2. LA: "Verpflichtungen" - Kapitel Drei bis Vier (Seite 65 bis 135)

Irisblatt

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15. April 2022
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Der zweite Leseabschnitt liegt hinter mir und meine Begeisterung ist noch ungebrochen. Dennoch empfand ich den zweiten Leseabschnitt als etwas schlechter. Warum? Gerade die Schilderungen des kranken Denkens von Helen fand ich nicht so fesselnd, nicht so intensiv. Gerade dies wundert mich sehr. Das Intensive kehrt dann im weiteren Verlauf aber wieder zurück und lässt mich begeistert den Leseabschnitt beenden.

Die Zeichnung von Benjamin und Helen wird intensiver, ebenbürtiger. Im ersten Leseabschnitt war für mich Helen führend, ein deutlich präsenterer Charakter und ein mich überzeugender Charakter. Benjamin war diffuser gezeichnet, lag noch mehr im Dunkeln, war nicht so greifbar. Das ändert sich jetzt. Beide Charaktere werden ebenbürtig gezeichnet.
Das stimmt. Ich bin froh, andere Nuancen von Benjamin kennengelernt zu haben.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Dieser Abschnitt beginnt erst sehr positiv in Bezug auf die Ehe, auch wenn sie nicht vor Zärtlichkeiten zueinander zerspringen, scheinen sie ein Leben zu leben, dass für beide akzeptabel ist. Bis es dann zum Ausbruch von Helenes Krankheit kommt. In Zügen scheint es ja schon da gewesen zu sein, aber plötzlich ist alles komplett wirr.

Das Benjamin alles was finanziell möglich ist tut war mir klar, dass ihm der Arzt der Schweizer Klinik aber erstmal die kalte Schulter bezüglich seiner Forderungen stellt, hat mir gefallen. Doch am Ende siegt trotzdem Benjamins Einfluss.
Schade, dass er sich später dann auf Dr Aftus eingelassen hat, die erste Therapie erschien mir sehr vielversprechend zu sein.
Als Helene nach der ersten Krampftherapie von Benjamin besucht wird, freut er sich über ihren Blick, wertet es positiv. Ich denke, es war ein Hilfeschrei von ihr, den er nicht erkannt hat. Schrecklich, wenn man bedenkt, dass einige Experimente jahrelang an Kranken gemacht wurden, und es ihnen nur geschadet hat.

Helens Mutter versucht sich nach Helens Tod bei Benjamin einzuschleichen. Sie wurde mir von mal zu mal unsympathischer. Die Ehe hat sie damals ja bereits indirekt eingefädelt, da ging es es auch nur um Ansehen und Geld, und ihre Tochter vorzuführen, damit ihre Partys gut ankommen, machte ihr Ansehen bei mir auch nicht besser.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Ja, was soll ich sagen? Eine geniale, runde Geschichte.
Die Ehe funktioniert gut. Die Musik ist eine verbindende Komponente. Musik ist eben universal. Ihre Sprache versteht jeder.
Es ist ein Paradox, dass Benjamin, der Helen sehr viel mehr liebt als sie ihn, schließlich zu ihrem Foltermeister wird. Aus Arroganz und Unwissen heraus. So sind die Reichen. Lassen sich nichts sagen. Eine Katastrophe. Zuerst leidet er an ihr, dann sie an ihm. Wenn auch aus sehr unterschiedlicher Motivation heraus.
Benjamin kommt gut durch die Rezension. Erneut. Wieder geht er über die Leichen vernichteter Existenzen. Helen nimmt dies mehr mit, allerdings weniger aus Empathie denn aus Panik.

Sehr gekonntes kurzes Skizzieren der Weltwirtschaftskrise (nichts davon hat mich gelangweilt) gepaart mit der Entwicklung der Pharmaindustrie (klingt da nicht Kritik an, ganz leise?) - und der Behandlung psychisch Kranker. Der Autor lässt uns Hoffnung schöpfen, bevor er Helen durch Benjamin in die Hände des skrupellosen Arztes A. gibt und sie zerstört. Sein Name wird wohl kein Zufall sein). Ich mag es, wenn sich ein Autor traut, seine Figur zu töten. Obwohl ich ja ein LieschenMüllerGen auch habe, und dann traurig bin.

