2. Leseabschnitt: S. 52 bis S. 104

kingofmusic

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2. Leseabschnitt: S. 52 bis S. 104; letzter Satz: "Das hab ich mein ganzes Leben lang gemacht."
 

GAIA

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Jetzt presche ich hier voran. Muss ich aber, da ich das große Bedürfnis verspüre dieses Buch endlich hinter mir lassen zu können. Zumindest schrie dieses Bedürfnis über weite Strecken dieses Leseabschnitts in mir auf.

Bis zu dem Moment, in dem die Protagonisten tatsächlich nach Auschwitz fahren, hat mich der Stil der Autorin, im unentwegten Hin- und Herspringen von einer Familienanekdote zur nächsten (egal wie unbedeutend) so unglaublich aufgeregt und gleichermaßen gelangweilt, dass ich das Buch bis dahin am liebsten abgebrochen hätte.

Die Dialoge stören mich massiv und ich habe mich gefragt: Warum? Ich kenne tatsächlich von der Autorin nur "Der Gott des Gemetzels" und dies auch nicht in der Bühnenfassung sondern in der grandiosen Verfilmung. Das ist aber meines Erachtens irrelevant, da auch der Film als Kammerspiel angelegt ist. Dort sind die Dialoge großartig pointiert. Und das liegt meiner Ansicht nach an genau diesem Kammerspiel-Szenario. Wir erlebten dort vier Menschen, die auf sich und die Gruppe gestellt sind, nicht so richtig aus der Situation herauskonnten und daraus entstand die Magie dieses Stücks. Nun ist es hier so, dass es in keinster Weise als Kammerspiel angelegt ist. Wir springen ständig. Und dadurch kommen mir weder die Protagonisten als Einzelfiguren noch die Familie als Ganzes nahe.

Dann geht jedoch der Trip nach Auschwitz los und hier passiert zwar immer noch nciht so richtig die Magie, die ich oben beschrieb und hoffte zu finden, aber zumindest gibt es zusammenhängendere Textpassagen, über die es sich meines Erachtens endlich mal lohnt genauer nachzudenken. Viele interessante Sätze habe ich mir auf diesen wenigen Seiten markiert. Und jetzt ärgert und freut es mich gleichzeitig, dass ich zuvor ein Interview mit der Autorin vor knapp vier Wochen in DIE ZEIT gelesen habe. Es freut mich, weil ich anhand des Buches versuchen kann nachzuvollziehen, was sie meint mit dem Gedanken: Es braucht mittlerweile nicht mehr die Gedänkstätten, die nicht mehr die Realität abbilden, sondern die jungen Generationen sollten statt im Tourismusparadies Auschwitz, in Büchern von den Gräuel lesen. (Nachvollziehen, nicht unbedingt zustimmen!). Gleichfalls ärgert es mich, das gelesen zu haben, denn nur so stelle ich mir überhaupt die Frage: Reicht es nicht eigentlich, von den Kratzern von Fingernägeln in den Gaskammern zu lesen, und davon schon eine Gänsehaut zu bekommen, muss man sie leibhaftig gesehen haben? Diese Frage wird aufgeworfen, ja. Aber ich hätte es nicht so konkret ohne das Interview rausgelesen aus dem Text.

Ich persönlich finde, es sollte beides geben. Es sollten KZs inklusive der Kratzer an den Wänden "konserviert" werden aber eben auch die entsprechende Literatur, Dokumentationen etc. "konsumiert" werden. Aber dazu bin ich auf die Diskussion hier gespannt.

So morbide das klingt, aber jetzt hoffe ich erst einmal, dass der Auschwitzbesuch der Geschwister nicht mit dem Anruf zum Zustand von Maurice ein Ende nimmt, sondern dass wir noch mehr von der/einer Familiendynamik und den Beobachtungen von Sean (Jean? nicht einmal das weiß ich noch) an diesem Ort mitbekommen.
 

