Rezension Rezension (5/5*) zu Ein einfaches Leben: Roman von Min Jin Lee.

Renie

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Buchinformationen und Rezensionen zu Ein einfaches Leben: Roman von Min Jin Lee
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Die amerikanische Autorin Min Jin Lee ist 1968 in Südkorea geboren. Im Alter von 8 Jahren ist sie mit ihrer Familie in die USA immigriert. Mittlerweile ist sie 51 Jahre alt, hat also den größten Teil ihres Lebens in Amerika verbracht. Dennoch hatte sie das Bedürfnis einen Roman über die Kultur zu schreiben, in der sie geboren wurde. Für ihren Roman "Ein einfaches Leben" hat Min Jin Lee etwa 20 Jahre gebraucht. So "einfach"scheint das Leben einer koreanischen Familie, welches sie hier beschreibt, also doch nicht gewesen zu sein.
Entstanden ist ein Familienepos über mehrere Generationen, angefangen 1910 bis hin zum Jahr 1989. Hauptschauplätze sind Korea und Japan.
Um die Bedeutung dieses Romans zu verstehen, sollte man sich zunächst einen kurzen Einblick über die Geschichte in dieser Region verschaffen. Der Roman beginnt in Korea zu einer Zeit, als dieses Land eine Kolonie Japans war. Dieser Zustand hielt bis zum Ende des 2. Weltkrieges an. Nach der Unabhängigkeit von Japan kamen die Besatzungsmächte USA und Russland ins Spiel, die Korea der Einfachheit halber in Nord- und Südkorea geteilt haben. Der Koreakrieg 1950 tat sein Übriges, damit die Teilung des Landes verfestigt wurde. Der Konflikt zwischen Nord und Süd hält auch heute noch an, nicht zuletzt aufgrund der Machthaberstruktur in Nordkorea.
Ein wesentliches Thema in diesem Roman ist die Diskriminierung der koreanischen Bevölkerung in Japan. Diese Diskriminierung fand ihren Anfang während der Kolonialzeit und ist auch heute noch in den Köpfen vieler Japaner und Koreaner verwurzelt. In der Zeit zwischen 1910 und dem Ende des 2. Weltkrieges sind viele Koreaner nach Japan ausgewandert - einige aus freien Stücken, aufgrund der besseren Arbeitsmöglichkeiten, andere wiederum wurden zwangsausgesiedelt, um die japanische Industrie aufzubauen. Mit dem Ende des 2. Weltkrieges sind viele Koreaner wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, andere wiederum blieben, weil sie sich in Japan eine Existenz aufgebaut haben bzw. nur einen geringen Bezug zur alten Heimat hatten. Dies betraf insbesondere die jüngere Generation. Egal, ob in Japan oder Korea angesiedelt, Koreaner waren (und sind) für Japaner Menschen zweiter Klasse und werden auch als solche behandelt. Bestenfalls sind sie in Japan geduldet, aber selten akzeptiert.

"' .. Dieses Land wird sich nie ändern. Koreaner wie ich können nicht weggehen. Wo sollen wir hin? Aber die Koreaner zuhause ändern sich auch nicht. In Seoul werden solche wie ich japanische Bastarde genannt, und in Japan bin ich immer weiter ein schmutziger Koreaner, egal, wieviel Geld ich verdiene oder wie nett ich bin. So ist das! ..'"

Vor diesem Hintergrund ist die Geschichte der Familie um Sunja angesiedelt. Sunja ist in einem kleinen Dorf in Korea geboren. Die Familie hält sich nach dem Tod des Vaters mit einem Logierhaus über Wasser. Als Sunja heiratet, zieht sie mit ihrem Mann Isak, einem christlichen Geistlichen, nach Japan. Hier lebt die Familie über Jahre zusammen mit Isaks Bruder und dessen Frau. Sunja bekommt zwei Söhne, Noa und Mozasu, die zwischen 2 Kulturen leben. Über ihre familiären Wurzeln bekommen sie die koreanische Kultur vermittelt, lernen aber gleichzeitig, dass sie als Koreaner in ihrem Geburtsland Japan nicht willkommen sind. Die Jahre vergehen, die politische Situation verändert sich, Familienmitglieder sterben und Familienmitglieder werden geboren. Die Familie bringt es mit den Jahren zu einigem Wohlstand, nichtzuletzt aufgrund ihres Unternehmertums im Glückspiel, dem Pachinko.

"Für Mosazu war das Leben wie ein Spiel, bei dem der Spieler die Rädchen einstellen konnte, aber auch mit Faktoren rechnen musste, die außerhalb seiner Kontrolle lagen und Ungewissheit bedeuteten. Er verstand, warum seine Kunden an einer Maschine spielen wollten, die vorhersagbar schien, aber trotzdem Platz für Zufall und Hoffnung ließ."