Besondere Sätze: "Die Distanz zwischen Autor und Werk kann nur durch Enttäuschung überbrückt werden". I love it. Immer wieder zeitlose "Weisheiten", Bonmots. "Die Meisten von uns glauben gerne, wir seien das aktive Subjekt unsrer Erfolge, aber das passive Objekt unserer Niederlagen."*ggg*

Der Niedergang dieser beiden Exzentriker ist so nachdrücklich und eindrücklich beschrieben, dass ich Gänsehaut bekomme. Meisterhaft.
 
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Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Später versucht Helen nach Benjamins kometenhaftem Aufstieg beim Börsencrash Ausgleichshandlungen, ist also um den Ruf beider Eheleute besorgt.
Gar nicht. Sie bekommt eine Panikattacke, weil sie den Hass in den Augen der Menschen, die ihr Ehemann ruinierte sieht. Sie gründet ihre Wohltätigkeiten keineswegs auf Empathie, sondern auf Angst.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Is
Ich bin sehr neugierig wie es hier in den nächsten Leseabschnitten weiter gehen wird. Kommen die Charaktere der ersten beiden Leseabschnitte in den weiteren Leseabschnitten noch einmal vor oder ist die Thematik das Verbindende der verschiedenen Teile des Buches?
Verstehe ich. Aber mir ist das egal. Ich lese diese Texte mit großem Vergnügen. Egal, wie sie zusammenhängen. Das wird mir dann schon aufgehen, dieses Licht.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
sondern dass es ihr ein wirkliches Anliegen ist von ihrem immensen Reichtum abzugeben.
Auch nicht. Sie will sich von ihrer Panik befreien. Ihre Wohltätigkeit ist fremdbestimmt. Aber ein bisschen stimmt es vllt doch, weil sie es ja nicht an die große Glocke hängt. Aber trotzdem, der Ursprung stammt nicht aus ihrem Inneren.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Ein kleines Ungleichgewicht in der Ehe habe ich herausgelesen. Benjamin scheint emotional stärker an Helen zu hängen als sie an ihm. Sie empfindet “ aufrichtige Zuneigung“, ist immer freundlich, aufmerksam und zärtlich, doch nach der großen Liebe hört sich das nicht an. Er dagegen erlebt zum ersten Mal in seinem Leben eine innige Verbindung zu jemanden, bewundert und verehrt seine Frau und spürt dabei , dass etwas fehlt. Trotzdem scheinen beide glücklich zu sein.
Allerdings hat Benjamin von Anfang an Angst vor dem Verlust dieses Glücks. Tragisch, dass sich seine Angst später bewahrheitet: Er verliert seine Frau auf schreckliche Weise.

Kinder bekommt das Paar keine, obwohl das einer der Gründe war, weshalb Benjamin eine Ehe eingehen wollte. Doch der Kinderwunsch scheint nicht so groß gewesen zu sein. Will Helen keine oder gibt es organische Gründe für die Kinderlosigkeit ?

Dann kommt der große Börsenkrach. Sehr schön formuliert Hernan Díaz , dass der Mensch Erfolge immer dem eigenen Können zuschreibt, für den Misserfolg aber andere verantwortlich macht.

Benjamin verdient am großen Crash. Seine Transaktionen mögen legal gewesen sein, aber moralisch verwerflich. Er wird danach von den Leuten gemieden. Das verzeiht ihm niemand. Auch Helen bekommt das zu spüren. Alle, die sie zuvor gefördert und unterstützt hat, ziehen sich zurück. Das Paar ist gesellschaftlich isoliert. ( Auch hier hat das der Autor raffiniert dargestellt. Die Briefe, anfangs noch freundlich, verschämt, am Ende kurz und knapp.)

Danach beginnt Helens Weg in die Krankheit. Benjamin versucht alle Hebel in Bewegung zu setzen, um seiner Frau zu helfen. Durch seinen Reichtum und seinen Einfluss kann er das. Doch all das hilft nichts. Helen stirbt infolge einer dubiosen Behandlung.

Danach verlässt Benjamin auch sein berufliches Glück. Er macht Verluste. Trotzdem arbeitet er wie gewohnt weiter, er kennt nichts anderes. Und nach dem Tod seiner Frau scheint ihn auch nichts anderes mehr zu interessieren.

Was haben wir hier: Das Portrait eines ungewöhnlichen Paares, der Aufstieg und Fall eines erfolgreichen Mannes, ein Gesellschaftsportrait?
Mal sehen, wie es weitergeht.


Wie beneidenswert: Als Helen der Platz ausgeht für ihre vielen Bücher, lässt sie im Haus einfach zwei Wände durchbrechen und hat so mehr Platz. Mein Problem ist, dass es keine Wände mehr gibt um Regale aufzustellen.

