Rezension Rezension (4/5*) zu Wie man die Zeit anhält: Roman von Matt Haig.

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Buchinformationen und Rezensionen zu Wie man die Zeit anhält: Roman von Matt Haig
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Der Sinn des Lebens

"Die erste Regel lautet, du darfst nicht lieben", sagte er. "Es gibt noch andere Regeln, aber das ist die wichtigste. Du darfst dich niemals verlieben. Niemals lieben. Niemals von der Liebe träumen. - Solange Sie sich daran halten, kommen Sie durch." (7)

Welch grauenhafte Vorstellung, zu leben ohne lieben zu dürfen. Doch Tom Hazard, Geschichtslehrer in London, soll sich an diese Regel halten, um am Leben zu bleiben. Obwohl er aussieht, als sei er 40 Jahre alt, ist er 439, geboren am 3.März 1581 in einem französischen Chateau. Er leidet unter Anagerie:

"verschiedene Aspekte des natürlichen Alterungsprozesses - die molekulare Degeneration, die Zellvernetzung im Gewebe, Mutationen auf Zell- und Molekularebene" (12) laufen verlangsamt ab. Dazu kommt ein besonders intaktes Immunsystem, das vor den meisten Krankheiten schützt. Hört sich perfekt an.

Doch Tom Hazard, der aus seiner Ich-Perspektive die Geschichte an ein "Du" gerichtet erzählt, empfindet sein Leben als Belastung. Denn die "Eintagsfliegen", die normal Alternden, werden misstrauisch, wenn die "Albatrosse", wie sich die Langlebigen selbst nennen, nicht altern. Fast dreihundert Jahre hat sich Tom alleine durchgeschlagen, immer wieder den Lebensmittelpunkt verändert, tiefe Depressionen durchlaufen - nur die Suche nach seiner Tochter, die auch nicht altert, hält ihn am Leben.

"Oft verlor ich bei meiner Suche alle Hoffnung. Ich suchte nicht nur nach einem vermissten Menschen, sondern auch nach dem anderen, das mir abhandengekommen war - Sinn. Bedeutung. Mir kam der Gedanke, dass die Menschen deswegen nicht älter als hundert wurden, weil sie es einfach nicht länger aushielten. Seelisch, meine ich. Irgendwann ging einem schlicht die Puste aus. Da war nicht genug Ich, um weiterzumachen." (43)

Eine feste Konstante in seinem Leben ist die Musik, im 16.Jahrhundert spielte er in London auf dem Markt Laute, in den 20er Jahren in Paris Klavier.

Sein Leben bessert sich scheinbar, als er von der Albatros-Gesellschaft rekrutiert wird, die Menschen wie ihn schützt. Hendrich, der Kopf dieser Gesellschaft, ist selbst 700 Jahre alt und ermöglicht ihm alle acht Jahre ein neues Leben - unter der Prämisse einen Auftrag zu erledigen und - sich niemals zu verlieben.

"Ich habe nur einmal im Leben wirklich geliebt. Ich schätze, das macht mich irgendwie zum Romantiker." (32)

Das war er im Jahre 1599, seine große Liebe Rose, eine Obstverkäuferin, hat Tom in London kennen gelernt. Aus Frankreich musste er mit seiner Mutter fliehen, da sie als Hugenotten verfolgt wurden. Erst in der Pubertät hörte Tom auf zu altern - mit Folgen für seine Mutter.

In der Gegenwart lebt er wieder in London, als Geschichtslehrer - der perfekte Beruf - hat er doch selbst Größen der Geschichte erlebt, wie Shakespeare, Charly Chaplin, Scott Fitzgerald, Captain Cook, den er auf seinen Forschungsreisen begleitet hat.

Zum Lehrerkollegium gehört die Französischlehrerin Camille, die ihn wiedererkennt, woher weiß sie jedoch nicht. Damit bringt sie sich selbst in Gefahr, denn die Albatros-Gesellschaft hütet ihr Geheimnis - um jeden Preis - aus Angst ein Spielball der Wissenschaften zu werden.

Für Tom eine prekäre Situation - in zweifacher Hinsicht, denn Camille gefällt ihm und er mag sie. Was soll er tun?

Bewertung
Die Idee, die dem Roman zugrunde liegt, mag nicht neu sein, hat mich beim Lesen aber sofort in ihren Bann gezogen. Würde man so langsam alt werden, wie viel Zeit hätte man, um all die Bücher zu lesen, die man immer schon mal lesen wollte, wie @Momo so schön formuliert hat.
Aber ohne feste Bindungen und Liebe zu leben - ohne Freunde, immer wieder neu zu beginnen - das schmälert den Reiz ein Zeitzeuge zu sein und jahrhundertelang zu leben. So wirft der Roman, neben der spannenden und unterhaltsamen Lebens- und auch Liebesgeschichte, die er erzählt, durchaus existentielle Fragen auf, ohne sich in philosophischen Diskursen zu ergehen. Es bleibt ein Unterhaltungsroman, dessen Ende vorhersehbar ist und der die Leser*innen mit einem guten Gefühl entlässt und uns beiden gut gefallen hat.