein Danke schön an @Literaturhexle, die den Abschnitt sehr präzise zusammengefasst hat. Es erschließt sich uns ein Bild jener Zeit, in der Pozzi gelebt hat. Sehr deutlich werden die Unterschiede zwischen Frankreich und Großbritannien herausgestellt.
Wunderbare Sätze formuliert Barnes : "Die Ehe war lediglich ein Basislager, von dem das abenteuerlustige Herz zu neuen Ufern aufbrach." (51) Die französische Einstellung ;)
Während die Liebe der Dandys nur sich selbst gilt.
Nebenbei erfahren wir auch mehr über die Entstehung des Gemäldes, Pozzi im roten Rock.
Amüsant finde ich Sätze wie: "Wie schön viele Biografen festgestellt haben, kann man sich die Freunde seiner wichtigsten Figur leider nicht aussuchen." (83) GEMEINT Jean Lorfaun, der in der Tat sehr unsympathisch wirkt und in ewiger Konkurrenz zum Grafen steht.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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In Bel-Ami von Maupassant gibt es auch eine Duellszene. Ich kann mich jetzt nicht genau erinnern, weiß aber noch, dass es sich um eine reichlich läppische Streitigkeit handelte und das Duell in eine Farce ausartete - vermutlich so ähnlich wie ein Streit über die Frage, wie dünn Sarah Bernhardt war (siehe Seite 59).

(Am Rande, sie muss schon sehr dünn gewesen sein, ich kann mich nämlich an einen Witz über sie erinnern, den ich irgendwo mal gelesen habe: Vor der Comédie Francaise hält eine leere Kutsche, und Sarah Bernhardt steigt aus ... )
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Der heutige Playboy.
Der Vergleich hinkt, unter dem heutigen Playboy stelle ich mir zwar auch jemanden vor, der wohlhaben/reich ist, aber nicht in der Art und Weise kultiviert wie der Dandy, den Barnes beschreibt. Playboy wird, zumindest meiner Ansicht nach, auch vorwiegend auf heterosexuelle Männer angewandt, die eine Frau nach der anderen „aufreißen“, während der Dandy beiden Geschlechtern zugewandt ist und zudem in England adlig sein muss.
„Als Angehöriger der Mittelschicht, geschweige denn der Arbeiterklasse, konnte man in England schwerlich ein Dandy sein. In Frankreich durfte man in den Kreisen der künstlerischen Boheme ein Dandy sein.“ (67)
„Montesquiou war das Musterbeispiel eines aristokratischen Dandypoeten“ (67)
Auch eine schöne Definition:
„Der Dandy berauscht sich daran, dass er geistreicher und besser gekleidet ist und einen besseren Geschmack hat als der Rest der Menschheit.“ (68)
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Wie @Literaturhexle habe ich irgendwann angefangen, mir eine Themenliste im Buch anzulegen, um den Überblick zu behalten, was alles angesprochen wird. Das ist sehr hilfreich. Die Themen sind oben genannt und müssen nicht mehr wiederholt werden.
Wir erfahren in diesem LA etwas mehr über unseren Mon. Pozzi, sein Leben und seinen Lebensstil. Die Konzentriertheit auf das Äußerliche, das Nicht-Gesellschaftliche ist nicht nur bei ihm, sondern insgesamt in der Zeit bei den Personen, die geschildert werden, sehr ausgeprägt. Dazu zitiert Barnes zB einen Herrn Jules:
[zitat]...sind wir das verschanzte Lager des L'art pour l'art, des moralischen Werts der Schönheit, des Desinteresses an politischen Fragen ...."[/zitat]
Da verwundert es dann zwischendurch doch immer wieder, was Pozzi zu leisten im Stande war. Bahnbrechende Operationen, erstaunliche Heilungen, alle Achtung. Das muss ich erstmal zusammenbringen.
Nett finde ich zwischendurch immer wieder die Schokoladenbildchen der "VIPs" der Zeit. Und ich male mir die Situation aus, in der ein aufs höchste eleganter Herr dieser Zeit Schokolade öffnet und hoch erfreut aufschreckt, hat er doch gerade das letzte fehlende "Panini-Bildchen" in seiner Süßigkeit gefunden. :) Das bringt mich wirklich zum Lächeln. Euch auch?
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Die Bildchen sind wirklich sehr niedlich - es liegt wohl an mir, dass ich mir als erstes die Folgen solcher Sammelwut für Taille und Hüften ausmale ...

Zu den Goncourts: dieser Tage dachte ich wieder an die Schaffensgemeinschaft der beiden, die sehr eng gewesen sein muss. 2019 habe ich "Die Brüder Zemganno" gelesen, einen Roman über zwei Zirkusartisten, den Edmond nach dem Tod seines jüngeren Bruders Jules geschrieben hat. Die Brüder Zemganno, im Alter etwa zwölf Jahre auseinander, leben und arbeiten immer zusammen, trennen sich nie und haben nie Liebschaften oder andere enge Beziehungen, sie leben nur füreiander und für ihre Arbeit. Nach einem schweren Unfall, der den Jüngeren arbeitsunfähig macht, fallen beide in tiefe Schwermut - wenn man sich ernsthaft auf die Lektüre einlässt, sind die Schlusskapitel sehr traurig; ein Zeugnis tiefer Bruderliebe.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Wir erfahren in diesem LA etwas mehr über unseren Mon. Pozzi, sein Leben und seinen Lebensstil.

Trotzdem werde ich des Verdachts nicht ledig, dass Pozzi "nur" der Nagel ist, an dem das Bild hängt - existentiell wichtig, aber, wenn man das Bild nicht wegklappt, kaum sichtbar.

Das bringt mich wirklich zum Lächeln. Euch auch?

Schon, aber ich entdecke gerade erst , dass da Lücken sind, die ich mit den Bildchen füllen soll.
Ich brauche wahrscheinlich noch ein paar Wiederholungen, gerne mit Herrn Barnes, bis ich genauso flockig meine Verbindungen im Kopf herstellen kann.;)