2. Leseabschnitt: Kapitel 6 bis 13 (Seite 77 bis 147)

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Ich finde den Aufbau des Romans wirklich sehr gelungen. Vordergründig wird die Handlung durch das Fortschreiten der Verhandlung um Barbie bestimmt, aber eigentlich geht es um die Geschichte des Vaters und die Auseinandersetzung des Sohnes mit den Lügen seines Vaters. Das ist schon toll gemacht.

Tatsächlich lerne ich auch sehr viel zum historischen Hintergrund im besetzen Frankreich. Vielmehr als das, das es besetzt war, es Kollaborateure und die Resistance unter Vichy gab, wusste ich nicht. [Außer den Fakt, dass de Gaulle Truppen aus afrikanischen Kolonien hat kämpfen lassen, die nach der Befreiung dann aber nicht mal in Paris mitmarschieren durften, sondern in Lager gestopft wurden. (Hierzu empfehle ich wiederholt „Afropäisch“ von Johny Pitts!)]

Zum Vater bzw. dessen schamloses Verhalten fehlen mir die Worte. Man möchte Sorj entgegenrufen, er solle den Kerl links liegen lassen und ihm nicht mehr erlauben noch eine seiner Lügen zu verbreiten. Aber Sorj ist Journalist und das merkt man ihm an. Statt den Kontakt zum Vater abzubrechen oder zumindest zu reduzieren, will er von ihm die Wahrheit erfahren. Wie die Mutter all die Jahre mit diesem Menschen ausgekommen ist, ist ja fast eine Meisterleistung. Allgemein ist von ihr kaum etwas zu hören. Die Familie (inklusive Großvater) scheint sich um den dysfunktionalen Vater zu drehen.

Ich bin gespannt, ob es überhaupt „die eine Wahrheit“ um den Vater gibt, die wir erfahren werden. Vielleicht bleibt such vieles im Dunkeln, sofern sich der Vater einer ehrlichen Öffnung verweigert.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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62
Essen
Der 2. LA wird der Roman zu einem Gerichtsroman. Und bleibt doch dabei primär ein Roman über die Vaterbeziehung. Denn genial konstruiert schafft Chalandon hier eine parallele Gerichtshandlung. Während im historisch belegten Gerichtsverfahren gegen Klaus Barbie die Faktenermittlung stattfindet, findet parallel im Leben und in der Gedankenwelt des Erzählers das Gleiche zum Leben des eigenen Vaters statt. Und dann sitzt dieser Vater auch noch im Rückraum des Gerichtssaals und nimmt teil an der historischen Verhandlung. Seine Gefühlsregungen, Reaktionen oder auch die ausbleibenden Reaktionen auf das äußere Geschehen im Gerichtssaal verfließt so auf besonders eindrucksvolle Art mit der Ermittlung über sein Leben während der deutschen Besatzung.
Für mich als deutschen Leser dieses Romans ist besonders interessant und berührend, dass offensichtlich nicht nur wir als Kinder des 20. Jahrhunderts so viele meist unbeantwortete Fragen an unsere Eltern und Großeltern hatten. Sondern dass das auch ein Problem in einem damals angegriffenen Land wie Frankreich ist. Und hier steht diesem familiären Austausch über die in der Geschichte eingenommenen Rollen das Hindernis im Wege, dass zunächst einmal viel stärker als bei uns von einer Unschuld ausgegangen werden kann. Das (nicht nur das) drückt Chalandon sehr gelungen aus:
Als sich unsere Gruppe aufgelöst hatte, bevor sie in Gewalt versank, rechtfertigten die Genossen unsere Abdankung mit der ständig wiederholten Behauptung, dass wir im Gegensatz zu unseren deutschen, italienischen oder japanischen Genossen nichts wiedergutzumachen hätten. ... Die Resistance hätte unsere Vergangenheit gesühnt....
Aber dass das nicht so einfach ist und dass die Grenzen der Schuld und der Sühne sehr viel komplexer und komplizierter verlaufen, das führt uns Chalandon mit der Aufarbeitung und Spurensuche zur Geschichte des Vaters des Erzählers vor Augen. Auch wenn wir, wie er, (noch?) nicht ganz begreifen, wie die Schuld oder Unschuld des Vaters wirklich aussieht.
Dem nachzuspüren erweist sich als wesentlich komplizierter als das, was im Gericht abläuft: der Spurensuche nach der Schuld des Klaus Barbie. Und das ist ein Verfahren, das über Monate vor den augen der Öffentlichkeit läuft.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Vordergründig wird die Handlung durch das Fortschreiten der Verhandlung um Barbie bestimmt, aber eigentlich geht es um die Geschichte des Vaters und die Auseinandersetzung des Sohnes mit den Lügen seines Vaters.
Das habe ich auch so empfunden. Das Erstaunliche ist, dass Sorj für seine Reportage über den Barbie-Prozess sogar einen Preis erhalten hat. Dabei ist er die ganze Zeit in dieser emotionalen Extremsituation und durchaus abgelenkt.
Statt den Kontakt zum Vater abzubrechen oder zumindest zu reduzieren, will er von ihm die Wahrheit erfahren.
Ich vermute, dass das für ihn persönlich sehr wichtig ist. Für seine Selbstfindung und Rolle als Sohn.
Während im historisch belegten Gerichtsverfahren gegen Klaus Barbie die Faktenermittlung stattfindet, findet parallel im Leben und in der Gedankenwelt des Erzählers das Gleiche zum Leben des eigenen Vaters statt.
Genau, es sind eigentlich zwei ineinander geschachtelte Prozesse, die sich durch die Verbindung von Jean zu den Nazis untrennbar für Sorj verbinden. Vielleicht ein innerer und ein äußerer Prozess.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Mir gefällt der Roman nach wie vor auch sehr, obwohl ich das erste Kapitel weiterhin für das stärkste halte. Diese Vermischung der von mir oben angesprochenen zwei Prozesse finde ich klug und spannend konstruiert.

