2. Leseabschnitt: Kapitel VIII bis XII (Seite 75 bis 146)

Die Häsin

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Rhönrand bei Fulda
Adrian erhält Klavierunterricht bei Wendell Kretzschmar, der in Kaisersaschern gelehrte Vorträge über entlegene Gebiete der Musik zu halten pflegt - in, wie der Erzähler anhand einiger Beispiele vorführt, sehr kenntnisreicher und begeisternder Weise, obwohl sich außer dem Erzähler und Adrian fast niemand dafür interessiert.
Nach Schulabschluss geht der Erzähler zum altsprachlichen Studium an die Universität Gießen, Leverkühn nimmt ein Theologiestudium in Halle auf - nicht, um Pfarrer zu werden, sondern er strebt eine Art Gelehrtenlaufbahn an. Der Erzähler ist erstaunt über diese Wahl, hält es sogar für wahrscheinlich, dass Leverkühn sie nicht eigentlich aus Neigung getroffen hat, sondern aus "Hochmut", womit intellektueller Hochmut gemeint ist; eine Eigenschaft, die er schon mehrmals an Leverkühn bemerkt hat. Es wird deutlich, dass Leverkühn praktisch jedem in seiner Umgebung geistig überlegen ist. Um seinem Freund nahe zu sein, wechselt auch Zeitblom zur Universität Halle. Die beiden besuchen einige Vorlesungen gemeinsam.

Zeitbloms Erzählung wird immer wieder unterbrochen von langen musiktheoretischen und philosophischen Gedankengängen, die immer in die Handlung eingebunden sind, aber mitunter seitenlang vom Faden seiner Erzählung wegführen, worauf er sich dann wieder für seine Langatmigkeit entschuldigt.
 

tinderness

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Wien und Wil
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Akademische Originale, wissenschaftliche Fabulierlust: Die in diesem Leseabschnitt vorgestellten Personen, Wendell Kretzschmar, Ehrenfried Kumpf und Eberhard Schleppfuss, allesamt akademische Lehrer von AL, sind wohl in jedem Fall als skurrile Persönlichkeiten anzusehen. Sie vertreten musiktheoretische und theologische Positionen in einer sehr artikulierten, wenn nicht gar exzentrisch zu nennenden Art. Man könnte sie auch als Angehörige eines geisteswissenschaftlichen Panoptikums beschreiben, zu dem sich der Erzähler hier schreibend hinreissen lässt. Zu viel Quellenstudium des Autors? Zu viel Verlieren in geisteswissenschaftliche Details, zu viel damit verbundene akademische Präpotenz? Ausgeprägte Liebe zum Exaltierten? Diese kritischen Fragen an den Autor drängen sich beim Lesen dieser Kapitel immer wieder auf. Ob man als Leser den Ausführungen nun mit grosser Mühe oder grossem Vergnügen zu folgen vermag - kritikwürdig ist die wissenschaftstheoretische Fabulierlust des Autors schon. In manchen Passagen ist tatsächlich das Spezialistentum eines Theologen oder Musikers gefragt, um die Texte in ihrem Detailreichtum verstehen zu können. Da darf man gerne vor des Autors Belesenheit kapitulieren und ihn als Zumutung ertragen. Aber will man der Zumutung eigentlich folgen und wohin mag das eigentlich führen? Lesen wir nun einen Roman oder eine spekulative wissenschaftliche Abhandlung?
Was jedenfalls bleibt ist die Eindrücklichkeit, mit der diese Charaktere als (zum Teil intellektuell fehlgeleitete) Individuen hervortreten. Sie sind Originale, die erzähltechnisch das "intellektuelle Hintergrundrauschen" zur Entwicklung AL und SZ abgeben; dabei wird vom Erzähler eine Art universärer Persönlichkeitskult betrieben, welcher dem gegenwärtigen Universitätsleben Gottseidank sehr fremd geworden ist. Ob dieses "Hintergrundrauschen" in allen Fällen dem Roman gutgetan hat oder nicht, ob das sich Verlieren in den wissenschaftlichen Diskurs nicht einer gewissen Borniertheit eines alternden Autors entspricht? Ich jedenfalls traue dem hier vorgeführten Zauber nicht ganz und bleibe skeptisch, gerade weil ich es zulasse, tief beeindruckt zu sein.

Manchmal macht das theoretische Brimborium jedoch für den Roman durchaus Sinn, wenn etwa (theologisch) die Abhängigkeit des Guten vom Bösen (und umgekehrt) durchkonjugiert wird. Die in die Dämonologie verkehrte Theologie des E. Schleppfuss hat in jedem Fall ihre erzähltechnische Berechtigung. So bleibt letzten Endes die Fragen im Raum stehen: Welche Macht und welchen Einfluss hat der Teufel, das Dämonische und Böse in dieser Welt und in welchen Verkleidungen mögen sie erscheinen? Wir wollen gerne annehmen, dass uns diese Fragen weiter begleiten werden. Nicht umsonst heisst der Roman Dr. Faustus.
 
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Die Häsin

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Schleppfuß gehört schon in den nächsten LA, jedenfalls bei mir ...

Kumpf macht mit seiner irgendwie parodistischen Teufelsauffassung noch einen herzhaften, freundlichen Eindruck (seine Flüche erinnerten mich an eines meiner Lieblingsbücher, den historisch-phantastischen Roman "Die dritte Kugel" von Leo Perutz, in dem auch "dass dich Potz Hur schänd" oder "dass dich Potz Velten schlag" geflucht wird). Schleppfuß, schon der Name legt es nahe, macht einen wirklich teuflischen Eindruck, vielleicht weil es so aussieht, als wolle er die Foltermethoden der Inquisition gern wieder eingeführt sehen. Ganz abgesehen von seinem Frauenbild. Das ist natürlich bisher ganz allgemein nicht das feinste.

Edit: Das, was Thomas Mann im übrigen hier macht - " Zu viel Verlieren in geisteswissenschaftliche Details, zu viel damit verbundene akademische Präpotenz?" - das würde ihm wohl heute kaum ein Verlag durchgehen lassen. Im Neudeutsch heißt das Infodump, wenn der Autor uns sein Wissen auf entlegenen Gebieten vorführt, ohne dass das wirklich zum Fortgang der Handlung beiträgt. Dass jede Figur, jede Szene, jeder Satz zum Fortgang der Handlung beitragen müsse, bzw. welchen Maßstab man da anzulegen hat, ist auch eher eine Erscheinung des modernen Literaturbetriebs, glaube ich. Genauso wie dieses unsägliche, immer wieder verbreitete "show, don't tell" ...
 
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Emswashed

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9. Mai 2020
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Das habt ihr @Die Häsin @tinderness sehr diplomatisch und feinsinnig ausgesprochen, was TM uns da "zumutet".
Ich muss zugeben, meine Geduld war begrenzt, den theologischen Abschnitt habe ich quergelesen, dementsprechend wenig verstanden. Zeitbloms Erstaunen über Leverkühns Studienwahl hat mich irritiert. War das damals wirklich noch so, dass Theologie über Philosophie stand?

Ich warte ungeduldig darauf, dass mal "echt Aufregendes" passiert, denn dass Leverkühn ein Genie ist, das habe ich jetzt zu genüge verstanden.
 
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