2. Leseabschnitt: Kapitel 5 bis 9 (Seite 71 bis 148)

Literaturhexle

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2. April 2017
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Herrlich! Fast jedes Kapitel endet mit einer kleinen Überraschung oder einem Cliffhanger.

Nun sind also die beiden unterschiedichen Brüder angekommen beim Onkel und bringen etwas Leben in die kleine Gemeinschaft. Ich habe mich sehr über die beiden amüsiert. Walter, der die Welt sehen wollte, ist ratzfatz verheiratet mit der tatkräftigen Rose. Eustace ist zwar groß und dünn, liegt aber am liebsten in der Horizontalen. Er wartet auf Melanie, "bis sie erwachsen ist". Aber das wahre Interesse aneinander scheinen weder sie noch er zu haben. Ob zu zweit oder zu dritt - macht keinen Unterschied. Ein Liebespaar sehe ich in den beiden nicht. Zum Glück, denn so recht passen würde das nicht.

Melanie ist mit der Schule fertig und arbeitet als Verkäuferin, wo sie Sylvie kennenlernt, die sich bei erster Gelegenheit in Walter verknallt, der just gerade eine Ehekrise hat. Prompt gerät er zwischen die Erwartungshaltungen der zwei Frauen. Er möchte sich irgendwie beides offenhalten. Sylvie gibt die Bedürftige, den kleinen Dialog mit "Baby" und "Daddy" um die Süßigkeit fand ich ganz schlimm (S.143). Ich vermute, sie ist damit das Gegenteil von Rose, die zupackt und weiß, was sie will. Einmal hat sie Walter zurück geholt, nun hat sie ihn rausgeschmissen. Kann ich verstehen. Offenbar hat Walter seinen Job gekündigt, ohne etwas Neues zu haben. Sehr unvernünftig! Sylvie lebt mit Walter auf und fällt ohne ihn zusammen - keine gute Ausgangsposition. Wird Walter jetzt Bruder und Onkel auf der Tasche liegen?

Mir gefallen auch die kleinen Episoden zwischendurch: Die Dialoge beim Spielabend, das Fischen der Jungen, gemeinsames Essen bei Perraults,... Der Stil ist nach wie vor sehr anschaulich. Nebenbei wird sogar über Genderthemen gesprochen: Eine Ziege kommt offenbar als Zwitter auf die Welt;). Und Melanie zeigt, dass sie in Bezug auf Kleiderordnungen weit fortschrittlicher denkt als ihre Mutter.

Der Roman gefällt mir bislang ausnehmend gut. Lewis kann auch Alltägliches und Zwischenmenschliches spannend gestalten. Die Charaktere wirken wie aus dem Leben gegriffen. Bin begeistert.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Mein Eindruck liegt leider auf der genau gegenüberliegenden Seite der Skala im Vergleich zu @Literaturhexle s Beitrag.
Ich finde das Buch leider gähnend langweilig. Eine Alltagsanektdote folgt der nächsten. Keine scheint wirkliche Auswirkungen zu haben. Der Roman scheint mir ein bisschen wie ein Henry James-Buch, aber eben unter den einfacheren Leuten, nicht unter der High Society spielend. Mit gibt dieser zweite LA Abschnitt auch nicht mehr viel Neues zum Thema Atmosphäre. Diese wurde im ersten LA hergestellt und nun würde ich mir gern etwas tiefgründigere Handlung wünschen.
Mehr kann ich gar nicht schreiben, weil ich gar keine Diskussionsansätze sehe, über die man bezüglichd es Textes reden müsste.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Walter / Rose / Sylvie - diese Dreiecksgeschichte habe ich jetzt aus allen möglichen Blickwinkeln und mit jeder möglichen Wendung und in jeder möglichen Alltagssituation demonstriert bekommen. Wirklich: mir reichts! Die Situation wird durch diese immer wiederkehrende Behandlung wirklich nicht interessanter. Ich bin immer mehr bei @GAIA und finde das Buch gähnend langweilig.
 

alasca

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13. Juni 2022
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Die beiden Brüder Eustace und Walter mischen die Szene auf. Es gibt amouröse Verwicklungen, diese Sylvie würde ich am liebsten an die Wand klatschen, genau der Frauentyp, der mir den letzten Nerv tötet. Insofern als Figur gut gezeichnet, sonst würde sie mich nicht so aufregen. ;)

Den betont sachlichen Diskurs von Lem in die Schachwelt fand ich witzig.

Mary spielt nur eine untergeordnete Rolle. Gut fand ich die Szene, wo sie mit Melanie über die Macht des Begehrens sprechen will und es nicht hinkriegt - was ihr auch bewusst ist.

Ich warte immer noch auf die moralischen Anfechtungen, die aufgrund der Wirtschaftskrise auf Mary zukommen und, laut Klappentext, bravourös bewältigt werden. Bis jetzt kommt die Krise nur am Rande vor, direkte Auswirkungen auf die Gemeinschaft sind nicht erkennbar.

