2. Leseabschnitt: Seite 38 bis 85 (Ende)

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
querleserin.blogspot.com
Die Geschichte des Wiener Rechtsanwalts Dr. B.

Neugierig geworden sucht der Ich-Erzähler diesen Schachvirtuosen auf, der sich als Wiener Rechtsanwalt Dr. B. entpuppt, der "am selben Abend, da Schuschnigg seine Abdankung bekannt gab, und einen Tag, ehe Hitler in Wien einzog" (S.41), also am 11.3.1938 von der Gestapo verhaftet wird, da seine Kanzlei Kontakt zur Krone hatte und Vermögenswerte von Klöstern heimlich gesichert hat und er von einem Spion verraten wird. Er wird jedoch nicht in ein Konzentrationslager deportiert, sondern in einem Hotel in Isolationshaft genommen.

Die Novelle führt den Leser*innen an diesem Beispiel die perfide Grausamkeit des nationalsozialistischen Regimes vor Augen, der sich zum Nichtstun gezwungen und ohne soziale Kontakte allein in seinem Zimmer auf die Verhöre warten muss.

"Man tat uns nichts - man stellte uns nur in das vollkommene Nicht, denn bekanntlich erzeugt kein Ding auf Erden einen solchen Druck auf die menschliche Seele wie das Nichts." (43)

Dieses Nichts beginnt ihn innerlich zu zerstören, doch per Zufall gelingt es ihm vor einem Verhör ein Buch aus einem Mantel zu entwenden - "ein Schachrepititorium, eine Sammlung von hundertfünfzig Meisterpartien." (55)

Das, was Czentovic nicht gelingt, das Blindspielen, vermag Dr. B. und zunächst scheint es ein Segen für ihn zu sein. Dr. B. gelingt es zunächst mithilfe der Repitition berühmter Schachpartien den endlosen Verhören und der Einsamkeit zu entkommen. Indem er jedoch beginnt gegen sich selbst zu spielen, seine Persönlichkeit in ein "Ich Schwarz" und "Ich Weiß" (63) zu spalten, die imaginativ - ohne echtes Schachbrett - gegeneinander wetteifern und Züge antizipieren müssen, steigert er sich in eine Manie, bis hin zur "Schachvergiftung" (66), der er aus eigener Kraft nicht mehr entkommen kann.
Er muss in ein Krankenhaus und dem Arzt gelingt es, ihn in die Freiheit zu entlassen, so dass er sich jetzt auf dem Schiff befindet (Anfang der 40er Jahre?, die Novelle ist 1942 erschienen). Jener Arzt hat ihn auch davor gewarnt, wieder Schach zu spielen.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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In diesem Abschnitt wird ganz deutlich gemacht, dass Folter nicht nur bedeutet, körperlichen Misshandlungen ausgesetzt zu sein. Monatelange Isolation zerbricht einen Menschen. Kaum Kontakt nach außen ( außer in den Verhören oder bei der wortlosen Essensübergabe ), keinerlei Ablenkung durch irgendwelche Medien, nicht mal ein Blick ins Freie. So kann man nicht leben ohne daran kaputtzugehen. Womit beschäftigt man seinen Kopf?
Ich habe mal , zwischen Studium und Referendariat, drei Monate in einer Fabrik gearbeitet, als Prüfer allein ( ich will mich hier nicht mit dem Inhaftierten vergleichen). Dabei musste ich nur auf Zahlen schauen und diese vergleichen, war keine Tätigkeit, die einem intellektuell herausforderte. Ich wusste nicht mehr, womit ich mein Gehirn über Stunden hinweg beschäftigen könnte und war froh, über jedes Lied und Gedicht, das ich auswendig kannte.
Ich habe von Schach kaum eine Ahnung , stelle es mir wahnsinnig schwierig vor, das sich nur zu imaginieren. Ganz stark waren die Beschreibungen, wie dieser Dr. B. gegen sich selbst spielt. Dass man dabei verrückt wird, wenn man seine Persönlichkeit so aufspalten muss, wundert mich nicht.
Ich bin froh, „ Die Schachnovelle“ endlich gelesen zu haben, große Literatur.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Nun habe auch ich die kleine Novelle beendet. Der eigentliche Genuss liegt für mich im Text selbst, in den wunderbaren Formulierungen. Wie Zweig dieses Nichts beschreibt (man lebte wie ein Taucher unter der Glasglocke im schwarzen Ozean des Schweigens), die Verhöre, den beginnenden Wahnsinn, dem er zunächst mithilfe des Schachbüchleins entgehen kann - bis ihn die Zweiteilung seines Geistes dermaßen zu schaffen macht, dass er ins Hospital muss (Schachvergiftung - welch eine Vokabel!).

