Ich habe zunehmend das Gefühl, dass hier eine Anekdote an die nächste gereiht wird, fast so, wie wenn jemand mündlich von seinem Aufwachsen erzählt und es fällt der Person immer wieder hier und dort, zu diesem und jenem Thema etwas ein. Dann springt ja auch häufig das Ganze in der Zeit.
Das trifft es ganz gut. Die Anekdoten sind für mich passend gewählt, weil sie einen facettenreichen Einblick auf unterschiedliche Lebensbereiche ermöglichen.
Man könnte jetzt sagen, dass es ja unerheblich sei, wann diese ganzen Anekdoten geschehen in Bezug zum Alter der Erzählerin, aber für mich geht damit auch immer einher, wie belastbar die Erzählung ist. Umso weiter weg, umso verschwommener die Erinnerung, umso mehr geprägt von späteren Einstellungen. Umso frischer die Erinnerung, meist umso genauer und reflektierter i.d.R.
Ich verstehe Deine Bedenken, glaube aber nicht, dass sich das hier im Einzelnen aufdröseln lässt. Gerade in Bezug auf die "Medizin" ist interessant, dass in dieser doch recht religiösen Familie (Hindus dürfen streng genommen keinen Alkohol trinken, was faktisch trotzdem viele tun, vor allem Männer) ein Weg gefunden wurde Alkohol offen konsumieren zu können, weil er als Medizin bezeichnet wurde. Das gehört für mich in die Kategorie "Freiheiten herausnehmen", aber auf eine Art, bei der alle das Gesicht wahren können. Das gleiche gilt, wenn Mai ihre Tochter durch die Hintertür nach draußen lässt. Selbst wenn es der Vater mitbekäme, könnte er so tun als wisse er von nichts und es deshalb akzeptieren. Ist das verständlich ausgedrückt, was ich meine?
Der Roman ist aus dem Jahre 1993 und es kommt bereits berfekt erklärt, die "Blase", die "bubble" vor, in der wir heutzutage noch viel stärker jeder für sich leben. Jede und jeder denkt, man habe die Weisheit mit Löffeln gefressen.
Das finde ich unglaublich, dass die Autorin das bereits 1993 so klarsichtig formuliert.
Doch irgendwie hat es Mai geschafft, dass sich ihre Kinder einen eigenen Willen bewahrt haben und diesen auch durchsetzen wollen, komme, was wolle.
Ich sehe das weniger als Mais Verdienst, sondern dem Bildungssystem geschuldet bzw. dem Kontakt zur "Außenwelt".
Doch Mai legt ihr eigenes Tempo vor und natürlich sind ihr auch andere Sachen wichtig als S+S. Sie hält an traditionellen Grundsätzen fest, insbesondere, was das Frausein betrifft.
Zu Bedenken ist natürlich auch, dass Mai kein anderes Leben kennt. Die Außenwelt macht sie nervös und unsicher - dem möchte sie sich auch deshalb nicht aussetzten, weil es ihr Stress bereitet. Gerade nach dem Tod der Schwiegereltern hat sich ihr Leben sehr verändert, was sie - so denke ich - genießt. Sie hat seitdem mehr Kontakt zu anderen Frauen, hat weniger Arbeit, wird nicht mehr gegängelt und herumkommandiert. Diese Veränderungen haben sich aber in ihrem häuslichen Bereich vollzogen, in dem sie sich sicher fühlt. Dagegen hat sie von Alltagshandlungen draußen keine Ahnung. Für mich hat das weniger mit Festhalten an einer traditionellen Frauenrolle zu tun, sondern damit, dass sie sich ihre Freiräume lieber innerhalb der eigenen vier Wände schafft.
Vorauszusetzen, dass man besser weiß, was die andere möchte ist ganz schön vermessen und ignorant.
Ignoranz ist übrigens ein Vorwurf, den Suni ihrer Mutter macht. Wer ist hier wohl die Ignorante?
Suni jung und aus ihrer Perspektive verstehe ich, dass sie ihre Mutter "retten" möchte - es klingt zwischendurch auch bereits eine Ahnung durch, dass es vielleicht gar nichts zu retten gibt. Suni ist jung, vermessen, ignorant und dabei auch erstaunlich reflektiert, auch wenn das erst einmal ein Widerspruch zu sein scheint.