Ich langweile mich bisher nicht, aber frage mich, ob da nicht bald mehr Drive reinkommt. Insofern liege ich in meiner Einschätzung derzeit irgendwo zwischen Hexle und Gaia.
 
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Querleserin

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30. Dezember 2015
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Mein Eindruck liegt leider auf der genau gegenüberliegenden Seite der Skala im Vergleich zu @Literaturhexle s Beitrag.
Ich finde das Buch leider gähnend langweilig.
Ich langweile mich bisher nicht, aber frage mich, ob da nicht bald mehr Drive reinkommt. Insofern liege ich in meiner Einschätzung derzeit irgendwo zwischen Hexle und Gaia.
Ich schließe mich @alasca an. Ich bin nicht gelangweilt, dafür liest sich der Roman zu flüssig, die Alltagsszenen sind nachvollziehbar, wirken - ich wiederhole mich - authentisch. Aber es passiert so wenig. Die ganze Zeit hat man das Gefühl, jetzt muss doch etwas kommen und dann - nichts.
Ausnahme ist die Dreiecksgeschichte zwischen Rose/Walter/Sylvie, wobei dies auch keine wirkliche Überraschung ist.
Der Vergleich mit Kent Haruf hinkt - seine Sprache ist wesentlich dichter und man ist näher an den Figuren und es passiert mehr ;)
Ich lese noch gerne weiter...
 

Wandablue

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18. September 2019
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Na, diese Sylviegeschichte ist doch ein richtiger Aufreger! Sie ist eine furchtbare Schlange! Sie macht alles richtig, heult, macht auf schwaches Frauchen, lockt ... dass die Perraults das so hinnehmen, wundert mich.
Wie weit ist man bei der Behandlung von Diabetes in den 30ern? Irgendwelche Sachkenntnisse vorhanden, bevor ich google?
Rose macht/e den Fehler, zu sein wie sie ist. Aber Mary weiß, dass die (meisten) Männer dieser Zeit noch nicht so weit sind, sie wollen Helfer und/oder Eroberer sein. Mit einer selbstbewussten, selbstbestimmten Frau, die agiert statt reagiert können sie entweder nicht viel anfangen oder sie sind in ihrem Stolz verletzt.
Ansonsten: viel Natur, sehr viel Naturlyrik. Ein wenig zu oft glitzern die Blätter und dgl.
Eigentlich habe ich angenommen, dass Melly bald schwanger wird.
Die Frauen haben leider nicht viel Ehrgeiz.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Es wundert mich sehr, dass man in Kalifornien Binokel spielt. Das ist ein bayrisches/badenwürttembergisches Spiel. Ein Herzkönig und irgendein Bube (wurde mal erwähnt) ergibt überhaupt keinen Sinn! Entweder 3 Karten (ein Stich) oder ein Meldebild (Herzkönig und Herzdame wäre eins, aber nicht Bube). Ob die Autorin die Spielregeln überhaupt kennt? zu dumm, dass ich sie kenne ;-)).
 

petraellen

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11. Oktober 2020
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Neben den Themen wie Dreierbeziehung Walter - Rose - Sylvie, spielen ganz normale Themen wir Essen und Trinken (S. 76/77) eine Rolle. Wobei wichtig ist, dass immer genug da ist auch für eventuelle Besuche.

Themen wie das Wetter, „macht auch den Kaninchen zu schaffen“ (S. 78)

Wichtig ist auch das Auto, besonders für Lem, der wegen des schrecklichen Unfalls sein Auto verloren hat. Die Leute leben weit auseinander. „ Man braucht einfach ein Auto“ (S. 84)

Für Wanda: Die Menschen leben auf dem Land. Allerdings nicht so eng zusammen wie in der Stadt. Ihre Häuser sind weit verstreut und von daher ist ein Auto schon sehr wichtig. Wir schreiben das Jahr ca. 1930 und kennen sicher die praktischen Autos aus Filmen, die für das Landleben erforderlich waren. :helo

Dann kam die Finanzkrise, die auch hier nicht spurlos war. Zunächst aber nur in der Welt außerhalb " Draussen die Welt“. Man erfuhr es aus Nachrichten, Zeitung und Radios. (S. 95) Ausführlich wird die Geburt eines Zickleins beschrieben. Aufregend war dann die Erörterung des Geschlechts. Es konnte nicht eindeutig geklärt werden.


Interessant ist die Beschreibung der Japaner, die Janet Lewis so ganz nebenbei einfliessen läßt. In Wirklichkeit war das zu damaligen Zeit ein großes Thema. (S. 108/109)

San Francisco war um die Jahrhundertwende der einzige Hafen, der von japanischen Schiffen direkt angelaufen wurde. Es ließen sich japanische Einwanderer, vorwiegend junge Männer, in dieser Region nieder. 1890 noch sehr wenige, aber das nahm dann zu und wurde zu einer Krise ähnlich der Chinesischen Einwanderer. Von der einheimischen Bevölkerung nahmen diskriminierende Schritte mit ihrer steigenden Zahl schnell zu.