Circlestones Books Blog

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Es ist eine laute, anstrengende Familie, Flughafen, Autofahrt, es ist immer Chaos und irgendwie sind sie alle bisher an ihrem Leben gescheitert oder zumindest verlief es nicht so, wie sie es sich vorgestellt haben. Am wenigsten wissen wir von Jean, Single, das typische mittlere Kind, gewohnt, zu seinem älteren Bruder aufzuschauen und gleichzeitig schon in der Kindheit beinahe übersehen zu werden. Die junge Frau Joséphine, noch unstet, wie ihr eigenes Leben verlaufen soll, viele Versuche bisher, die alles sehen will und zwar zusammen mit ihrem Vater, vor allem aber fotografiert. Serge jetzt, mit sechzig Jahren, über sich selbst "Er isst schnell und eklig. Er sucht nach sich selbst. Er braucht den Teufel zum Leben. Das bin ich." (Seite 81). Andererseits er als komische Figur beim Schuhkauf, man darf über ihn lachen, immer wieder. Ich bin gespannt, ob und was diese Reise nach Auschwitz bei den Geschwistern untereinander bewirkt. Ich stimme der Kritik er Autorin zu, an diesem Gedenktourismus. Hat sie diese Geschichte deshalb geschrieben, um dieses Thema neu zu beleuchten, von unterschiedlichen Seiten anzusehen? "In einer Welt, die sich an dem Wort "Gedenken" berauschte" (Seite 95) wollte die Familie, mit Ausnahme der jungen Joséphine, genau das nicht. Jean: "Es bedarf nur einer mentalen Anstrengung um die Vorstellung eines Todeslagers mit der Szenerie überinzubringen, durch die wir uns bewegen." Ich teile diese Aussagen, denn es sind Dialoge, die klar, aber ohne erhobenen Zeigefinger geschrieben werden, dazu die Auschwitz besuchenden Touristen in Shorts und geblümten Urlaubshemden, das ergriffene Schaudern beim Anblick der Wand, eine klare Sprache, die einfach die einzelnen Eindrücke an den einzelnen Besucherpunkten in Auschwitz beschreibt, teilweise beinahe komisch und gerade deshalb so beklemmend und böse. Aber genügt mir persönlich das, um dieses ganze Buch interessiert und überzeugt zu lesen? Noch bin ich nicht sicher, erst muss ich wissen, was noch kommt, ist es es Zustandsbericht unserer modernen Welt und Beziehungen, oder führt es Veränderungen der Geschwister und Tochter-Nichte Popper?
 
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kingofmusic

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Warum muss man an Orten des Schreckens fotografieren? Sprechen die Einrichtung, das Gelände etc. nicht für sich und formen "eigene" Fotos, die sich auf immer und ewig in unser Gedächtnis brennen?
Diese Frage habe ich mir gestellt, als ich die Szene(n) in Auschwitz in diesem Abschnitt gelesen habe. Versteht mich nicht falsch: wir MÜSSEN solche Orte bewahren, damit der Schrecken nicht verloren geht und es braucht auch immer und zu jeder Zeit Literatur zu diesem Thema. Aber bitte lasst uns aufhören, unsere Handys, Kameras etc. auf diese Dinge zu richten.
Ich habe (als ich vor knapp 3 Jahren in Bad Berka zur Reha war) in Buchenwald nicht ein einziges Foto gemacht - die Erinnerung an das Gelände, die großartige Ausstellung, die Schreie der ehemaligen Gefangenen - das alles hat sich in meinem Kopf eingebrannt, dass ich überhaupt keine (digitalen) Fotos brauche, um mich an diesen Ort erinnern zu können.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich bin ebenfalls der Ansicht, dass es diese Orte braucht. Doch wie verhält man sich dort. Photos oder sogar Selfies sind völlig unangemessen. Aber auch unsere Betroffenheit steht in keinem Verhältnis zu dem Leid derer, die dort inhaftiert waren oder umgebracht wurden.
Literatur zum Thema ist für mich wichtiger.
 

