2. Leseabschnitt: Kapitel 5 bis 10 (S. 60 - 112)

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Henry ist jetzt im Kampf und weiter erfahren wir alles nur durch seine "Brille" und da erscheint Vieles so ganz anders als wir uns das vorstellen:
  • Der Gegner erscheint überhaupt nicht auf der Bildfläche. Wir bewegen uns die ganze Zeit komplett im Kreis des eigenen Regiments; zwar pfeifen ein paar Kugeln um uns herum und es gibt auch Tote und Verletzte, aber woher diese kommen, das bleibt reichlich unangesprochen.
  • Der Krieg erscheint als etwas vollkommen Systemfreies. Mal geht es nach vorn, mal nach hinten, mal zur Seite, aber warum und mit welchem Ziel? Auf wessen Initiative? Das erschließt sich Henry offenbar absolut gar nicht und damit uns ebenfalls nicht.
So wird der Krieg zu einem Opfer fordernden inneren Kampf und nicht zu einem von Disziplin und Gehorsam gelenkten Geschehen. Das ist schon sehr besonders und ich weiß noch nicht so genau, ob ich dem Autoren diese Sichtweise so richtig abnehmen kann.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Mal geht es nach vorn, mal nach hinten, mal zur Seite, aber warum und mit welchem Ziel? Auf wessen Initiative? Das erschließt sich Henry offenbar absolut gar nicht und damit uns ebenfalls nicht.
Ich glaube, dass es dem einzelnen Soldaten im Kampfgeschehen genauso geht. Er hat doch keinen Überblick, sondern ist mittendrin. Und manche Schlacht ist ja auch ein ständiges Vorrücken und Zurückdrängen.
Wahrscheinlich ist genau das das Neue, was Crane hier geschaffen hat: keine Schilderung über die Schlacht von außen oder oben herab, sondern aus dem Blickwinkel eines einfachen Soldaten.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Ich finde die Szene krass, in der Henry sich für seine Flucht zu rechtfertigen versucht (S.82 ff). Das Eichhörnchen flieht ja auch, wenn man es bewirft.
Erst als er in der Truppe der Verletzten mitläuft, dämmert ihm, dass er vielleicht einen Fehler gemacht hat und wird sogar wütend, als er gefragt wird, wo es ihn getroffen hat.
Der Junge ist völlig in seinen Vostellungen gefangen und kann nur schwer ertragen was um ihn herum geschieht und muss sogar mit anschauen, wie sein Freund stirbt.

Für mich sind die Sprüche, wie "Jetzt hauen wir ihnen die Hucke voll" und dergleichen nur schwer zu ertragen. Der Tod scheint kein "großes Ding" zu sein.
 

Yolande

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13. Februar 2020
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Bei ersten Angriff stellt sich Henry noch der Herausforderung und kämpft und schießt automatisch. Nach dem ersten Rückzug ist die zwischenzeitliche Entspannung wohl so groß, dass ihn der erneute Angriff völlig aus der Bahn wirft. Er flieht und denkt, dass dies die schlauste Entscheidung war. Im Grunde, kann ich ihm da nur Recht geben, aber das sehen seine Vorgesetzten wahrscheinlich anders o_O. Die Sterbeszene seines Freundes ist etwas bizarr und erschreckt Henry. Nun muss er entweder ins Lager und sein Weglaufen irgendwie erklären oder er desertiert komplett und verlässt die Armee.
Wir bekommen die Geschehnisse immer aus der Sicht Henry geschildert und haben deshalb auch nur den eingeschränkten Blickwinkel auf die Schlacht. Geschickt gemacht.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Wahrscheinlich ist genau das das Neue, was Crane hier geschaffen hat: keine Schilderung über die Schlacht von außen oder oben herab, sondern aus dem Blickwinkel eines einfachen Soldaten.
Na, ich weiß ja nicht. Ich glaube einfach nicht, dass es keine strengen Befehlsstrukturen gibt, dass man sich nach einem Schußwechsel einfach so ins Gras legen kann, etc. etc.
Ich warte immer noch ab, worauf S. Crane eigentlich hinaus will.
Seine Lebensdaten zeigen, danke Ruth, dass er selbst keinen Krieg erlebt hat. Seite 90 entlarvt ihn: "all sein angelesenes Wissen" sagt er von Henry - und meint sich dabei *ggg*.
Wiki sagt, er war später Kriegskorrespondent und hat durchaus bei Kriegen zugesehen, aber das war nach dem Roman.

(Ich muss noch Kapitel 10 lesen).
 
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Wandablue

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Brandenburg
Also mit Henry werde ich nicht warm. Und mit dem Buch auch nicht. Das kann sich natürlich noch ändern.

Im 10. Kapitel verdirbt es Henry, den ich von Anfang an ein wenig misstrauisch beäuge, erst einmal mit mir. Da hat er einen Kameraden, der noch lebt, dem es aber nicht gut geht und dem er helfen könnte, das Lazarett zu erreichen und er macht sich aus dem Staub.

Warum er auf seiner Flucht zurück (aus der Desertation) keine der herumliegenden Gewehre aufgehoben hat, ist mir auch schleierhaft. Mir ist noch so ne Ahnung im Hirn, dass auf Waffeverlieren strenge Strafen stehen.
Auf Desertation natürlich auch.
Aber warum haut er dann nicht ganz ab?

Auf seiner Flucht vermisse ich die Worte Panik. Was ihm da angeblich alles durch den Kopf schießt, das glaube ich alles nicht. Seine Naturbetrachtungen - nebbich.

Dass er sich einen Punkt suchen möchte, wo er eine Übersicht hat und alles angucken kann - das ist doch völlig irre.