Min Jin Lee liefert mit diesem Roman ein beeindruckendes Porträt einer Gesellschaft, die mir bisher mehr als fremd war. Sie konzentriert sich dabei auf die persönlichen Schicksale ihrer Charaktere. Durch stetig wechselnde Erzählperspektiven lässt sie nahezu jedes Familienmitglied zu Wort kommen und bringt sie dem Leser näher. Darüberhinaus gibt sie auch noch Randfiguren Raum, um deren persönliche Schicksale zu beleuchten. Das Ergebnis ist ein schillerndes Bild einer Gesellschaft, die versucht, als ethnische Minderheit in Japan zurechtzukommen.

Dieser Roman lässt sich jedoch nicht auf das Thema der Diskriminierung reduzieren. Min Jin Lee packt viele Themen an, die für den Alltag in Korea bedeutsam sind: Familienleben, Bedeutung des Ehrbegriffs, Rolle der Frau ... um nur einige zu nennen.

Die Autorin hat nicht nur viel erzählen, sie erzählt es auch auf eine wunderschöne Weise. Als ich die ersten Sätze dieses Roman gelesen habe, stellte sich bei mir eine merkwürdige Stimmung ein: In meinen Kopf tauchten ganz viele Bilder auf, die jedoch alle hinter einem zarten Schleier lagen. Damit will ich sagen, von jetzt auf sofort ist man in einer völlig fremden Welt, die eine ungeheure Fasziniation ausübt.
Diese "Schleier"-Stimmung habe ich irgendwann nicht mehr wahrgenommen. Ich habe Min Jin Lees Sprachstil jedoch als sehr lebhaft und eindringlich empfunden. Sie versteht es, den Leser zu fesseln. Die Handlung hat eine treibende Kraft, die mich in den Bann gezogen hat. Einerseits berührt sie den Leser, lässt ihn Anteil nehmen an den Sorgen und Nöten der Charaktere. Andererseits lässt sie aber immer noch genügend Distanz zu, so dass die Stimmung niemals ins Rührselige umschlägt.

Fazit:
Ein großartiges Familienepos aus einem fremden Kulturkreis! Eines meiner Highlights in diesem Jahr! Leseempfehlung!


 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Fazit:
Ein großartiges Familienepos aus einem fremden Kulturkreis! Eines meiner Highlights in diesem Jahr! Leseempfehlung!
Eine tolle Rezension hast du geschrieben. Danke für den historischen Kurzabriss zu Beginn. Damit kann man die Handlung noch besser einordnen. Außerdem gefallen mir Rezensionen, die nicht soviel vom Inhalt preisgeben und dennoch neugierig machen. Das ist dir gelungen.

Deinem Fazit schließe ich mich gerne an!
 
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Die amerikanische Autorin Min Jin Lee ist 1968 in Südkorea geboren. Im Alter von 8 Jahren ist sie mit ihrer Familie in die USA immigriert. Mittlerweile ist sie 51 Jahre alt, hat also den größten Teil ihres Lebens in Amerika verbracht. Dennoch hatte sie das Bedürfnis einen Roman über die Kultur zu schreiben, in der sie geboren wurde. Für ihren Roman "Ein einfaches Leben" hat Min Jin Lee etwa 20 Jahre gebraucht. So "einfach"scheint das Leben einer koreanischen Familie, welches sie hier beschreibt, also doch nicht gewesen zu sein.
Entstanden ist ein Familienepos über mehrere Generationen, angefangen 1910 bis hin zum Jahr 1989. Hauptschauplätze sind Korea und Japan.
Um die Bedeutung dieses Romans zu verstehen, sollte man sich zunächst einen kurzen Einblick über die Geschichte in dieser Region verschaffen. Der Roman beginnt in Korea zu einer Zeit, als dieses Land eine Kolonie Japans war. Dieser Zustand hielt bis zum Ende des 2. Weltkrieges an. Nach der Unabhängigkeit von Japan kamen die Besatzungsmächte USA und Russland ins Spiel, die Korea der Einfachheit halber in Nord- und Südkorea geteilt haben. Der Koreakrieg 1950 tat sein Übriges, damit die Teilung des Landes verfestigt wurde. Der Konflikt zwischen Nord und Süd hält auch heute noch an, nicht zuletzt aufgrund der Machthaberstruktur in Nordkorea.
Ein wesentliches Thema in diesem Roman ist die Diskriminierung der koreanischen Bevölkerung in Japan. Diese Diskriminierung fand ihren Anfang während der Kolonialzeit und ist auch heute noch in den Köpfen vieler Japaner und Koreaner verwurzelt. In der Zeit zwischen 1910 und dem Ende des 2. Weltkrieges sind viele Koreaner nach Japan ausgewandert - einige aus freien Stücken, aufgrund der besseren Arbeitsmöglichkeiten, andere wiederum wurden zwangsausgesiedelt, um die japanische Industrie aufzubauen. Mit dem Ende des 2. Weltkrieges sind viele Koreaner wieder in ihre Heimat zurückgekehrt, andere wiederum blieben, weil sie sich in Japan eine Existenz aufgebaut haben bzw. nur einen geringen Bezug zur alten Heimat hatten. Dies betraf insbesondere die jüngere Generation. Egal, ob in Japan oder Korea angesiedelt, Koreaner waren (und sind) für Japaner Menschen zweiter Klasse und werden auch als solche behandelt. Bestenfalls sind sie in Japan geduldet, aber selten akzeptiert.

