Wenn man den Zugang erst einmal hat, liest sich das Buch wunderbar. Beim zweiten Abschnitt gab es keine Startschwierigkeiten mehr, man hat sich an Aufbau und Ton gewöhnt, so dass Fluss ins Gelesene kommt
Im eleganten Plauderton und belegt durch zeitgenössische Briefe und Zitate lässt sich Barnes über verschiedene Themen der Zeit aus. Dabei muss ich Wanda zustimmen: "Alles hat mich allem zu tun". Immer wieder nimmt Barnes Bezug zu bereits Gesagtem oder nimmt Fäden erneut auf. Herrlich ist das, aber ohne Bleistift und Notizzettel nicht machbar
Duelle sind eines der Themen. Sie scheinen in Frankreich Mode gewesen zu sein in gewissen Kreisen. Mancher hat sie sich zum Hobby gemacht.[zitat]Ein Duell, fährt Maupassant fort, ist der Schutzschild für alle Verdächtigen: Die Windigen, die Zwielichtigen und die Kompromittierten versuchen, sich damit eine wohlfeile neue Unschuld zu erkaufen. S. 53[/zitat]
Ganz konsequent war Maupassant aber auch nicht und ich finde es schön, wie Barnes den Zeitgenossen immer wieder den Finger in die Wunde legt und Schwächen aufdeckt. Der Grund für Duelle war meist lächerlich, die Austragung selbst lebensgefährlich, wie viele Beispiele zeigen. In England war das Duell schon in den 1830er Jahren aus der Mode gekommen.
Maupassant ist der Aufhänger für das nächste eingeschobene Thema:
London.
Die Stadt scheint auf Franzosen abstoßend zu wirken. Die Industrialisierung dürfte dort weiter fortgeschritten sein, was den Dreck, Nebel, "Anbetung des Mammons" erklärt.
Dieser Auflug tangiert wieder das übergeordnete Thema der Unterschiedlichkeit zwischen Frankreich und England.
Pozzi war derweil "überall", auch er kam um ein Duell nicht herum, das ihm die Hand verletzte. "Damit war der Ehre und der Dummheit Genüge getan". Durch
eine zweite Kugel wird die Geburt des berühmten Marcel Proust ausgelöst
Pozzi ist ein Verfechter wissenschaftlichen Arbeitens. Er setzt sich nachhaltig für bessere hygienische Bedingungen bei Operationen ein. Bei einer Konferenz lernt er Joseph Lister kennen und überführt dessen Methode nach Frankreich. Ich bin kein Mediziner, empfand die Ausführungen hierzu aber erneut spannend erzählt.
Mit seinem Pastoren-Vater muss er sich zwangsläufig überwerfen, beide schreiben je ein Buch, dessen Weltanschauungen diametral zueinander stehen (göttliche Wahrheit versus wissenschaftliche Wahrheit). Wir lasen zuvor ja schon, dass der Vater nicht an der Hochzeit des Sohnes teilnahm.
Dem
Dandy gelten weitreichende Ausführungen. Klassenzugehörigkeit, Kleidung, Snobismus, Extravaganz, Oberflächlichkeit, Vermögen, Dekadenz - all das sind Charakteristika. Viele waren homosexuell, verkleideten sich gern (Fotos). "Der Dandy ist ein Dekorateur".
[zitat]Der (nichtskandalöse) Homosexuelle war in der Pariser Gesellschaft willkommen. Die Lesbe sogar noch mehr. S. 71[/zitat] Das hat mich nun überrascht.
Ein weiterer kleiner Ausflug handelt vom
Geschmack, der in bereits angerissenen Betrachtungen über "Die Engländerinnen" mündet. Sie gehen spazieren - höchst verdächtig
!
Schönheitsdefinitionen schließen sich an.
[zitat]Das Dandytum sei nach Wilde ein Versuch, die absolute Modernität der Schönheit zu bezeugen. S. 76[/zitat]
Haben wir im ersten Abschnitt schon über unterschiedliche Ansichten zur Ehe erfahren, wird nun ein konkreter Bezug zu Pozzi sichtbar: Offensichtlich hat er eine romantische Definition der Ehe (untypisch für Franzosen) und fühlt sich von seiner Frau nicht richtig geliebt, die offenbar die Ehe eher als praktischen Stand versteht. Allerdings bekommen wir nur Samuels Perspektive mitgeteilt. Therese würde das Problem naturgemäß anders beurteilen...
[zitat]Dreißig Jahre lang lebten sie in öffentlicher Ehe und ertrugen privaten Klatsch. S. 82[/zitat]
Jean Lorrain (Paul Duval) ist ein skandalträchtiger Dandy der schlimmen Sorte, die Ausführugen schrecken mich regelrecht ab (wenn ich sie auch höchst neugierig gelesen habe. Skandale sind immer eine spannende Sache
). Trotzdem wird er einer von Pozzis engsten Freunden.
[zitat]Drei Menschen gegenüber blieb der streitsüchtige Lorrain immer loyal (oder so loyal, wie er eben konnte): seiner Mutter, Edmond de Goncourt und Dr. Pozzi. S. 88[/zitat]
Die Tagebücher der
Goncourts - wieder eine höchst interessante Geschichte mit Bezug zum wichtigsten französischen Literaturpreis (ich habe einen Link dazu gepostet).
[zitat]Unser Bemühen richtet sich darauf, der Nachwelt ein getreuliches, lebendiges Bild von unseren Zeitgenossen zu hinterlassen. S. 90[/zitat]
Das scheint den Brüdern gelungen zu sein: Die Tagebücher sind heute noch erhältlich.