Rezension Rezension (5/5*) zu Kleine Feuer überall: Roman von Celeste Ng.

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Nach dem Brand kann Neues wachsen.

Worum geht es?

"In jenem Sommer redeten alle in Shaker Heights darüber, wie Isabelle, das jüngste Kind der Richardsons, endgültig durchdrehte und das Haus abfackelte. Während das ganze Frühjahr über die kleine Mirabelle McCullough Gesprächsthema gewesen war - beziehungsweise, je nachdem, auf welcher Seite man stand, May Ling Chow-, gab es endlich neuen aufregenden Gesprächsstoff." (9)

Bereits dieser erste Satz enthält den Kern der ganzen Geschichte. Hat Isabelle tatsächlich das Haus ihrer Eltern angesteckt? Warum sollte sie dies tun?

"Der Feuerwehr zufolge waren es kleine Feuer überall" (15).

Und wer ist die kleine Mirabelle McCullough oder May Ling Chow?

Die Handlung springt ein Jahr zurück, zu dem Zeitpunkt, wenn die Fotokünstlerin Mia Warren mit ihrer 15-jährigen Tochter Pearl das kleine Haus an der Winslow Road von Mrs Richardson mietet, die Journalistin der Lokalzeitung ist. Ihr Mann, ein angesehener Anwalt, und die vier Kinder Lexie, Trip, Moody und Isabelle (12.,11.,10, und 9.Klasse) bilden die zur gehobenen Mittelschicht gehörende Familie Richardson, die in einem großen Haus in Shaker Heights, Ohio, lebt und der es an nichts mangelt.

Shaker Heights, das tatsächlich existiert und in dem die Autorin Ng selbst aufgewachsen ist, ist eine auf dem Reißbrett entstandene Stadt, in der es viele Regeln gibt.

"Dahinter stand die Überzeugung, dass sich Unschickliches, Unangenehmes und Katastrophales vermeiden ließ, wenn man alles nur gut durchdachte." (20)

Moody, der in die gleiche Klasse wie Pearl geht, unterscheidet sich von seinen zunächst oberflächlich und selbstbewusst erscheinenden älteren Geschwistern Lexie und Trip. Während in Shaker Heights niemand Rad fährt, sondern alle mit dem Auto unterwegs sind, widersetzt er sich diesem ungeschriebenen Gesetz und benutzt ein altes Fahrrad ohne Gangschaltung.
Neugierig auf die neuen Mieter besucht er sie und freundet sich mit der gleichaltrigen Pearl an.

"In seinem Leben gab es jetzt ein Davor und ein Danach, und er würde beide immer miteinander vergleichen." (31)

"Ihr vagabundierender, unkonventioneller Lebensstil gefiel ihm, denn im Inneren war Moody ein Romantiker." (42)

Bisher ist Mia immer dann umgezogen, wenn sie ein neues Fotoprojekt abgeschlossen hat. Mit Gelegenheitsjobs überbrückt sie finanzielle Engpässe, bis ihre Galeristin Anita in New York eines ihrer Fotos verkauft hat. Doch jetzt will sie bleiben, das verspricht sie Pearl, die zum ersten Mal wagt, Bindungen einzugehen.

Moody nimmt sie mit zu seiner Familie, zu Lexie und Trip, die nachmittags auf dem Sofa lümmeln, sich gemeinsam Jerry Springer ansehen und darüber streiten.

"Diese Familie verwirrte sie: mit ihrem lässigen Selbstbewusstsein, ihrer offenkundigen Zielstrebigkeit, egal zu welcher Tageszeit. Wenn Moody sie einlud, verbrachte sie Stunden bei ihnen" (47).

Lexie nimmt Pearl unter ihre Fittiche, geht mit ihr "shoppen", nimmt sie mit zu einer Party, auf der sie sie allerdings stehen lässt.
Während sich Pearl in den gut aussehenden Trip verliebt, der sie zunächst kumpelhaft behandelt, entwickelt Moody mehr als freundschaftliche Gefühle für Pearl - eine Konstellation, die für Konflikte sorgen wird.

Nur Isabelle scheint außerhalb dieser Beziehungen zu stehen, sie fällt aus dem Familien-Rahmen:

"Mit zehn war Izzy verhaftet worden, als sie sich in die Humane Society eingeschlichen hatte, um sämtlich streundenden Katzen zu befreien." (54)

Isabelle war eine Frühgeburt, so dass Mrs Richardson von Anfang an Angst um sie gehabt hat, bei "Izzys Anblick überkam sie jedes Mal das Gefühl, dass alles außer Kontrolle geraten konnte wie ein Muskel, den man nicht entspannen konnte." (129)

Ihre permanenten Sorgen um die jüngste Tochter arten mit der Zeit in einen Groll aus, da sich Izzy der Kontrolle entzieht und sich den Grenzen der Mutter, die diese aus Angst gezogen hat, widersetzt.

