2. Leseabschnitt: Dienstag, 23. Juni 1914 (S. 59 bis S. 118)

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Auch der 2. Abschnitt ist nun gelesen - Wahnsinn, was alles an einem Tag geschieht...

Die Handlungsebenen bewegen sich allmählich aufeinander zu, jede auf ihre Art bietet spannende Einblicke. Die gleichberechtigte Abhandlung von Attentätern, Opfern und Geheimdienst/Polizei gefällt mir nach wie vor gut. Manchmal stutze ich etwas angesichts der ein oder anderen Zeitungsmeldung - was zum T... hat das hier zu suchen?! -, doch wird dann rasch deutlich, dass dies den Zeitgeist von damals noch stärker beschwört, die Darstellung der gesellschaftlich-politischen Vorgänge zu jener Zeit noch authentischer abbildet. Bertha von Suttner und der Zusammenstoß von Flugzeug und Heißluftballon - Themen, die die Menschen damals bewegten, auch den Thronfolger...

Verrückt, wie viele Möglichkeiten es gegeben hätte, den Ablauf des Besuchs zu verändern - und des Wahnsinns wilde Beute all diejenigen, die gutgläubig / blauäugig / leichtsinnig / fahrlässig die genaue Route Franz Ferdinands durch Sarajevo meinten bekannt geben zu müssen. Das ist doch, als wenn sich da jemand mit Zielscheibe um den Hals hinstellen würde. Verrückt. Es können doch nicht nur dumme Leute damals das Sagen gehabt haben?!
 

ElisabethBulitta

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8. November 2018
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Die immer wieder auftauchenden Zeitungsartikel sind wirklich schön, nur muss man (bzw. ich) teils doch mehrmals lesen, weil die Ausdrucksweise ein wenig fremd ist (zum Beispiel "Hingang einer Individualität"). Aber sie machen alles noch ein wenig authentischer. Und bindet, wie @parden schon geschrieben hat, alles in einen gesamtgesellschaftlichen7-geschichtlichen Kontext ein, vor allem da sie im Laufe der Handlung auch in Unterhaltungen etc. eingebunden werden. Das gefällt mir ausgesprochen gut.
Gut gefällt mir nach wie vor der Einblick in das Leben der "Kaisers". Dort erscheinen sie recht menschlich, andererseits ... zum Beispiel das Nachdenken über die Bediensteten, das Essen ... da wird schon ganz klar ein Unterschied z.B. zu den Studenen sichtbar. Kein Wunder, dass man die "da oben" loswerden wollte. Womit ich, wenn ich den Lauf der Geschichte sehe, nichts gutheißen möchte.
Dass der Kaiser Janaczek (diese Namen!) die Uhr schenkt, ist schon fast ein böses Omen und erinnert an ein Abschiedsgeschenk.

Dass der Humpelnde aus dem Park nicht nur ein einfacher Passant ist, habe ich mir gleich gedacht. Überhaupt scheint alles von Spitzeln durchsetzt zu sein. Auch die Wirtshausszene ... Da kommt bestimmt auch noch was hinterher. Cignaovic (die Akzente wollen an meinem PC nicht so wie ich zumindest nicht hier im Internet) spielt auch ein doppeltes Spiel. Wem ist dort überhaupt noch zu trauen? Auf jeden Fall wird hier für Spannung gesorgt.

Die Diskussion zwischen Franz Ferdinand und Sophie über den Sinn und Unsinn des Militärs könnte sich auch heute noch abspielen, aber leider ist das Problem nicht so leicht zu lösen.

Die Studentengruppe ist sehr fanatisch, aber im Prinzip glaube ich auch, dass die jungen Kerle gar nicht so genau wissen, was sie tun. Traurig ist, dass es heute auch noch vorkommt (man denke nur an Selbstmordattentäter). Insofern ist dieses Buch auch von immerwährender Aktualität.

Es können doch nicht nur dumme Leute damals das Sagen gehabt haben?!