Vielleicht folgt da ja noch was in dem Roman. Bisher finde ich den Roman weiter sehr lesenswert.
 
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Barbara62

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19. März 2020
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Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Den betont sachlichen Diskurs von Lem in die Schachwelt fand ich witzig.
Ich habe es so verstanden, dass Lem hintergründig versucht, Sylvie auszuladen. Wenn sie nur noch zu zweit Schach spielen, brauchen sie nicht so viele Mitspieler wie bei Binokel. Der schweigsame Lem hat es faustdick hinter den Ohren...

Mary spielt nur eine untergeordnete Rolle. Gut fand ich die Szene, wo sie mit Melanie über die Macht des Begehrens sprechen will und es nicht hinkriegt - was ihr auch bewusst ist.
Sie steht zwar nicht mehr im Mittelpunkt, aber wir erfahren zu allem ihre Meinung. Sie ist eine - meist stille - Beobachterin im Hintergrund, ihr entgeht absolut nichts.

Der Vergleich mit Kent Haruf hinkt - seine Sprache ist wesentlich dichter und man ist näher an den Figuren und es passiert mehr ;)
Aber Kent Haruf wird auch oft Handlungsarmut vorgeworfen. Zugegeben, es passiert nicht allzu viel, aber ich lese trotzdem beide gern.

Nah an den Figuren dran bin ich auch bei Janet Lewis. Ich mag es, wie sie Gefühle indirekt in Bildern ausdrückt. Als Mary zusagt, dass sie Agnes' Sachen packen wird, heißt es:

"Gerne", sagte Mrs. Perrault. "Ich komme morgen früh vorbei." Sie spürte, wie ihre Kehle sich zuschnürte und wandet ihren Blick von Lem zu dem Kanarienvogel. Er schwang so heftig auf seiner kleinen Schaukel, dass es aussah, als würde er jeden Moment das Gleichgewicht verlieren. (S. 78)

Die Frauen haben leider nicht viel Ehrgeiz.
Hätten sie eine Chance? Melanie muss von der Volksschule aus direkt in eine Beschäftigung, keine Ausbildung, keine höhere Schule. Wahrscheinlich wäre es ohne Wirtschaftskrise ähnlich gewesen, aber mit hat sie definitiv keine andere Option. Der Ehrgeiz muss sich also auf eine auskömmliche Ehe beschränken.

Ausführlich wird die Geburt eines Zickleins beschrieben. Aufregend war dann die Erörterung des Geschlechts. Es konnte nicht eindeutig geklärt werden.
Das Motiv vom Hermaphrodit kommt noch einmal in Bezug auf Schnecken (S. 134). So richtig einordnen kann ich die Bedeutung bisher nicht.
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
20.612
54.170
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Ich habe es so verstanden, dass Lem hintergründig versucht, Sylvie auszuladen.
Sehr gut! Ja, Lem hat schon seinen eigenen Kopf. Das wird später in einer weiteren Szene deutlich, die ich durch deine Erklärung hier besser zu verstehen glaube (Stichwort: Betrunken).
Sie ist eine - meist stille - Beobachterin im Hintergrund, ihr entgeht absolut nichts.
Sie ist für mich der Dreh- und Angelpunkt des Romans.
Aber Kent Haruf wird auch oft Handlungsarmut vorgeworfen. Zugegeben, es passiert nicht allzu viel, aber ich lese trotzdem beide gern.
Ganz deiner Meinung. Sprachlich sind sie unterschiedlich, fokussieren aber beide einfache Menschen in kargen Zeiten und transportieren sehr viel Empathie und Humanismus.

Ich glaube, wir lesen das Buch sehr ähnlich, Barbara:)!
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich denke schon, dass Haruf etwas dichter erzählt, weniger Worte macht. Lewis kann sich in einer Szene verlieren und eine halbe Seite dem Licht über den Bergen widmen...
Figurenzeichnung und Authentizität der Menschen auf dem Land sehe ich aber ähnlich gut getroffen und thematisiert. Beides für mich meisterhafte Erzähler, die sich mit Fragen von Moral und Nächstenliebe auseinandersetzen.
Allerdings ist mein letzter Haruf schon etwas her;)
 

alasca

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13. Juni 2022
3.742
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Ich habe es so verstanden, dass Lem hintergründig versucht, Sylvie auszuladen. Wenn sie nur noch zu zweit Schach spielen, brauchen sie nicht so viele Mitspieler wie bei Binokel. Der schweigsame Lem hat es faustdick hinter den Ohren...
Nein. Ich lese es so, dass er Walter ein strategischeres (oder überlegteres) Handeln in seinen amourösen Beziehungen nahelegen will. S. 145 "Beim Schach denkt man drei, vier ... Züge voraus, und wenn man merkt, das wird nichts, dann macht man diese ... Züge eben nicht."