Während sich Pearl am liebsten bei den Richardsons aufhält, ist es bei Isabelle umgekehrt. In einem Anflug von "Güte" stellt ihre Mutter Mia als Haushälterin ein, die morgens und abends sauber macht und Essen vorbereitet, damit sie den Rest der Zeit an ihren Projekten arbeiten kann. Ein Angebot, das Mia annimmt, um ihre Tochter im Auge zu behalten. Als Izzy von der Schule suspendiert wird, erzählt sie Mia die wahre Geschichte, deren Frage: "Was willst du jetzt tun?" (98), bringt sie aus dem Konzept.

"Aus diesen Worten sprach die Erlaubnis, etwas zu tun, das man ihr immer verboten hatte: eine Sache selbst in die Hand zu nehmen und Ärger zu machen." (98)

Izzy fühlt eine Verbundenheit zu Mia und bietet ihr an ihre Assistentin zu werden, so dass die Bande zwischen den unterschiedlichen Familien enger werden.

Zwei Ereignisse forcieren die folgende Handlung:
1. Während eines Museum-Besuches entdeckt Pearl eine Fotografie der bekannten Künstlerin Pauline Hawthorne, auf dem ihre Mutter gemeinsam mit ihr als Baby zu sehen ist. Izzy bittet daraufhin, ihre Mutter herauszufinden, wie das Bild ins Museum kommt.

2. Die kleine Mirabelle, die bereits im ersten Satz des Romans Erwähnung findet, wurde von ihrer Mutter vor die Tür einer Feuerwache(!) gelegt. Das wohlhabende Ehepaar McCullogh, die seit Jahren versucht Kinder zu bekommen, hat die Kleine bei sich aufgenommen und bereits ein Adoptions-Verfahren eingeleitet. Per Zufall kennt Mia jedoch die leibliche Mutter -Bebe, eine Chinesin, die ihr Kind gerne zurück hätte, da sich ihre verzweifelte Lebenslage verbessert hat, die jedoch von Seiten der Behörden keinerlei Unterstützung erhält.

"Mit dem Zurücklassen des Kindes, erklärte ihr die Polizei, habe sie ihre Recht verwirkt." (141)

Mia informiert Bebe über den Verbleib ihres Kindes und entfacht damit einen Feuersturm, in den sie selbst gerät. Denn jetzt ist Mrs. Richardson, die auf der Seite ihrer besten Freundin Linda McCullogh steht, bestrebt, das Geheimnis um Mias Foto zu lüften.


Bewertung
Dieser Roman ist so vielschichtig, dass ich nur einige Fragen aufwerfe, vor die man bei der Lektüre gestellt wird und die mich lange beschäftigt haben:

Warum wühlt Mrs Richardson in Mias Leben und besucht sogar deren Eltern. Eine übergriffige Handlung, wie kann sie das vor sich selbst rechtfertigen?

"Nicht einmal vor sich selbst würde sie zugeben, dass es gar nicht um das Baby gegangen war. Es war um etwas Kompliziertes gegangen, um das dunkle Unbehagen, das diese Frau in ihr auslöste und das Mrs Richardson lieber unter Verschluss gehalten hätte." (161)

Der Roman stellt mit Shaker Heights und den Richardsons auf der einen Seite und der Künstlerin Mia auf der anderen Seite zwei konträre Lebensentwürfe gegenüber und Mrs Richardson muss sich so mit ihren Lebensentscheidungen und ihrem dunklen Unbehagen, den Grautönen auseinander setzen.

"Warum sollte jemand anders leben wollen als Sie?" (344)

Die Protagonisten des Roman werden immer wieder vor ein moralisches Dilemma gestellt:
Zu wem gehört die kleine Mirabelle oder May Ling Chow? Zu ihrer biologischen Mutter oder zu der Familie, die ihre die besten Lebenschancen geben kann und sie auch von Herzen liebt?
Und was ist mit ihrer Kultur? Ihrer chinesischen Herkunft? Wie soll der Richter entscheiden?
Hat die Mutter mit dem Aussetzen des Kindes ihr Recht verwirkt? Hat sie eine 2.Chance verdient?

Die Antworten auf diese Fragen sind nicht einfach zu geben und werden von den Beteiligten ausführlich diskutiert - es gibt immer mehrere Sichtweisen und nicht immer helfen Regeln weiter.

"Das Problem mit Regeln aber war, (...) dass sie eine richtige und eine falsche Handlungsweise voraussetzten. Meistens war es doch aber so, dass kein Weg ganz falsch und ganz richtig war und man sich eher auf einer Gratwanderung befand." (307)

Alle Figuren begeben sich auf diesen schmalen Grat und müssen wichtige Entscheidungen treffen oder haben sie bereits getroffen und müssen jetzt mit den Folgen leben.
Daneben steht auch das Beziehungsgeflecht zwischen den Jugendlichen mit Verliebtsein, Freundschaft, erstem Sex, Trennung und Verrat im Zentrum des Romans.

Und dann bleibt die Frage, wer die kleinen Feuer gezündet hat. War es wirklich Izzy und warum sollte sie das tun?

Last but not least, die wunderbare Sprache, die zum Mitfühlen einlädt - und jetzt ist Schluss.
Meine Empfehlung, den Roman lesen! Es lohnt sich.