"' .. Dieses Land wird sich nie ändern. Koreaner wie ich können nicht weggehen. Wo sollen wir hin? Aber die Koreaner zuhause ändern sich auch nicht. In Seoul werden solche wie ich japanische Bastarde genannt, und in Japan bin ich immer weiter ein schmutziger Koreaner, egal, wieviel Geld ich verdiene oder wie nett ich bin. So ist das! ..'"

Vor diesem Hintergrund ist die Geschichte der Familie um Sunja angesiedelt. Sunja ist in einem kleinen Dorf in Korea geboren. Die Familie hält sich nach dem Tod des Vaters mit einem Logierhaus über Wasser. Als Sunja heiratet, zieht sie mit ihrem Mann Isak, einem christlichen Geistlichen, nach Japan. Hier lebt die Familie über Jahre zusammen mit Isaks Bruder und dessen Frau. Sunja bekommt zwei Söhne, Noa und Mozasu, die zwischen 2 Kulturen leben. Über ihre familiären Wurzeln bekommen sie die koreanische Kultur vermittelt, lernen aber gleichzeitig, dass sie als Koreaner in ihrem Geburtsland Japan nicht willkommen sind. Die Jahre vergehen, die politische Situation verändert sich, Familienmitglieder sterben und Familienmitglieder werden geboren. Die Familie bringt es mit den Jahren zu einigem Wohlstand, nichtzuletzt aufgrund ihres Unternehmertums im Glückspiel, dem Pachinko.

"Für Mosazu war das Leben wie ein Spiel, bei dem der Spieler die Rädchen einstellen konnte, aber auch mit Faktoren rechnen musste, die außerhalb seiner Kontrolle lagen und Ungewissheit bedeuteten. Er verstand, warum seine Kunden an einer Maschine spielen wollten, die vorhersagbar schien, aber trotzdem Platz für Zufall und Hoffnung ließ."

Min Jin Lee liefert mit diesem Roman ein beeindruckendes Porträt einer Gesellschaft, die mir bisher mehr als fremd war. Sie konzentriert sich dabei auf die persönlichen Schicksale ihrer Charaktere. Durch stetig wechselnde Erzählperspektiven lässt sie nahezu jedes Familienmitglied zu Wort kommen und bringt sie dem Leser näher. Darüberhinaus gibt sie auch noch Randfiguren Raum, um deren persönliche Schicksale zu beleuchten. Das Ergebnis ist ein schillerndes Bild einer Gesellschaft, die versucht, als ethnische Minderheit in Japan zurechtzukommen.

Dieser Roman lässt sich jedoch nicht auf das Thema der Diskriminierung reduzieren. Min Jin Lee packt viele Themen an, die für den Alltag in Korea bedeutsam sind: Familienleben, Bedeutung des Ehrbegriffs, Rolle der Frau ... um nur einige zu nennen.

Die Autorin hat nicht nur viel erzählen, sie erzählt es auch auf eine wunderschöne Weise. Als ich die ersten Sätze dieses Roman gelesen habe, stellte sich bei mir eine merkwürdige Stimmung ein: In meinen Kopf tauchten ganz viele Bilder auf, die jedoch alle hinter einem zarten Schleier lagen. Damit will ich sagen, von jetzt auf sofort ist man in einer völlig fremden Welt, die eine ungeheure Fasziniation ausübt.
Diese "Schleier"-Stimmung habe ich irgendwann nicht mehr wahrgenommen. Ich habe Min Jin Lees Sprachstil jedoch als sehr lebhaft und eindringlich empfunden. Sie versteht es, den Leser zu fesseln. Die Handlung hat eine treibende Kraft, die mich in den Bann gezogen hat. Einerseits berührt sie den Leser, lässt ihn Anteil nehmen an den Sorgen und Nöten der Charaktere. Andererseits lässt sie aber immer noch genügend Distanz zu, so dass die Stimmung niemals ins Rührselige umschlägt.

Fazit:
Ein großartiges Familienepos aus einem fremden Kulturkreis! Eines meiner Highlights in diesem Jahr! Leseempfehlung!



Hört sich wirklich interessant an - Bücher aus fremden Kulturen, aus denen man noch etwas "mitnehmen" kann, um evtl. vorhandene Bildungslücken zu schließen, lese ich auch sehr gerne.