kingofmusic

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Die Dialoge stören mich massiv und ich habe mich gefragt: Warum?
Diese Frage habe ich mir auch oft gestellt :) .
Es braucht mittlerweile nicht mehr die Gedänkstätten, die nicht mehr die Realität abbilden,
Wie kommt die Autorin zu der Aussage? Natürlich bilden sie nicht die "heutige" Realität ab, aber sie sind realer Teil unserer Geschichte und ohne Archive, Museen und Gedenkstätten würde das unwiederbringlich verloren gehen.
Reicht es nicht eigentlich, von den Kratzern von Fingernägeln in den Gaskammern zu lesen, und davon schon eine Gänsehaut zu bekommen, muss man sie leibhaftig gesehen haben?
Nein, man kann sich erst "ein richtiges Bild" machen, wenn man die Orte leibhaftig gesehen hat. Meine Eindrücke aus Buchenwald helfen mir immer noch, Bilder hervorzurufen, wenn ich davon lese.
Ich persönlich finde, es sollte beides geben. Es sollten KZs inklusive der Kratzer an den Wänden "konserviert" werden aber eben auch die entsprechende Literatur, Dokumentationen etc. "konsumiert" werden.
Absolut meine Meinung!
 

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Warum muss man an Orten des Schreckens fotografieren? Sprechen die Einrichtung, das Gelände etc. nicht für sich und formen "eigene" Fotos, die sich auf immer und ewig in unser Gedächtnis brennen?
Ich denke, das hat mit der Generation "Selfie" zu tun. Für mich ist diese Kritik der Autorin (die ich teile) auch der Grund, warum sie diese Reise in ihre Geschichte schreibt. Wirklich bis heute tiefe, bleibende Bilder, Eindrücke, Gefühle hat bei mir persönlich der erste Besuch im Jüdischen Museum Berlin vor vielen Jahren hinterlassen, im Gegensatz zu Mauthausen.
 

RuLeka

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Nein, man kann sich erst "ein richtiges Bild" machen, wenn man die Orte leibhaftig gesehen hat
Was ist ein „ richtiges Bild“. Ich war noch nie in einem Vernichtungslager, habe aber unendlich viel darüber gelesen , sowohl fiktionale Literatur wie Augenzeugenberichte und Fachbücher.
Ich brauche den heutigen Ort nicht, um mir ein Bild zu machen.
 

RuLeka

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Gegruselt hat es mich schon bei Margots Bericht:
Ein Wettbewerb unter Schülern und der erste Preis ist eine Klassenreise nach Auschwitz!
Dann die Order des Lehrers, eine „ angemessene Haltung andachtsvollen Schmerzes“ einzunehmen. Ich verstehe den Lehrer, selbst Jude, der wollte, dass seine Schüler sich an einem solchen Ort nicht daneben zu benehmen. Trotzdem ist das eine seltsame Anordnung. Entweder die Jugendlichen sind darauf vorbereitet, dann werden sie sich schon richtig benehmen. zu viel Druck bewirkt eher das Gegenteil, wie man dann sehen kann.
 

kingofmusic

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Was ist ein „ richtiges Bild“. Ich war noch nie in einem Vernichtungslager, habe aber unendlich viel darüber gelesen , sowohl fiktionale Literatur wie Augenzeugenberichte und Fachbücher.
Ich brauche den heutigen Ort nicht, um mir ein Bild zu machen.
Hängt vielleicht von der Kraft der (persönlichen) bildlichen Vorstellung ab, ob man an solche Orte reisen muss oder ob die Bilder reichen, die das Kopfkino beim Lesen projiziert.
 

GAIA

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Wie kommt die Autorin zu der Aussage?
Wie ich das in den Interviews verstanden habe, ist ihre Meinung,... ehh nee... tatsächlich könnte ich nicht mal mehr ihre Argumentationskette (sofern es eine gab) aufrufen. Schau mal nach, ob du bei ZEIT online oder den entsprechenden Beitrag bei 3Sat Kulturzeit noch findest. Vielleicht erhellt es die Frage.