Zudem empfinde ich ihn wie @GAIA für sehr lehrreich in Bezug auf das besetzte Frankreich. Das Glossar ist diesbezüglich eine sehr gute Unterstützung.

Bemerkenswert finde ich, wie ehrlich und persönlich Sorj Chalandon schreibt. Die Gewalt gegen den eigenen Vater, seine Nachforschungen. Irgendwo schreibt der Verlag was von monströs und schmerzhaft. Und schmerzhaft ist in meinen Augen der passende Begriff. Für Sorj natürlich in allererster Linie, aber ihm gelingt es, diesen Schmerz auf die Leser zu übertragen. Zumindest wirkt es auf mich so.

Das Kapitel 12 habe ich als etwas zu detailliert empfunden. Diese haarkleinen Schritte des Vaters haben für die neutrale Leserschaft vielleicht nicht eine ganz so große Bedeutung. Für Sorj selbstverständlich schon, deswegen kann ich die Vorgehensweise nachvollziehen.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Das Glossar ist diesbezüglich eine sehr gute Unterstützung.
Es gibt ein Glossar??! :apenosee Mal wieder hab ich das nicht bemerkt... so viel zum Thema „Begriffe im Text kenntlich machen, die im Glossar erklärt werden“. Oder hab ich es einfach nicht gesehen, dass sie kursiv gestellt sind? Erst bei meiner vorherigen Lektüre

habe ich mich sehr über die hochgestellten Ziffern gefreut, die die Begriffe des Glossars markieren. Übrigens geht es in dem Buch um eine alte Dame, die als Kind von ihrer Mutter während des Krieges als 4Jährige bei einer französischen Familie gelassen wurde. Die Mutter überlebte nicht, die Protagonistin nur aufgrund der Hilfe des jungen Ehepaars. Vor ihrem eigenen Tod, will sie sich nun noch bedanken bei diesem Ehepaar. Also ein direkter Bezug zur Geschichte des Kinderheims zu Beginn des vorliegenden Buches!
 

Lesehorizont

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29. März 2022
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Mainz
Ich finde den Aufbau des Romans wirklich sehr gelungen. Vordergründig wird die Handlung durch das Fortschreiten der Verhandlung um Barbie bestimmt, aber eigentlich geht es um die Geschichte des Vaters und die Auseinandersetzung des Sohnes mit den Lügen seines Vaters. Das ist schon toll gemacht
Ganz gdnau so sehe ich das auch. Finde ich eine tolle und bislang sehr gelungene Konstruktion.
Ich vermute, dass das für ihn persönlich sehr wichtig ist. Für seine Selbstfindung und Rolle als Sohn
Genau. Hier ist das interessante, dass nicht nur die Kinder von Opfern leiden und in ihrer Identität irritiert sind, sondern ebenso Kinder von Tätern.
 

Lesehorizont

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29. März 2022
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Auch der zweite Abschnitt hat mir gut gefallen. Wie Gaia zutreffend anmerkt, haben wir hier einen doppelten Gerichtsprozess. Ich bin gespannt, wie diese ausgehen werden und rechne mit einer Diskrepanz.
Auch mir gefällt, dass wir hier im Roman Einiges über Frankreich und dessen Rolle im düsteren Kapitel europäischer Geschichte erfahren.
Wenn und insofern die Geschichte auf wahren Gegebenheiten beruht ( und so verstehe ich es), ist es eine große Leistung von Chalandon, sich der heiklen Thematik mit der gebührenden Distanz anzunehmen.
Sehr gerne werde ich weiter lesen...
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Wie die Mutter all die Jahre mit diesem Menschen ausgekommen ist, ist ja fast eine Meisterleistung
Dazu S. 28 „ Dass er sie auch misshandelte, erfuhr ich erst lange nach seinem Tod.“. Das passt zum Bild, das wir bisher von ihm haben.
Dabei ist er die ganze Zeit in dieser emotionalen Extremsituation
Vielleicht machte ihn das sensibler für Zwischentöne.