Nun weiß ich, warum ich so gerne Konzerte besuche. Man ist unter Leuten, aber nicht gezwungen, mit ihnen zu reden.
Das hast du schön formuliert. *unterschreib*. Ruthie, du brauchst einfach ein Zweithaus.
 

Wandablue

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Brandenburg
wie oft sich Geschichte wohl wiederholt.
unendlich.
bei ihr geht es über einfache Zuneigung nicht hinaus.
und Dankbarkeit.

Denn mit ihrem Verhalten will sie anderen helfen, aber auch ihrem Mann helfen, ihn irgendwie schützen.
No. Kein Stück. Beide sind völlig empathielos gegü anderen Leuten.

Der Gedanke kam mir auch.
Aber eigentlich gehen beide so in ihren AufgaBen auf, dass gar kein Platz füreinander Kind gewesen wäre.
Ich frug mich, was "keusche Lust" wohl sei - wenn man selten schnackelt oder gar nicht, dann kriegt man keine Babies.

Er möchte ihr in ihrem Krankheitsfall helfen, ist durchsetzungsfähig und scheitert leider dennoch.
Ich verstehe deinen Blickwinkel vollkommen, weil du ... du bist so. Aber die, die sind nicht so. Er möchte zwar helfen, ist aber nicht demütig genug, sich belehren zu lassen. Es geht Benjamin viel mehr um Kontrolle. Denn: er sah ja die Fortschritte, keine Ekzeme mehr, sie kam zur Ruhe, etc. Dann war er vollkommen ungeduldig. 2 Monate ist doch nichts bei einer psychischen Krankheit. Er konnte ihren Arzt nicht kontrollieren, darum warf er ihn hinaus. Echte Hilfe sieht anders aus. Er hat keine Demut. Hat er nicht gelernt. Will er nichts damit zu tun haben.
 

Literaturhexle

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Sie gründet ihre Wohltätigkeiten keineswegs auf Empathie, sondern auf Angst.
Fast.
"Zunächst war die Philanthropie nur ein Teil von Helens gesellschaftlicher Fassade. Mit der Zeit entwickelte sie jedoch ein wahres Interesse am Mäzenatentum." 73

Ich finde, du hast den Charakter der beiden Protas sehr gut beschrieben, Wanda. Eine saubere Analyse, der ich mich anschließen kann.
Der Niedergang dieser beiden Exzentriker ist so nachdrücklich und eindrücklich beschrieben, dass ich Gänsehaut bekomme.
Stimmt.
Ihre Wohltätigkeit ist fremdbestimmt.
Ich hätte es nicht so klar ausdrücken können. Aber das ist es. Die Kinderängste kehren zurück und sie wird ihr Spielball. Allerdings spielt die Scham, dass ihr Mann auf dem Rücken anderer so reich geworden ist, auch eine Rolle.
Eigentlich opfert er sie - das heißt, er führt diesen Verlust aktiv herbei. Hat was von selbsterfüllender Prophetie an sich.
Er, der das Verlieren gar nicht gelernt hat, muss nun das hergeben (ganz richtig: Opfern), was ihm das Liebste ist auf der Welt. Sein ganzer Reichtum, seine Kontakte, seine Macht haben das nicht ändern können. Im Gegenteil: Sie haben den Verlust beschleunigt. Eben, weil Benji meint, alles kontrollieren, alles berechnen zu können. Spätestens, als die Krankenschwester heulend rauslief (weil sie die Qualen Helens nicht ertragen konnte), wäre ein empathischerer, gefühlsbetonter Mensch wohl wach geworden. Benjamin nicht. Mit fataler Konsequenz.
 
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Literaturhexle

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Die menschliche Tragödie, die sich hier abspielt, wird wirklich sagenhaft gut beschrieben. Benjamin ist im Grunde ein Technokrat, der die Regeln des Marktes beherrscht und ihn sich dadurch zum Untertan machen kann. Die Krankheit seiner Frau entzieht sich seinem Einfluss, was er aber nicht wahr haben will. Er traut Dr. Frahm nicht, es dauert ihm alles zu lange. Als er Helen mit dem Doktor kichern sieht, veranlasst ihn seine Eifersucht, das völlig Falsche zu tun... Die Abwärtsspirale wird in Gang gesetzt. Das wird sehr plastisch und glaubwürdig dargelegt.