Zur allgemeinen Diskussion:
Da ich nicht weit weg von Buchenwald aufgewachsen bin, gehörte es bei uns zur Vorbereitung auf die Jugendweihe (neben anderen Terminen, wie z.B. eine öffentliche Gerichtsverhandlung besuchen, bei einer Bank vorstellig werden, damit das System „Geld“ erklärt wird, Gesundheitsamt mit genauem Verhütungsunterricht etc.) auch ganz selbstverständlich mit dazu, um“auf das Erwachsenenleben vorbereitet zu werden“, Buchenwald zu besuchen. Damals gab es dort, selbst unter uns Jugendlichen niemals so eine leichtfertige Stimmung, wie hier im Buch beschrieben. Da musste unser Betreuer gar keinen mahnenden Worte vorausschicken, alle waren von sich aus interessiert und ernst. Übrigens gab es ein solches vorbereitendes „Programm“ vor der Jugendweihe meines mittlerweile 18jährigen Neffens gar nicht mehr. Neuerdings kommt es nur noch darauf an, Geschenke (für was dann eigentlich?) abzusahnen und zu feiern...

Wenn damals noch Buchenwald 100 km vom Heimatort weg war, so lebe ich jetzt näher dran und sehe den Gedenkturm/Mahnmal bei gutem Wetter von meinem Dorf aus. Und tatsächlich immer wenn ich diesen Turm erkennen kann, denke ich an das KZ. Nie an den Wald, nie an den Hügel, nie an das nahe gelegene Weimar. So ein Besuch, neben den zusätzlichen Lektüren (da bin ich natürlich ganz bei @RuLeka ) haben sich eingebrannt.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Wenn damals noch Buchenwald 100 km vom Heimatort weg war, so lebe ich jetzt näher dran und sehe den Gedenkturm/Mahnmal bei gutem Wetter von meinem Dorf aus. Und tatsächlich immer wenn ich diesen Turm erkennen kann, denke ich an das KZ. Nie an den Wald, nie an den Hügel, nie an das nahe gelegene Weimar.
Wenn man so nah an einem solchen Ort wohnt, ist es selbstverständlich, dort auch hinzugehen. Das ständig vor Augen zu haben, ist auch eine beständige Mahnung.
Meine Assoziationen gingen da ebenfalls nur in eine Richtung.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Wie ich das in den Interviews verstanden habe, ist ihre Meinung,... ehh nee... tatsächlich könnte ich nicht mal mehr ihre Argumentationskette (sofern es eine gab) aufrufen. Schau mal nach, ob du bei ZEIT online oder den entsprechenden Beitrag bei 3Sat Kulturzeit noch findest. Vielleicht erhellt es die Frage.
Danke! :cool:
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Damals gab es dort, selbst unter uns Jugendlichen niemals so eine leichtfertige Stimmung, wie hier im Buch beschrieben. Da musste unser Betreuer gar keinen mahnenden Worte vorausschicken, alle waren von sich aus interessiert und ernst.
Da hatte die Jugend der DDR (ich gehe davon aus, dass es bei dir noch zu DDR-Zeiten war ;)) "unserer" scheinbar was voraus. Wobei es wahrscheinlich (wie überall) dort und dort beide "Personengruppen" sprich: die Ernsten und die Kasperköppe gab.
 