Nun ja, das mit der Dummheit ist so eine Sache ... Im Prinzip ist der Mensch doch am ehesten geneigt, dem zu glauben, was er für richtig hält, was seiner eigenen Überzeugung entspringt.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Die Diskussion über die "Friedens-Berta" zwischen Franz Ferdinand und Sophie (S. 95ff) - einfach köstlich. Zuvor schon hatte mir das Auftauchen von Berta Suttner in diesem von militärischem Personal strotzenden Roman (ganz wie die Zeit) viel Vergnügen bereitet. In dem Zeitungsartikel S. 60. Herrlich verschrobene Sprache:
"Einer bedeutenden Frau, die mit dem Einsatz ihrer ganzen Persönlichkeit unbekümmert um banausischen Spott und gedankenlosen Gleichmut der Vielzuvielen ihre ganze Lebenskraft der Verwirklichung eines von ihr als richtig erkannten Gedankens gewidmet hat."
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Im Wirtshausgespräch ab S. 107 erweist sich Krieg in der Sichtweise der Diskutierenden als reines Männerspiel. Im Krieg kann der Mann Mann sein. Deshalb ist er nicht etwa abschreckend, sondern erstrebenswert. Die ganze Ekelhaftigkeit eines Krieges wird hier in der Sauflaune der Versammelten deutlich. Das aber ist eben nicht nur traurig, sondern auch extrem gefährlich, denn es veranschaulicht die positive Sogwirkung, die ein Krieg auf einen großen Teil der Gesellschaft ausüben kann. Es gruselt mich wirklich, @Ulfschiewe. Damit hast Du wahrscheinlich erreicht, was du schreibend erreichend wolltest! Applaus!
 

Xanaka

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Mir hat in diesem Abschnitt besonders der Artikel über Berta von Suttner gefallen. Ich habe schon öfter von ihr gehört, kannte aber den direkten historischen Zusammenhang nicht. Da bleibt gleich wieder etwas in Erinnerung.

Interessant finde ich auch, dass Pavle, der ja die Attentäter bringen soll, Zweifel hat und zumindest seinem alten Freund dem Innenminister einen Tipp gibt. Es wird letztlich nichts genutzt haben, denn das Attentat fand ja statt.

Auch Sophie gefällt mir richtig gut. Ob sie nun dadurch, dass sie von vielen geschnitten wird, so normal ist? Aber ihre fast schon bodenständige Art, wie sie sich gibt, wie sie mit ihren Kindern umgeht, finde ich toll. Ob es im wahren Leben wirklich so war?
 

Ulf Schiewe

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Mir hat in diesem Abschnitt besonders der Artikel über Berta von Suttner gefallen. Ich habe schon öfter von ihr gehört, kannte aber den direkten historischen Zusammenhang nicht. Da bleibt gleich wieder etwas in Erinnerung.

Interessant finde ich auch, dass Pavle, der ja die Attentäter bringen soll, Zweifel hat und zumindest seinem alten Freund dem Innenminister einen Tipp gibt. Es wird letztlich nichts genutzt haben, denn das Attentat fand ja statt.

Auch Sophie gefällt mir richtig gut. Ob sie nun dadurch, dass sie von vielen geschnitten wird, so normal ist? Aber ihre fast schon bodenständige Art, wie sie sich gibt, wie sie mit ihren Kindern umgeht, finde ich toll. Ob es im wahren Leben wirklich so war?

Ja, so war sie. Ist nicht meine Erfindung. :)
 

kingofmusic

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Was ist eigentlich in der Zeitungsmeldung der Reichspost mit "Pforte" gemeint? :confused:
 

Querleserin

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Die Studentengruppe ist sehr fanatisch, aber im Prinzip glaube ich auch, dass die jungen Kerle gar nicht so genau wissen, was sie tun. Traurig ist, dass es heute auch noch vorkommt (man denke nur an Selbstmordattentäter). Insofern ist dieses Buch auch von immerwährender Aktualität.
Ich fand die Innensicht der jungen Attentäter sehr interessant, ihr Wille das Attentat durchzuziehen, resultiert auch aus ihrer mangelnden Chance die Tuberkulose zu überleben. Wären sie reich, hätten sie eine Chance. In dem Umstand wird besonders deutlich wie soziale Ungerechtigkeiten radikalisieren können. Woher hast du @Ulf Schiewe die Anregungen zu den Innensichten der Figuren? Gibt es da historische Quellen oder ist das Fiktion?
Sehr spannend bisher!
 

Sassenach123

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Erschreckend, dass viele dieses Attentat hätten abwenden können. Sogar Franz Ferdinand selbst.....Die Beziehung mit Sophie wird sehr schön beschrieben, ich mag es, dass sie ihn zu nehmen weiß und mit seinen Ausbrüchen gut umgehen kann. Die Kinder zu Selbstständigkeit zu erziehen ist in diesen Kreisen sicher auch eher untypisch gewesen.
 

Ulf Schiewe

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Ich fand die Innensicht der jungen Attentäter sehr interessant, ihr Wille das Attentat durchzuziehen, resultiert auch aus ihrer mangelnden Chance die Tuberkulose zu überleben. Wären sie reich, hätten sie eine Chance. In dem Umstand wird besonders deutlich wie soziale Ungerechtigkeiten radikalisieren können. Woher hast du @Ulf Schiewe die Anregungen zu den Innensichten der Figuren? Gibt es da historische Quellen oder ist das Fiktion?
Sehr spannend bisher!
Man kann ja Einiges über Gavrilo finden. Es gibt auch die Niederschrift eines Interviews zwischen ihm und einem Wiener Nervenarzt, das Einiges über ihn und seine Motivation aussagt. Auch, dass er viel gelesen hat, seine Vorliebe für serbische Dichtung, seinen Familienhintergrund. All das habe ich im Buch verwendet. Der Rest ist mein Einfühlungsvermögen in die Figuren und natürlich Fantasie.
 