Eine Novelle, die den Nazi-Terror aufgreift. Dieses Mal die perfide, leise Folter. Terrorregime haben viele Möglichkeiten, Menschen zu brechen.

Diesen doch sehr ernsten Hintergrund verknüpft er mit dem Spiel der Könige, bei dem er zwei völlig verschiedene Charaktere aufeinander treffen lässt. Der dumpfe Weltmeister und der galante, bedachte Anwalt, um den man im Laufe der Partie Angst bekommt. Angst, dass er wieder dem Wahn verfällt...
Zum Glück kriegt er rechtzeitig die Kurve. Beide Spieler können das Gesicht wahren.

McConnor wird nur noch einmal kurz namentlich erwähnt. Im Grunde kann man die Novelle wohl in drei wesentliche Teile teilen.

Habt ihr das Nachwort auch gelesen? Brauchen wir einen eigenen Abschnitt dafür?
 

ThomasWien

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19. März 2021
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Wien
Die Novelle führt den Leser*innen an diesem Beispiel die perfide Grausamkeit des nationalsozialistischen Regimes vor Augen, der sich zum Nichtstun gezwungen und ohne soziale Kontakte allein in seinem Zimmer auf die Verhöre warten muss.
Das habe ich mir auch gedacht. Man denkt immer unweigerlich an KZ´s aber an eine Strafe die dich zum Nichtstun, zur absoluten Vereinsamung und wahrscheinlich zum Wahnsinn führt, daran habe ich noch nie gedacht, bzw. höre ich das erste Mal im nationalsozialistischen Kontext darüber.
Natürlich ist mir die Isolationshaft bekannt, aber eher in der neueren Zeit, wie z.B. Guantanamo etc..
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Als Dr B beginnt sich mit Schach zu beschäftigen, sah ich das erst sehr positiv. Es ist eine schreckliche Vorstellung so lange allein zu sein, ohne Reize, ohne Beschäftigung. Die Idee sich aus der Bettdecke ein Schachbrett zu ersinnen, die Brotkrümel zu Figuren zu formen, wirkte alles noch ansatzweise normal. Doch dann entwickelte sich der Wahn, durch die psychische Belastung der er ausgesetzt war.
Schade, dass wir nur vermuten können, wie sein weiteres Leben verläuft, nachdem er durch die Schachpartie mit dem Meister Czentovic einen Rückfall erlitt. Wird man solche Wunden überhaupt jemals gänzlich los? Oder reicht es den Auslöser, in dem Fall Schach, zu meiden?
Ich bin froh, mich doch noch an dieser Leserunde beteiligt zu haben. Ich hatte aus Zeitgründen lange überlegt
 
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Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Diesen doch sehr ernsten Hintergrund verknüpft er mit dem Spiel der Könige, bei dem er zwei völlig verschiedene Charaktere aufeinander treffen lässt. Der dumpfe Weltmeister und der galante, bedachte Anwalt, um den man im Laufe der Partie Angst bekommt. Angst, dass er wieder dem Wahn verfällt...
Zu Beginn dachte ich der Fokus liegt mehr bei Czentovic, doch über ihn gab es im Grunde nicht viel zu sagen, er ist so wie er ist. Durch ihn konnte Dr B allerdings der Versuchung nicht widerstehen und greift wieder zum Schach, und wir erfahren eine erschütternde Geschichte. Sehr originell gemacht wie ich finde
 

Xirxe

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19. Februar 2017
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Da gab es ein berühmtes Beispiel eines schizophrenen Mannes, der über Jahre hinweg wie ein Besessener malte, und zwar ausschließlich Katzen, und diese Katzengemälde wurden mit dem Fortschreiten seines psychischen Zerfalls immer abgedrehter. Am Ende sahen seine Katzengesichter aus wie irre Fetische, richtig gruselig.
Ganz ähnlich wie in diesem Fall, findet ihr nicht? Ein Zeichen, dass 'gesunde' Menschen eine gewisse Vielfalt an Anregungen benötigen. Das Krankheitsbild ist auch offiziell anerkannt. Trance- und Besessenheitszustände (ICD-10-Codierung F44.3) Laut Internationaler statistischer Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme werden damit psychische Störungen bezeichnet, bei denen ein „zeitweiliger Verlust der persönlichen Identität und der vollständigen Wahrnehmung der Umgebung auftritt“.