Dieser Barbie weist für mich auch Parallelen zum Vater aus: dieses verächtliche „ Ihr könnt mir garnichts“, das mit den Identitäten spielen usw.
Chalandon greift bei diesem Prozess auch ein bekanntes Phänomen auf: die Masse interessiert sich für den Täter, erliegt dem Faszinosum des Bösen. Die Opfer sind zweitrangig in der öffentlichen Aufmerksamkeit.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Dazu S. 28 „ Dass er sie auch misshandelte, erfuhr ich erst lange nach seinem Tod.“. Das passt zum Bild, das wir bisher von ihm haben.
Achso, ich dachte, da geht es um den Großvater. Habe gerade nicht das Buch zur Hand, um noch einmal nachzuschlagen. Aber, dass der Vater auch die Mutter misshandelte, kann ich mir ebenso gut vorstellen!
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Ja, Du hast recht. Vielleicht sollte ich erst wieder mitdiskutieren, wenn ich einen klaren Kopf habe.
Ach, so lange wir mit gemeinsamen Kräften durchblicken, ist das doch nicht schlimm. ;)
Ich wurde kürzlich in einer LR gegen Ende des Buches überrascht, dass ein Paar als „Ende 20, Anfang 30“ beschrieben wurde. Hatte sie mir immer als mind. 45+ vorgestellt. Die Mitleser:innen klärten mich auf, dass schon einmal auf Seite 10 gesagt wurde, wie alt die Protagonisten sind... :oops:
 

Barbara62

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19. März 2020
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Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Ich bin gespannt, ob es überhaupt „die eine Wahrheit“ um den Vater gibt, die wir erfahren werden. Vielleicht bleibt such vieles im Dunkeln, sofern sich der Vater einer ehrlichen Öffnung verweigert.
Der Vater hat im Laufe seines Lebens so viele Lügengeschichten erzählt, wer weiß, ob er selbst noch durchblickt. Außerdem scheint er sich in Büchern über Abläufe informiert zu haben, was sicher dazu führt, dass er Gelesenes und Erlebtes allmählich vermischt. Dazu ist er ein notorischer Hochstapler und Lügner. Ich glaube deshalb nicht, dass sich sein Leben lückenlos rekonstruieren lässt.

Das Glossar ist diesbezüglich eine sehr gute Unterstützung.
Danke für den Hinweis, das hatte ich noch gar nicht entdeckt. o_O

Da musste ich an Anders Breivik und dessen Prozess denken. Hierzu will ich unbedingt noch

lesen. Das Buch soll ja gerade besonderes Augenmerk auf die Opfer lenken.
Unbedingt lesen! Es ist großartig, aber kaum auszuhalten, vor allem am Beginn.
 

Barbara62

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19. März 2020
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Baden-Württemberg
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Dass ich hier langsam lese, liegt ausnahmsweise weniger an der Zeitknappheit, die auch besteht, sondern hauptsächlich daran, dass ich die Lektüre nur häppchenweise ertrage. Der doppelte Prozess nimmt mich emotional sehr mit, vor allem wegen der direkten Betroffenheit des Autors. Ich bin sehr dicht dabei.

Verkehrte Welt, dass nun der Sohn sich als Verräter fühlt, weil er dem Vater und seiner Vergangenheit nachspioniert. Er hat Schuldgefühle, gleichzeitig ist er überzeugt, dass der Vater ihm die Wahrheit schuldet. Gar keine so leichte Frage, ob die Eltern uns grundsätzlich Rechenschaft über ihr Leben schulden.

In meiner Stadt gibt es ein Staatsarchiv, in dem ich ohne Beschränkungen die Kriegsgeschichte jedes Soldaten (nur aus Baden-Württemberg? Ich weiß es nicht mehr...) einsehen könnte, also beispielsweise auch die meines Großvaters, der über seine Kriegserlebnisse zeitlebens nur mit seinem Bruder gesprochen hat. Ich schrecke davor zurück, werde es nicht tun, obwohl es keinerlei Hinweis gibt, dass etwas Schlimmes dabei herauskommen könnte. Trotzdem hält mich irgendetwas davon ab. Ich kann diese Schuldgefühle deshalb nachvollziehen.
 

Barbara62

Bekanntes Mitglied
19. März 2020
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Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Es ist etwas missverständlich ausgedrückt, aber ich würde auch sagen, dass der Großvater gemeint ist. Habe es gerade noch einmal nachgelesen.
Da der Großvater im Großen und Ganzen eher sympathisch geschildert wird, hat mich das überrascht. Andererseits heißt es ja, dass der Vater aus einer Familie von Säufern stammt. Vor allem scheint die früh verstorbene Großmutter getrunken zu haben, aber der Großvater vielleicht auch? Vielleicht hat er auch seine erste Frau schon misshandelt und sie hat deshalb getrunken? Keine geborgene Kindheit des Vaters auf jeden Fall.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Dass ich hier langsam lese, liegt ausnahmsweise weniger an der Zeitknappheit, die auch besteht, sondern hauptsächlich daran, dass ich die Lektüre nur häppchenweise ertrage. Der doppelte Prozess nimmt mich emotional sehr mit, vor allem wegen der direkten Betroffenheit des Autors. Ich bin sehr dicht dabei.
So geht es mir auch :cool:.
 
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