2. Leseabschnitt: Kapitel 5 bis 8 (Seite 64 bis 137)

alasca

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13. Juni 2022
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Nun geht es endlich um Rose; ich war schon ganz ungeduldig. :) Was für ein trostloses, limitiertes Leben. Eine Kette des Leidens, der Enttäuschungen. Sie kann es nicht mal einordnen, begreift selbst das Ausmaß des Unrechts nicht, das sie erleidet. Und nichts davon bekommen die Brüder mit in ihrer Borniertheit. Man weiß nicht, wessen Ignoranz größer ist, Roses oder die der Goncourts. Wobei die von Rose entschuldigt ist, denn woher soll sie Wissen nehmen?

Ich finde Rose sehr gut gezeichnet. Man ist nah dran an ihr.

Das einzige, das die Brüder umtreibt, ist die mangelnde Resonanz ihres Romans. Mein Mitgefühl hält sich in Grenzen. Die Männer in diesem Roman kommen alle nicht gut weg.

Ein weiterer Versuch, Jules zu heilen. Edmond will es nicht wahrhaben, ich verliere zusehends die Geduld mit ihm.
 

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29. März 2022
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Mainz
Ich hatte ja erwartet, dass wir nun Rose besser kennenlernen würden und so ist es auch. Das finde ich die bislang fesselndsten Passagen. Rose finde ich sehr gut gezeichnet in all ihrer Naivität. Sie merkt gar nicht, wie ihr übel zugespielt wird, wird vergewaltigt, verspottet benutzt. Zum Teil ist dies durch ihre Verliebtheit entschuldigt, denn Liebe macht ja bekanntlich blind. Aber was ist das für eine Liebe, die sie empfindet? Erst scheint sie ja Intteresse an den Brüdern zu haben und am liebsten beide heiraten zu wollen, dann hat es ihr Alexandre angetan.
All das geht an den Brüdern vorbei, die nur an ihrem Roman und dessen Wirkung interessiert sind. Ist das der Roman über Rose, den sie schreiben?
Weniger gefesselt hat mich sodann die Rückkehr zum Unfallgeschehen und dem geselligen Treiben der Brüder.
Gegen Ende dann geht es wieder um Jules Krankheit.
Insgesamt gefällt mir das Buch bisher ganz gut, wobei ich, wie gesagt, doe Passagen über Rose und ihre Gefühls- und Gedankenfeld am spannendsten und fesselndsten finde.
 

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29. März 2022
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Mainz
Man weiß nicht, wessen Ignoranz größer ist, Roses oder die der Goncourts. Wobei die von Rose entschuldigt ist, denn woher soll sie Wissen nehmen?
Gute Frage. Aber die Ignoranz hat unterschiedliche Ursachen. Ich würde es so sehen wie Du, dass Rose entschuldigt ist, da sie es einfach nicht besser weiß und zudem ja von der liebe geblendet ist, bei den Brüdern ist es einfach ihr Ego und Desinteresse.
Ich finde Rose sehr gut gezeichnet. Man ist nah dran an ihr.
Auch hier stimme ich zu. Es ist die einzige Person bislang, wo bei mir so etwas wie Mitgefühl aufkommt.
 

