2. Leseabschnitt: Seite 42 bis 82 (Ende)

wal.li

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1. Mai 2014
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Hm, den Anwalt kann ich schon verstehen. Irgendwie wirkt Bartleby unsympathisch und dann tut er einem wieder leid. Hat er Depressionen? Ist er am Ende so antriebslos, dass er sich zu Tode hungert? Ich glaube, nach ihren Maßstäben hat der Anwalt das getan, was ihm möglich schien. Bartleby hat die Hilfe nicht angenommen. Ich weiß garnicht, was heutzutage passieren würde, wenn einer so direkt die Arbeit verweigert. Man kann nur hoffen, dass so einem Menschen Hilfe zuteil wird, sicher ist das aber nicht.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Im zweiten Teil wird der Erzähler-Anwalt dann doch endlich etwas aktiv. Allerdings setzt er nicht Bartleby vor die Tür, sondern sucht sich/seiner Kanzlei eine neue Bleibe. Das ist schon ziemlich schräg. Und zudem: es hilft auch nichts, denn auch dort holt ihn der störrisch-verharrende Bartleby ein. Denn die Nachmieter wissen sich wohl ebenfalls nicht zu helfen und verlangen Hilfe von dem Exmieter. Doch dann, irgendwNn, holt man doch die eigentlich verantwortlichen, die Polizei, zu Hilfe. Und auch in deren Obhut verharrt Bartleby in der Totalverweigerung, was letztlich zu seinem wohl selbstbestimmten Tod führt.
 
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Christian1977

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8. Oktober 2021
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Mich hat die Steigerung der Erzählung bis ins Groteske hinein überrascht. Zudem erhält das Buch einen so tragischen Unterton, dass man sich an die durchaus humorvollen Momente der ersten Hälfte am Ende kaum noch erinnert.

Genau wie der Ich-Erzähler halte ich Bartleby für eine bemerkenswerte Figur. Ein Mensch, der sich seine totale Verweigerungshaltung bis in den Tod bewahrt. Eine Figur als Gegenteil einer Ja-Sager-Gesellschaft, die man gerade im Berufsleben recht häufig findet. Vielleicht sogar eine Art Anti-Kapitalist ohne festen Wohnsitz, ohne gesellschaftliche oder kulturelle Interessen, ohne Freunde. Ich finde sogar, dass die Erzählung zeitlos ist und auch in der Aktualität so erzählt werden könnte, vielleicht sogar noch extremer.

Ein Mann, der sich der Leistungsgesellschaft, wie wir sie kennen, total entsagt und einfach alles verneint.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Im zweiten Teil wird der Erzähler-Anwalt dann doch endlich etwas aktiv. Allerdings setzt er nicht Bartleby vor die Tür, sondern sucht sich/seiner Kanzlei eine neue Bleibe. Das ist schon ziemlich schräg. Und zudem: es hilft auch nichts, denn auch dort holt ihn der störrisch-verharrende Bartleby ein. Denn die Nachmieter wissen sich wohl ebenfalls nicht zu helfen und verlangen Hilfe von dem Exmieter. Doch dann, irgendwNn, holt man doch die eigentlich verantwortlichen, die Polizei, zu Hilfe. Und auch in deren Obhut verharrt Bartleby in der Totalverweigerung, was letztlich zu seinem wohl selbstbestimmten Tod führt.
Bei dieser Stelle musste ich an einen Film denken, den ich vor einiger Zeit gesehen habe. Es ging darin um einen Jugendlichen, der ein (in letzter Zeit quasi in Mode gekommenes) irres Verhalten an den Tag legt: er verlässt sein Zimmer nicht mehr, surft nur noch im Internet. Die Mutter steht rufend und flehend vor der Tür. In Japan ist das bei Jungs anscheinend nicht selten, man nennt die Betroffenen "hikokomori". In dem genannten Film ist die Familie am Ende ausgezogen. Die Wohnung wurde geleert, die Mutter stand vor der Zimmertür des Sohns und rief: "Also ich geh jetzt!"

Ich kann den Anwalt ganz gut verstehen. Es ist immer schwierig, standhaftem passiven Widerstand etwas entgegenzusetzen. Was soll er sonst machen, außer die Polizei holen und Bartleby hinauswerfen lassen? Was er begreiflicherweise vermeiden möchte.
Der reglos in der Kanzlei herumstehende Bartleby, der auch in Phasen größter Hektik "lieber nicht möchte", erinnert auch an Kafkas Behördenphantasien. Dass der Anwalt Angst hat, Bartleby könne ihn überleben, hat mich sehr stark an eine ähnliche Situation bei Kafka erinnert. Bartleby ist eine sehr moderne oder vielmehr zeitlose Figur.
In meiner Melville-Autobiographie gibt es dazu ein paar sehr interessante Erörterungen. Ich werde später im "Fazit" was daraus zitieren.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Ich war von Anfang an fasziniert von diesem Werk, das hat sich im zweiten Abschnitt sogar noch verstärkt. Ich war sehr gespannt auf die Begründung, warum Bartleby sich verhält wie er es tut. Doch der Autor entlässt uns in Ungewissheit. Hat er uns am Leben eines Menschen teilhaben lassen der resigniert hat am System? Der seinen Posten verloren hat und für sich nun keine neuen Aufgaben mehr findet die ihn ausfüllen?
Obwohl es schon ein paar Jährchen her ist, das Melville diese Erzählung verfasst hat, hatte ich keine Probleme mit der Schreibweise, ich habe mich wohl gefühlt beim lesen, es hat großen Spaß gemacht.
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Man liest diese Erzählung wirklich in einem Rutsch weg! Bartleby ist und bleibt bis zum Ende ein Kuriosum. Was ist mit ihm los?
Der Anwalt ist wirklich ein ausgesprochener Menschenfreund. Er lässt sich ja tatsächlich von seinen Angestellten auf der Nase rumtanzen und weiß es auch. Dadurch, dass die Gehilfen nach (Kopier-)Leistung bezahlt werden, ist sein realer Verlust wohl auch überschaubar.

Bartleby wird mit seinem Stoizismus und seinem Schweigen zur Herausforderung. Herrlich herausgearbeitet werden die Gefühlsschwankungen des Anwalts im Umgang mit seinem "Problembären". Er zwingt sich zur Ruhe, zum Mitgefühl, zur Menschlichkeit. Trotzdem kann ich total verstehen, wie Bartleby zunehmend seine Gedanken bevölkert. Als Menschenfreund bietet er diesem sogar eine Wohnstatt in seiner eigenen Privatwohnung an. Hut ab!

Das Ende tragisch. Erstaunlich, wie großzügig sich der Erzähler verhält, um sein schlechtes Gewissen zu befrieden. Innerlich spürt er durchaus Verantwortung für den armen Knopf, der wohl tatsächlich eine Form geistiger Beeinträchtigung haben dürfte. Aufgerüttelt haben mich nochmal die Worte des Proviantmeisters: "Er ist bestimmt ein Fälscher!", weil der Anwalt so überzeugt von dessen Rechtschaffenheit war. Aber da kam nichts mehr. Bartleby strbt so einsam, wie er gelebt hat.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich fand es ja eine irre Idee, dass Bartleby womöglich nicht lesen kann, darauf wäre ich nie gekommen. Ein Analphabet, der sich mit Abschreiben (oder in seinem Fall eher Abmalen) beschäftigt - was für ein Gedanke! Der wäre es glatt wert, dass man darüber mal eine Geschichte schreibt.
 
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