GAIA

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Da hatte die Jugend der DDR (ich gehe davon aus, dass es bei dir noch zu DDR-Zeiten war ;)) "unserer" scheinbar was voraus. Wobei es wahrscheinlich (wie überall) dort und dort beide "Personengruppen" sprich: die Ernsten und die Kasperköppe gab.
Tatsächlich bin ich in der DDR geboren aber die Jugendweihe und der Besuch fand dann schon Ende der 90er/Anfang 2000 statt. ;)

Und mir ist noch eingefallen: Auch mein Neffe war dann mit 15 (? oder so) mit der Schule bei der Gedenkstätte. Tatsächlich hat er auch ganz betroffen, als er dann das nächste Mal bei uns im Dorf zu Besuch war, gefragt, ob das das Buchenwald-Denkmal sei, was man dort sehe. Und auch aus seiner Erzählung hörte ich in keinster Weise raus, dass "die heutige Jugend" weniger ernsthaft mit dem Thema umgeht. (sicherlich gibt es eben die einen und die anderen)
Zwei, drei Jahre zuvor waren wir mit ihm in Weimar Mittagessen. Wir parken immer in derselben Straße, wenn wir in Weimar sind, in dieser liegt auch ein alter jüdischer Friedhof (winzig, es sind nur ca. 10 Grabsteine erhalten). Jedenfalls kamen wir dort vorbei, er las von sich aus die alte kaum lesbare - aus DDR-Zeiten stammende - Tafel am Friedhofseingang, zum "Gedenken an die Reichsprogromnacht". Darauf entspann sich mit diesem 12 oder 13jährigen Jungen ein Gespräch über die 25minütige Rückfahrt hinweg darüber, was damals dazu hat führen können, was passiert ist, wer die Leute von der AfD heute sind, die zu der Zeit schon ihre "Montagsspaziergänge/-demos" in den Kleinstädten Ostdeutschlands durchführten und warum dies alles so gefährlich ist.
Kurzum: Gedenkstätten und selbst Gedenktafeln sind verdammt nochmal wichtig. Daraus entspinnen sich im Zweifel kleine Gespräche. Und bis jetzt sind wir mit meinem Neffen, dessen Schulkameraden und deren Eltern, sogar der Direktor des Gymnasiums, größtenteils rechts einzuordnen sind, immer im Kontakt geblieben zu diesen Themen. Und ich möchte nicht ohne Stolz behaupten, dass dieser offene Umgang mit den Themen dazu geführt habt, dass er eben nicht nach rechts ausschlägt, obwohl es mit Blick auf das Umfeld der einfachere Weg wäre einfach nur mitzulaufen.
 

RuLeka

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Kurzum: Gedenkstätten und selbst Gedenktafeln sind verdammt nochmal wichtig. Daraus entspinnen sich im Zweifel kleine Gespräche. Und bis jetzt sind wir mit meinem Neffen, dessen Schulkameraden und deren Eltern, sogar der Direktor des Gymnasiums, größtenteils rechts einzuordnen sind, immer im Kontakt geblieben zu diesen Themen. Und ich möchte nicht ohne Stolz behaupten, dass dieser offene Umgang mit den Themen dazu geführt habt, dass er eben nicht nach rechts ausschlägt, obwohl es mit Blick auf das Umfeld der einfachere Weg wäre einfach nur mitzulaufen.
Dein Beispiel zeigt, dass Gedenkstätten und Gedenktafeln nicht per se funktionieren. Sie müssen in einen Kontext gestellt werden und es braucht Menschen, die die Vermittlung übernehmen. So wie ihr!
 

ulrikerabe

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Reicht es nicht eigentlich, von den Kratzern von Fingernägeln in den Gaskammern zu lesen, und davon schon eine Gänsehaut zu bekommen, muss man sie leibhaftig gesehen haben? Diese Frage wird aufgeworfen, ja. Aber ich hätte es nicht so konkret ohne das Interview rausgelesen aus dem Text.
Warum muss man an Orten des Schreckens fotografieren? Sprechen die Einrichtung, das Gelände etc. nicht für sich und formen "eigene" Fotos, die sich auf immer und ewig in unser Gedächtnis brennen?
Ich kenne das Interview nicht, aber diese Intention der Autorin war für mich schon ganz klar erkennbar.

Ich kann es mir für mich nicht vorstellen überhaupt Auschwitz oder ein anderes KZ zu besichtigen. Alles was ich an Dokumentationen oder Literatur dazu kenne konnte in mir so ein Grauen und Unbehagen erzeugen. Ich glaube ich könnte dort nicht sein, schon gar nicht als Teil einer touristischen Masse.