Yolande

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13. Februar 2020
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Mir hat der Abschnitt über Rose auch gut gefallen. Das arme Ding, kommt unerfahren als Mädchen vom Dorf in die Stadt und der einzige Mensch, der ihr Freundlichkeit entgegenbringt, vergewaltigt sie und findet das offensichtlich auch noch völlig normal. Auch die Reaktion ihrer Familie fand ich ziemlich daneben. Ihr Selbstwertgefühl musste ziemlich schwach sein, sonst würde sie nicht so auf ein bisschen Freundlichkeit reagieren. Bei Madame Colmant und ihrem Sohn passiert das Gleiche, zuerst ein wenig Nettigkeit und schon lässt sich Rose ausnutzen bis zum Äußersten. Armes Ding. Das den Brüdern der Seelenzustand ihrer Bediensteten völlig entgeht, wundert mich eigentlich nicht. Ich denke, es war völlig normal. Die Dienstmädchen waren halt einfach da, bemerkt hat man sie wahrscheinlich nur, wenn sie ausfielen.
"Sie war verlässlich wie ein Hofhund und beständig wie ein Möbelstück."
Die Krankheit bei Jules schreitet voran, nun kommen seine Ausfallerscheinungen auch schon bei öffentlichen Anlässen zu Tage. Wobei ich seine Reaktion auf den Hundehaufengestank nur begrüßen kann.
Die Krankheit wird immer noch negiert, vielleicht hofft Edmont, dass es nicht wahr ist, wenn er es nicht ausspricht. Ein Verhalten, dass es auch heutzutage noch gibt.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Ich finde Rose überzeichnet.
- Der Gedanke kam mir, dass es sich gar nicht um Roses Geschichte handelte, sondern um die von Madame Gervaisais. Es ist das letzte Buch, an dem Jules mitwirkte. Ich habe nämlich nirgends eine Inhaltsangabe dieses Buchs gefunden. Was, wenn das, was in "Doppelleben" beschrieben wird, zwar die an Roses angelehnte Lebensgeschichte ist, aber gleichzeitig das, was die Brüder geschrieben haben? Das würde manche melodramatische Wendung erklären.
Ich kann mir einfach schlecht vorstellen, dass sich jemand derart ausnutzen lässt, Verliebtheit und Unerfahrenheit hin oder her. Dazu kommt, woher wollen wir das wissen, woher wollen die Brüder das alles wissen, Rose hat es nicht aufgeschrieben, ihr Leben hat niemanden auch nur einen Deut interessiert ...

- Sehr schön die Analyse der Künstler "wie alle Künstler brauchten sie außer der Bestätigung auch Huldigung und Ehrerbietung. Auf Knien sollten man ihnen für ihre literarischen Wohltaten danken." Seltsamerweise kommt mir dabei u.a. Sascha Stanisitsch in den Sinn ... .

- Ich liebe die historischen Einflechtungen, die drei Kaiser Frankreichs, Sarah Bernard, der Bau des Invalidendoms, Victor Hugo 2o Jahre aus Paris verbannt (die Kanalinseln sind wunderschön, Grund zur Klage?), das Berufsverbot der "Halbsoldaten". Ich habe noch nie von "Halbsoldaten" gehört.

- Die Familiengeschichte der Goncourts war auch nicht leidfrei. Tote Kinder, Witwentum, Tod der Mutter, allerdings für Jules und Edmond Freiheit vom kapitalistischen Zugzwang. Das wünscht sich doch jeder.

Mein Lieblingssatz "Als Maler hatten sie sich aufgemacht, als Schriftsteller kehrten sie zurück", zusammen mit diesem hier: "während sie noch erigierten, rang ihr Geist schon um die nächste Metapher."

Die Wanderzeit der Brüder muss zu ihren besten Erinnerungen gehören!

Dagegen die Bäderkur!!! Warum durften die Ärzte ungestraft den Willen des Patienten missachten? Unerklärlich.
Haha, sie standen in dem warmen Wasser mit Kleidern an! Keiner lernt schwimmen. Banausen. Es gab bestimmt Menschen, die schwimmen konnten. Ach, wie unfrei waren doch die Reichen.

Ja, und Rose. Grauenhaftes Leben. Schon exemplarisch für Dienstboten. Dabei hatte sie es noch gut getroffen bei den Goncourts.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Das einzige, das die Brüder umtreibt, ist die mangelnde Resonanz ihres Romans.
Ja, sicher. Aber so gut beobachtet. Welcher Autor liest nicht heimlich Rezensionen, mindestens beim Feuilleton.

Ein weiterer Versuch, Jules zu heilen.
Wer Krebs hat, geht zu Wunderheilern, wenn die Schulmedizin nicht weiterweiß, so abgedreht finde ich das nicht.

