Ich war gestern so erschrocken über den ersten Abschnitt, dass ich dachte: Das muss doch besser werden bei einem solchen Autoren wie Bernhard Schlink. Also habe ich eine Lektüre-Spätschicht eingelegt und den zweiten Abschnitt auch noch beendet. Und siehe da: Es wird besser. Vielleicht noch nicht gut, aber deutlich besser!
Zunächst einmal möchte ich das Formale loben. Natürlich hat man schon oft Texte in Texten gelesen und dadurch die Erzählperspektive geändert. Mit einem Kapitel den gesamten vorigen ersten Teil aber formal auf den Kopf zu stellen, finde ich sehr lässig. Was ich meine: Zunächst lesen wir zehn Kapitel mit insgesamt 50 Seiten und dann mal eben ein einziges mit 80 Seiten. Das ist einerseits zwar ein wenig anstrengend, weil wir halt nur noch Birgits Gedanken folgen, andererseits aber eben eine echte Überraschung und deshalb in meinen Augen positiv zu bewerten.
Auch der Stil hat sich durch Birgits Perspektive deutlich zum Positiven geändert. Die Sätze sind länger, unstrukturierter, man kann viel mehr in sie eintauchen. Birgits Unsicherheit, ob sie die DDR verlassen soll oder nicht, ist auch in den Sätzen zu erkennen. Genauso der Umgang mit ihrer Tochter oder vor ihrer Indien-Reise. Mein persönliches Highlight bisher ist die Beschreibung ihres Sommers in der Datsche auf dem Darß. Das fand ich richtig schön.
Genervt haben mich hingegen diese ständigen Fragen, die sie sich selbst stellt. Das Stilmittel mag ich sowieso nicht so gern, hier wird es in meinen Augen viel zu häufig eingesetzt.
Eine deutliche Aufwertung erfährt in diesem Abschnitt die Geschichte des Kennenlernens zwischen Birgit und Kaspar. Ich konnte die Faszination der beiden viel besser nachvollziehen als in dem "Schüleraufsatz" des ersten Abschnitts. Allerdings habe ich mich auch gefragt, warum diese Geschichte im ersten Leseabschnitt überhaupt so auftaucht. Da Kaspars Perspektive kaum etwas Nennenswertes zu der ausführlicheren Sicht Birgits beiträgt, halte ich sie für größtenteils redundant.
Nicht ganz verstanden habe ich Birgits Abwendung von der DDR hin zu den Fluchtplänen. Denn offenbar ist dafür ja nicht nur Kaspar der Grund. Und auch Leo ist es nicht allein. Es ist also eine Mischung aus vielen verschiedenen Dingen, die mir allerdings ein bisschen zu schnell ging. Von der überzeugten Diskutantin hin zur freiheitsliebenden Flüchtigen war mir der Schritt zu groß.
Insgesamt halte ich Birgit für eine ambivalente Figur, was mir ganz gut gefällt. Denn der Umgang mit ihrer neugeborenen Tochter ist ehrlich gesagt richtig richtig schlimm. Und trotzdem habe ich gewisse Sympathien für sie verspürt. Vielleicht auch, weil sie den Roman so aufwertet
.
Gelernt habe ich übrigens auch noch etwas: Auf S. 72 erzählte Kaspar Birgit ja von den Heiligen Drei Königen, "unter denen Kaspar der schwarze König gewesen sei". Ich war mir sicher, dass dies ein Fehler ist, weil ich als Kind lernte, Balthasar sei der dunkelhäutige König gewesen. Jetzt habe ich aber gerade nachgelesen, dass es zahlreiche Diskussionen darüber gibt, wer von ihnen dunkelhäutig sei, bzw. ob es überhaupt jemand von ihnen gewesen sei. Die Debatte um die Darstellung der Figuren ist mir nicht entgangen, aber dass es tatsächlich unterschiedliche Angaben dazu gibt, wer denn der dunkelhäutige König sei, wusste ich nicht. So wichtig ist das im Grunde nicht, aber immerhin hat mir dieser kleine Satz eine neue Perspektive eröffnet.