Dann will er den General anschreien - na gut, dass würde darauf hinweisen, dass er durchgedreht ist.

Das einzige, was mir eingeht, ist, dass der Junge dumm ist, sich aber für schlau hält, dass er Null Lebenserfahrung hat und dass er nicht mehr bei Verstand ist: na immerhin das bringt er rüber, der Autor.

Was mir auch nicht gefällt, ist das überspannte Gesäusel, "seine Zunge lag taub im Mausoleum seines Mundes." Oh je. Und davon gibt es eine Menge.
 

Literaturhexle

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Für mich ist die Frage, ob das geschilderte Kriegsgeschehen den realistischen, historischen Ereignissen entspricht, von untergeordneter Bedeutung. Mein Schlachtenwissen beschränkt sich auf wenige Fernsehfilme. Allerdings muss man hier bedenken, dass es sich um einen sehr emotional ausgetragenen Bürgerkrieg handelt. Es kämpfen nicht nur ausgebildete Soldaten, sondern überwiegend normale Männer, die auf die Schnelle rekrutiert wurden. Man spürt, dass verschiedenste Truppenteile an einen bestimmten Ort, der dann zum Schlachtfeld wurde, zusammengeführt wurden, um eine Entscheidung zu erkämpfen. Angesichts der Menge an (ungelernten) Soldaten, der mangelnden Koordination, vielleicht überforderter Führungskräfte könnte es schon chaotisch gewesen sein... (Der Vergleich mit einem Zirkus ist doch wunderbar!)
Aber wie gesagt, das ist mir nicht wichtig.

Ich bin begeistert, wie nachfühlbar der Autor die sich wandelnden Gefühlslagen des Protagonisten beschreibt, der sich wochenlang Gedanken gemacht hat, ob er fliehen wird, sobald der Kampf losgeht. Dann wird er gefordert, tut wie eine Maschine seinen Dienst, schießt auf alles, was sich bewegt. Er fühlt sich als Teil der Gemeinschaft:
[zitat]Es war ein verschworener Bund, der im Feuer des Kriegs und im Angesicht des Todes geschmiedet war. 63[/zitat]
Die Hektik, der Zorn, die Angst... Das alles wird sehr authentisch transportiert.
Der Deserteur, der zurückgetrieben wird....als lebendes Beispiel, wie man auch mit Henry umgehen würde.

Dann die Erleichterung: Der Feind zieht sich zurück. Es ist geschafft, man hat gewonnen. Herrliche Metaphern, die mir das Schlachtfeld vor Augen führen.

Dann kippt die Stimmung: Der Feind sammelt sich und kommt zurück. Henry und seine Kameraden sehen sich mit einer Übermacht konfrontiert. Einige fliehen, Henry schließt sich ihnen an.

Wie er seine eigenen Ängste auf die Natur projeziert, der Wald mal sein Freund, mal sein Feind wird, das empfand ich als großes Kino. Ebenso seine Beobachtungen und Gefühle im Verwundetenzug. Die Konfrontation mit dem Sterben seines Kameraden Jim, dem er noch hilflos zu helfen versucht...
[zitat]Sein Freund hatte das Rendevous mit dem Schöpfer gesucht und bekommen. 105[/zitat]
Diese ganzen Gefühlslagen werden brillant beschrieben. Der Junge ist zwischen Heldentum und Kindheit hin und her gerissen.
Mal sehen, wie es weitergeht.Wie sich der kleine Deserteur aus seinem Schlamassel befreit.

Falls es Zweifel gibt: Mir gefällt der Roman ausnehmend gut. Insbesondere genieße ich dessen sprachliche Gestaltung.
 

Literaturhexle

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Auf seiner Flucht vermisse ich die Worte Panik. Was ihm da angeblich alles durch den Kopf schießt, das glaube ich alles nicht. Seine Naturbetrachtungen - nebbich.
Ich finde, die Panik, die Angst vor Entdeckung, die Hektik... alles kommt bestens in seinen Gedanken zum Ausdruck. Mir fehlt da gerade nichts.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
@Literaturhexle : "Der kleine Deserteur" klingt ja recht zärtlich. Ich hege keinerlei derartige empathischen Gefühle für Henry. Wenn man schon freiwillig in den Krieg zieht, dann desertiert man nicht. Und er hat keinem Kameraden geholfen, sondern einmal zugesehen und ist einmal weggelaufen.

- Einen genauen Schlachtenverlauf erwartet wohl niemand. Aber ein paar Fakten hätten nicht geschadet.

Inzwischen denke ich ein bisschen anders über das Ganze, kann es aber hier nicht darstellen. Weil es in den nächsten LA gehört.

Die schwülstigen Naturbeschreibungen könnten ironisch gemeint sein. Als Distanzhilfe. Obwohl ich immer noch denke, es dient der surrealistischen Kulisse.
 

Wandablue

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Brandenburg
Für mich ist die Frage, ob das geschilderte Kriegsgeschehen den realistischen, historischen Ereignissen entspricht, von untergeordneter Bedeutung.
Anders kommt man wohl nicht weiter. Weil es auch für den Autoren so war. Andererseits hat er einen konkreten Krieg geschildert. Und war wohl Auslöser für Antikriegsromane.
Wer hat "Im Westen nichts Neues" von Remarque gelesen? Obwohl ich mich im Einzelnen nicht mehr erinnere, weiß ich noch, dass dieser Roman einen nachhaltigen Eindruck auf mich gemacht hatte. Und war Remarque inspiriert von Crane? Und wer von uns hat jemals vorher von Crane gehört?
Bisher rangiert der Roman für mich unter der Flagge "überspannt".