Ben glaubt der neuen Methode, weil sie auf Zahlen und Fakten zu basieren scheint. Darauf kann er sich einlassen, dazu hat er Zugang. Denkt er. Die abscheuliche Krampftherapie wird ihm vorenthalten und er schaut im Grunde gerne weg, will es so genau nicht wissen. Wie bei seinen Finanzgeschäften zählt für ihn nur das Ergebnis und nicht der steinige Weg (mit den Leichen am Rand).

Aber dieses Mal verliert er...
 

Literaturhexle

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Doch mit dem Börsencrash und ihren, von ihrem Mann vereitelten Bemühungen, das Leid in ihrer Umgebung zu dämpfen, verzweifelt sie
Habe ich etwas überlesen? Benji vereitelt doch nichts. Er zahlt den Altruismus seiner Frau aus der Portokasse. (S. 92)
Ich liebe diese Klarheit und gleichzeitig Unklarheit der Sprache in diesem Roman wirklich.
Ja, die sprachliche Gestaltung ist extrem reizvoll - und schwer in Worte zu fassen.
 

Wandablue

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Habe ich etwas überlesen? Benji vereitelt doch nichts. Er zahlt den Altruismus seiner Frau aus der Portokasse. (S. 92)
Doch, als sie verwirrt wird und nicht mehr genau weiß, was sie wem anweist, stoppt er das. Das ist nicht verwerflich.
Das frühere Mäzenatentum steht nicht auf derselben Stufe wie das spätere (was du oben schreibst), ja, das entspringt ihren eigenen Neigungen. Wenigstens.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Habe ich etwas überlesen? Benji vereitelt doch nichts. Er zahlt den Altruismus seiner Frau aus der Portokasse. (S. 92)

Wanda hat es ja schon beantwortet. Später zahlt er nicht mehr und ich denke, dass das noch mehr zu Helens Verwirrungen beigetragen hat. Sie merkte es nicht und wunderte sich nur, dass die Kontakte abnahmen und ihr "trotzdem " keiner wohlgesonnen war.
 

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29. März 2022
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Mainz
Ich muss sagen, dass ich von dem Buch leider nicht so begeistert bin wie ihr alle. Die Handlung plätschert für mich so dahin. Am spannendsten fand ich noch die Krankheitsgeschichte von Helen. Die enge Bindung Benjamins zu seiner Frau hat mich sehr überrascht, schien mir die Beziehung vorher doch nicht so intensiv zu sein.
Die Verbindung zum Titel ist jedoch sehr deutlich: Benjamin ist treu gegenüber seinen geschäftlichen Verpflichtungen und auch gegenüber seiner Frau.
Sprachlich ist das Buch für mich okay, aber der Stil reißt mich auch nicht wirklich vom Hocker. Ich hoffe auf eine Steigerung in den nächsten Abschnitten.
Ich bin nun gespannt auf das nächste Buch und wie die Gesamtkompensation aussehen wird. Wie werden die verschiedenen Romane im Roman wohl ineinandergrerfien? Da bin ich sehr gespannt.
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

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Er, der das Verlieren gar nicht gelernt hat, muss nun das hergeben (ganz richtig: Opfern), was ihm das Liebste ist auf der Welt. Sein ganzer Reichtum, seine Kontakte, seine Macht haben das nicht ändern können. Im Gegenteil: Sie haben den Verlust beschleunigt. Eben, weil Benji meint, alles kontrollieren, alles berechnen zu können. Spätestens, als die Krankenschwester heulend rauslief (weil sie die Qualen Helens nicht ertragen konnte), wäre ein empathischerer, gefühlsbetonter Mensch wohl wach geworden. Benjamin nicht. Mit fataler Konsequenz.
Ich verstehe deinen Blickwinkel vollkommen, weil du ... du bist so. Aber die, die sind nicht so. Er möchte zwar helfen, ist aber nicht demütig genug, sich belehren zu lassen. Es geht Benjamin viel mehr um Kontrolle. Denn: er sah ja die Fortschritte, keine Ekzeme mehr, sie kam zur Ruhe, etc. Dann war er vollkommen ungeduldig. 2 Monate ist doch nichts bei einer psychischen Krankheit. Er konnte ihren Arzt nicht kontrollieren, darum warf er ihn hinaus. Echte Hilfe sieht anders aus. Er hat keine Demut. Hat er nicht gelernt. Will er nichts damit zu tun haben.
Stimmt. Da habt ihr völlig recht. Hier war wohl wieder ein Wunschdenken von mir im Vordergrund.