Beeindruckend finde ich auch die Sprache Zweigs. Man liest es, als wäre es gerade geschrieben und nicht schon vor 80 Jahren. Außergewöhnlich finde ich auch, wie tief er in diese Schachwelt eindringt, obwohl er zeit seines Lebens immer ein Dilettant in diesem Spiel blieb.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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, also am 11.3.1938 von der Gestapo verhaftet wird,

Was für ein Service, danke!

Ich bin froh, „ Die Schachnovelle“ endlich gelesen zu haben, große Literatur.

Ich hatte es mir nicht vorgenommen... aber bisher war mir auch nicht klar, worum es "eigentlich" im Buch geht. Ich hätte niemals gedacht, dass mich Schach so in den Bann ziehen kann.:)

Der eigentliche Genuss liegt für mich im Text selbst, in den wunderbaren Formulierungen.

Das, und die überaus spannenden Charakterbeschreibungen der beiden Hauptfiguren.

Doch dann entwickelte sich der Wahn, durch die psychische Belastung der er ausgesetzt war.

Ich fühlte mich auch ein wenig an die modernen Online-Spieler erinnert.
Zu Beginn dachte ich der Fokus liegt mehr bei Czentovic, doch über ihn gab es im Grunde nicht viel zu sagen, er ist so wie er ist. Durch ihn konnte Dr B allerdings der Versuchung nicht widerstehen und greift wieder zum Schach, und wir erfahren eine erschütternde Geschichte. Sehr originell gemacht wie ich finde

Ich war überrascht über die Gewichtung im Text. Über ein Drittel beschäftigt sich Zweig mit Czentovic, bevor er seine zweite Hautperson einführt. Ein Krimi könnte nicht spannender sein!
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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ch habe von Schach kaum eine Ahnung , stelle es mir wahnsinnig schwierig vor, das sich nur zu imaginieren. Ganz stark waren die Beschreibungen, wie dieser Dr. B. gegen sich selbst spielt. Dass man dabei verrückt wird, wenn man seine Persönlichkeit so aufspalten muss, wundert mich nicht.
Ich bin froh, „ Die Schachnovelle“ endlich gelesen zu haben, große Literatur.
Dem ist quasi nix hinzuzufügen. Außer, dass die Schachnovelle nun wohl einen Platz auf meiner ewigen Bestenliste erhält.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Schade, dass wir nur vermuten können, wie sein weiteres Leben verläuft, nachdem er durch die Schachpartie mit dem Meister Czentovic einen Rückfall erlitt.
Ich kann mir vorstellen, er hat es geschafft, der weiteren Versuchung zu widerstehen - so vehement wie er dann aufgestanden ist und die Partie beendet hat. Aber du hast recht: es ist schwer, solche (psychischen) Wunden zu überwinden oder zu vergessen.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Emswashed

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9. Mai 2020
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Ich frage mich (oder mir kam der Gedanke), ob das Buch nicht absichtlich dort platziert worden ist...
Darüber habe ich auch kurz nachgedacht, aber es wäre wohl eher kontraproduktiv gewesen. Vielmehr war ich darüber verwundert, warum keiner das Fehlen des Büchleins bemerkt und beanstandet hat.
Aber hey, es ist eine Novelle, da dürfen Dinge einfach auch mal so stehen gelassen werden.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich habe eben mal aus Neugier in den Wiki-Artikel geschaut.
Leute, wer von euch das noch nicht getan hat - es lohnt sich. Da gibt es nicht nur eine Illustration zu der Geschichte, die mir sehr gut gefällt, sondern auch ein Diagramm der Figurenstellung zu dem Zeitpunkt, als der Fremde sich einmischt.
Stefan Zweig selbst sei kein guter Schachspieler gewesen, heißt es da übrigens.