Ulf Schiewe

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Erschreckend, dass viele dieses Attentat hätten abwenden können. Sogar Franz Ferdinand selbst.....Die Beziehung mit Sophie wird sehr schön beschrieben, ich mag es, dass sie ihn zu nehmen weiß und mit seinen Ausbrüchen gut umgehen kann. Die Kinder zu Selbstständigkeit zu erziehen ist in diesen Kreisen sicher auch eher untypisch gewesen.
Sie wurde als Kind eben auch nicht verwöhnt.
 

wal.li

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Die Informationen über Berta von Suttner haben mir auch sehr gefallen. Ihren Namen kannte ich, aber dass sie Friedensforscherin und Friedensnobelpreisträgerin war, wusste ich nicht.

Die Schilderung des Familienlebens der Thronfolger fand ich sehr schön, irgendwie so normal. Die Sophie hat ihren Franzi wohl oft runtergeholt.

Das Uhrengeschenk wirkt tatsächlich fast prophetisch, da schauderte es mich schon.

Irgendwie kann ich auch die Attentäter verstehen, ihre Situation war so ausweglos.

Immer noch ist es frappierend, dass die Warnungen einfach in den Wind geschrieben werden.
 

ElisabethBulitta

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Irgendwie kann ich auch die Attentäter verstehen, ihre Situation war so ausweglos.

Nun ja, nachvollziehen, ja. Aber leider hat der Verlauf der Geschichte gezeigt, dass gut gemeinte Ideen oft aus dem Ruder laufen. Zumindest dann, wenn Gewalt im Spiel ist. Und dummerweise ist der Mensch nur bedingt fähig, aus der Geschichte zu lernen. Zumindest der Mensch als Gattung.

Mit dem Attentat (natürlich nicht nur mit ihm, aber er hat "das Fass zum Überlaufen gebracht"), wurde ein Flächenbrand erzeugt, der die ganze Welt in einen Krieg gestürzt hat. Nun, ins Buch der Geschichte haben sich die Attentäter allemal geschrieben.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Nun ja, nachvollziehen, ja. Aber leider hat der Verlauf der Geschichte gezeigt, dass gut gemeinte Ideen oft aus dem Ruder laufen. Zumindest dann, wenn Gewalt im Spiel ist. Und dummerweise ist der Mensch nur bedingt fähig, aus der Geschichte zu lernen. Zumindest der Mensch als Gattung.

Mit dem Attentat (natürlich nicht nur mit ihm, aber er hat "das Fass zum Überlaufen gebracht"), wurde ein Flächenbrand erzeugt, der die ganze Welt in einen Krieg gestürzt hat. Nun, ins Buch der Geschichte haben sich die Attentäter allemal geschrieben.
Das Fass zum Überlaufen gebracht, stimmt. Frage mich nur ob den jungen Menschen dieses Ausmaß bewusst gewesen ist. Sie wollten etwas verändern, mit Mitteln die nicht zu entschuldigen sind, aber den Rattenschwanz konnte sie bestimmt nicht ahnen. So oder so ist und bleibt es eine tragische und folgenschwere Handlung
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Das Fass zum Überlaufen gebracht, stimmt. Frage mich nur ob den jungen Menschen dieses Ausmaß bewusst gewesen ist. Sie wollten etwas verändern, mit Mitteln die nicht zu entschuldigen sind, aber den Rattenschwanz konnte sie bestimmt nicht ahnen. So oder so ist und bleibt es eine tragische und folgenschwere Handlung
Das ist das Problem am "kurzsichtigen" Denken - man erhofft sich für den Moment "Erlösung", aber was davon kommen kann, übersieht man bzw. denkt nicht über die Konsequenzen nach. Darum sind die vielen Protestwähler (siehe AfD, Brexit etc.) auch so brandgefährlich...:rolleyes:
 

Ulf Schiewe

Aktives Mitglied
19. Oktober 2014
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Wobei das nicht immer viel heißen muss. Dabei spiele auch die Persönlichkeit eine Rolle, wodurch auch immer sie geformt wird. Wie oft höre ich: "Ich habe das und das als Kind nicht gekriegt, aber meine Kinder sollen alles bekommen, was sie sich wünschen."
Klar, das ist individuell. Aber Sophie hielt auch nichts von Geldverschwendung.