Wobei ich seine Reaktion auf den Hundehaufengestank nur begrüßen kann.
Selbst da, wo Tierliebe vorhanden ist, wissen die Reichen keineswegs, wie man mit Tieren umgeht.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Ich bin ja aktuell sensibilisiert, was Lebensbeschreibungen und deren Wahrheitsgehalt angeht, durch die Leserunde zu "Treue" und da habe ich doch gleich wieder aufgehorcht in diesem 2. LA. Da geht es im ersten Kapitel mit dem Titel "Kein Grund zur Klage" endlich um Rose und wir lernen sie aus Erzählersicht als vollkommen selbstlose Person kennen, die abseits ihres Dienstes für die Familie/Brüder Goncourt eigentlich gar kein eigenes Leben mehr führt. Und wenn das Kapitel nach immerhin knapp 30 Seiten Berichten über Rose zu Ende ist, dann wartete da das nächste Kapitel auf mich und trägt den Titel "Rose". Was jetzt? fragte ich mich. Weiß ich nicht schon alles? Wohl nicht. Bin ich also wieder an der Nase herumgeführt worden?
Und ich erfahre: ja da waren entscheidende Lücken in dem Bericht des 1. Kapitels! Da war noch Zeit und Kraft für ein eigenes Leben abseits der Pflichterfüllung. Eine Rose, die die Brüder Goncourt gar nicht kennen, lebt da noch mit ihnen unter einem Dach. Und jetzt weiß ich mehr als die Mitbewohner/Dienstherren.
Ich finde das eine schöne und sehr interessante Wendung des Romans, der uns ja eigentlich eine vollkommene Symbiose zwischen de Brüdern und auch zwischen ihnen und dem Dienstmädchen Rose verspricht. Und nun mit Überraschungen aufwartet, die Lust auf mehr machen.
Ich lese gern weiter!
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Hoho, der Alain ist ja gar kein Franzose. Ich suchte den Originaltitel und fand ihn nicht, kein Wunder, es gibt keinen. Leider habe ich jetzt den Klappentext gelesen ... Klappentextler spoilern und spoilern, man sollte sie dazu zwingen, den Roman aufzuessen :grinning :(:grinning
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Mich rührt das Schicksal von Rose sehr. Ein naives Mädchen vom Land, dessen Naivität von allen ausgenutzt wird und die nicht mal eine Sprache findet für das, was ihr geschieht.
Erst die Vergewaltigung durch einen Menschen, dem sie vertraut hat, ihre Hinwendung zum Glauben und ihre Liebe zu einem Priester , danach wieder die Enttäuschung und schließlich ihre unsägliche Liebe zu diesem Nichtsnutz Alexandre. Ihm völlig verfallen gibt sie ihre gesamten Ersparnisse für ihn aus. Man möchte ihr zurufen, wie unsinnig das ist, aber wahrscheinlich hätte sie nicht auf unsere Einwände gehört. „ ..eine Marionette, die sich in ihren Fäden verfangen hatte.“
Von den Goncourts wird sie zwar nicht als Person richtig wahrgenommen, aber auch nicht ausgenutzt.

Auch bei den Goncourts bleiben die Schicksalsschläge nicht aus. Der frühe Tod des Vaters, die beiden Schwestern, die als Kleinkinder starben, auch die Mutter wird nur fünfzig Jahre alt. Was sich heute für uns als dramatisches Schicksal liest, war zu jenen Zeiten keine Ausnahme.
Edmond verspricht der Mutter, sich um den jüngeren Bruder zu kümmern. Dessen Erkrankung muss für Edmond wie ein persönliches Versagen erscheinen. Vielleicht will er deshalb auch nicht darüber sprechen.
Dass die Brüder auf eine Reaktion auf ihr Buch hoffen, ist kein Egoismus, sondern nur zu verständlich. Jeder Künstler / jeder Mensch braucht die Bestätigung von außen.

Mir gefällt bei diesem Buch auch, wie viel man so en passant über die Zeit und die Menschen damals erfährt. Von Berühmtheiten über den Wissensstand zu Krankheiten, über neue Erfindungen usw.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Erst scheint sie ja Intteresse an den Brüdern zu haben und am liebsten beide heiraten zu wollen,
Ich hatte es so verstanden, dass sie gewünscht hätte, dass die Hebamme einen (oder besser beide) der beiden Brüder heiraten sollte. Ich bin aber zu faul, die Stelle zu suchen.
Den beiden Brüdern scheint Rose aber immer nur gedient zu haben. Ich sehe an ihrem Verhalten keine Verliebtheit.