Ich war vor einigen Jahren bei einem Berlinbesuch beim Denkmal der ermordeten Juden Europas und fand mich nicht nur unendlich verloren zwischen diesen Steinen sondern auch regelrecht angewidert von den Menschen, die auf den Blöcken herumklettern wollte, sich darauf sonnten....
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Das kann ich für mich auch so unterschreiben.
 

Barbara62

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Ich bin ebenfalls der Ansicht, dass es diese Orte braucht. Doch wie verhält man sich dort. Photos oder sogar Selfies sind völlig unangemessen. Aber auch unsere Betroffenheit steht in keinem Verhältnis zu dem Leid derer, die dort inhaftiert waren oder umgebracht wurden.
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Beim Selfie gebe ich dir recht. Aber sollten wir nicht dem, der die Bilder zu brauchen scheint, die Möglichkeit lassen? Ich brauche sie nicht, aber jeder geht anders mit dem Grauen um: Der eine besucht KZs, der andere nicht, der eine liest darüber, der andere nicht, der eine braucht seine Bilder, der andere nicht... Hauptsache, jede/r beschäftigt sich irgendwann damit.

Da hatte die Jugend der DDR (ich gehe davon aus, dass es bei dir noch zu DDR-Zeiten war ;)) "unserer" scheinbar was voraus. Wobei es wahrscheinlich (wie überall) dort und dort beide "Personengruppen" sprich: die Ernsten und die Kasperköppe gab.
Bei meinen Töchtern gehörte ein Besuch in Dachau in der 10. Klasse zum Muss-Programm.
 
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Barbara62

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Im Gegensatz zu euch mag ich auch die Familienszenen und die Dialoge. Sicher, es ist nichts Weltbewegendes, aber der Umgang der Geschwister miteinander, ihre Probleme mit den Kindern und ihr Scheitern ab und zu kommt mir sehr realistisch vor. Jean beschönigt beim Erzählen nichts. So sehr sich die Geschwister kappeln, so sehr hängen sie doch auch aneinander und sind zur Not für einander da. Als Serge bei Valentina hinausfliegt (eine filmreife Szene!) schlüpft er selbstverständlich bei Jean unter, und als er schnell eine möblierte Wohnung findet, ist Jean fast enttäuscht.

Ich mag weiterhin auch den Humor. Als es um Maurices Fahrkünste ging, hatte das einen gewissen Wiedererkennungswert für mich und ich musste es spontan meinem Mann vorlesen. Wer kennt das nicht von der eigenen alten Verwandtschaft? Die Szene im Schuhladen zeigt in meinen Augen, was die Familie verbindet: Ein gemeinsamer Geschichtenfundus, wie ihn wohl jede Familie hat, und das gemeinsame Lachen über Altbekanntes.

Sehr gut gefallen hat mir auch die Beschreibung, wie Nana sich Ramos ertrotzt. Eine herrliche Formulierung nach dem Tod des Vaters, als Ramos wieder auf den Plan tritt und endlich freie Bahn hat: "...durch die große Tür des Trostes zurückkehren und ungehindert den Brautteppich ausrollen."

Bei der Szene in Auschwitz wird deutlich, dass jedes Familienmitglied die eigene Form der Betroffenheit auch von anderen erwartet. Joséphine bringt mit vielen Erläuterungen "Schwung" in die Mannschaft und erwartet von den anderen, dass sie sich genau dafür interessieren, Serge versucht sich zu drücken, was nicht akzeptiert wird. Vielleicht lässt er aber auch die Umgebung einfach auf sich wirken? Ich war vor drei Jahren in Ravensbrück. Zum Glück für uns war dort sehr wenig los. Wir haben vor allem geschwiegen, gelesen und die Atmosphäre inhaliert. Darüber sprechen konnten wir erst bei der Weiterfahrt. Eine Joséphine hätte ich nicht ertragen.