Ist das der Roman über Rose, den sie schreiben?
Ja, aber sie haben erst nach ihrem Tod damit begonnen.
Ihr Selbstwertgefühl musste ziemlich schwach sein, sonst würde sie nicht so auf ein bisschen Freundlichkeit reagieren.
Das muss man alles vor dem Hintergrund der Zeit sehen. Es gab Herren und Knechte, wenig dazwischen. Die Goncourts kommen aus besserem Hause, sie können von ihrem Erbe leben, müssen keiner Arbeit nachgehen, leisten sich Hausangestellte. Die Schreiberei ist Passion und Hobby, muss aber keinem Broterwerb dienen. Das einfache Volk (incl. Rose) interessiert sie nicht. Ebenso wenig wie das Leiden anderer Geschöpfe um sie rum. Sie verkehren in "besseren" Kreisen, in denen nicht einmal ein Hundehaufen bei Tisch erwähnt werden darf. Eine total dekadente, ignorante Welt ist das! Aber so war sie eben. Und deshalb ist ein Mädchen (noch dazu mit weg gelaufener Mutter) auch zum Dienen und Gehorchen erzogen worden. Woher soll sie Selbstbewusstsein haben? Sie wusste doch bei Kellner Joseph gar nicht, wie ihr geschah. Für die Schwestern war es zunächst naheliegender, dass sich Rose bewusst mit einem Mann eingelassen hat. Pfui, nun bringt sie Schande über die Familie!
Das ist alles verdammt hart. Aber die Zeiten waren so!

Schon exemplarisch für Dienstboten. Dabei hatte sie es noch gut getroffen bei den Goncourts.
Genau.
Dass die Brüder auf eine Reaktion auf ihr Buch hoffen, ist kein Egoismus, sondern nur zu verständlich. Jeder Künstler / jeder Mensch braucht die Bestätigung von außen.
Ja, so sehe ich das auch. Sie werden Monate daran gearbeitet haben. Die Freunde (oder was sie dafür halten) gehören zu den ersten Lesern. Da würde doch jeder auf ein Feedback brennen.
 

Literaturhexle

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Was, wenn das, was in "Doppelleben" beschrieben wird, zwar die an Roses angelehnte Lebensgeschichte ist, aber gleichzeitig das, was die Brüder geschrieben haben? D
Interessanter Gedanke. Behalte ich mal im Hinterkopf;)
So ganz schlüssig finde ich die zwei Versionen nämlich auch nicht. Zumal sich Rose spätestens in Bezug auf Alexandre extrem liebesblind und naiv verhält... Die schmerzlichen Erfahrungen, die sie bis dato schon gemacht hatte, sollten ihr eigentlich Warnung sein.
...-wie sich wenige Tage nach ihrem Tod herausstellen sollte, als die ganze Wahrheit über ihr Leben ans Licht kam. 72
Vielleicht bekommen wir doch noch eine logische Erklärung?
 

alasca

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13. Juni 2022
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Ja, so sehe ich das auch. Sie werden Monate daran gearbeitet haben. Die Freunde (oder was sie dafür halten) gehören zu den ersten Lesern. Da würde doch jeder auf ein Feedback brennen.
Ja, natürlich. Das sehe ich auch nicht anders. Aber dass sie halt gar nichts anderes interessiert ... so war es damals, klar. Aber wie Sulzer das darstellt, mit ganz spitzer Feder, toll. Man ist von allem so angefasst, das ist das Verdienst seiner Darstellung, sonst ließe einen das vielleicht kalt oder es käme jedenfalls nicht so intensiv rüber.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Aber wie Sulzer das darstellt, mit ganz spitzer Feder, toll. Man ist von allem so angefasst, das ist das Verdienst seiner Darstellung,
Ja. Ganz meine Meinung. Wobei ich fast sicher bin, dass er manche Innensicht/Formulierung auch aus den Tagebüchern entnommen hat. Der ganze Stil ist so wunderbar antiquiert. Das ändert nichts an meinem Lesegenuss, nur das Lob auf den Stil gebührt vielleicht jemand anderem;)
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich gewinne übrigens zunehmend den Eindruck, dass Edmond die konkrete Erkrankung seines Bruders nicht nur verdrängt, sondern dass er sie gar nicht weiß/wissen will...
Dem Arzt gegenüber behauptet er ja starr und fest, die Erschöpfung des Bruders müsse an der harten Arbeit am Schreibtisch liegen... Fast lächerlich. Die Syphilis müsste doch in aller Munde gewesen sein. Auch und gerade in männlichen besseren Kreisen? Und da hat Edmond keinen Verdacht?
 

alasca

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