Rezension Rezension (3/5*) zu Mister Aufziehvogel: Roman von Haruki Murakami.

Querleserin

Bekanntes Mitglied
30. Dezember 2015
4.048
11.068
49
50
Wadern
querleserin.blogspot.com
Buchinformationen und Rezensionen zu Mister Aufziehvogel: Roman von Haruki Murakami
Kaufen >
Das Reale muss nicht wahr, die Wahrheit nicht real sein

Eigentlich ist der magische Realismus nicht mein bevorzugtes Genre. "Die gefährliche Geliebte", der einzige Roman, den ich bisher von Murakami gelesen habe, hat mehr Fragen als Antworten hinterlassen. Trotzdem habe ich zugestimmt, als Mira vorgeschlagen hat, diesen Roman zu lesen. Unsere Lektüre war ebenso wie unser Austausch über unzählige Sprachnachrichten und ein langes Telefonat sehr intensiv. Gegenseitig haben wir uns motiviert, bis zum Ende durchzuhalten. Hat es sich gelohnt?

Worum geht es?
Im Mittelpunkt steht der 30-jährige Toru Okada, der seine Stellung in einer Anwaltskanzlei kündigt und auf der Suche nach einem Neuanfang ist. Immer wieder hört er vom Haus aus

"den mechanischen Ruf eines Vogels (...), der so klang, als zöge er eine Feder auf. Wir nannten ihn den Aufziehvogel. Kumiko hatte ihn so getauft. Wir wußten nicht, wie er wirklich hieß oder wie er aussah, aber das störte den Aufziehvogel nicht. Jeden Tag kam er zur nahen Baumgruppe und zog die Feder unserer ruhigen kleine Welt auf." (S.14)

Doch diese ruhige Welt, in der Toru mit seiner Frau Kumiko lebt, gerät aus den Fugen. Zunächst ist ihr gemeinsamer Kater Noboru Wataya, benannt nach Kumikos Bruder, verschwunden und Toru soll sich auf die Suche nach ihm machen. Dazu klettert er über die Mauer hinter dem Haus in eine Gasse, deren Anfang und Ende zugemauert wurde und begibt sich zu dem verlassenen "Selbstmörderhaus" (Alle Menschen, die dort gewohnt haben, haben Selbstmord begangen). Dabei lernt er die 16-jährige May Kasahara kennen, die sich weigert zur Schule zu gehen und ein dunkles Geheimnis hat. Sie zeigt ihm auf dem verlassenen Gelände einen ausgetrockneten Brunnen, neben dem "Aufziehvogel" ein weiteres Dingsymbol, das den Roman durchzieht.
Die seltsamen Ereignisse häufen sich. Toru wird von einer "Seherin", Malta Kano, angerufen, die ihm helfen soll, den Kater zu finden. Er lernt deren Schwester Kreta Kano kennen, die ihm ihre Lebensgeschichte offenbart, in der Kumikos Bruder eine unheilvolle Rolle spielt, da er sie "beschmutzt" hat. Daneben wird Toru von einer Telefon-Sex-Frau belästigt und plötzlich ohne Vorwarnung verlässt ihn seine Frau und verschwindet spurlos. Toru stellt sich die Frage:

"Und ist es für einen Menschen überhaupt möglich, einen anderen vollkommen zu verstehen?" (S.34)

Ob die Abtreibung, die Kumiko entschieden hat, eine zentrale Rolle für die folgenden Ereignisse gespielt hat? Oder ihr Bruder, der als Politiker Karriere macht und von dem eine dunkle Macht auszugehen scheint und den Toru vollständig ablehnt? Auch Kumikos Brief, in dem sie zugibt, ihn betrogen zu haben, löst das Rätsel ihres Verschwindens nur unzureichend.

Torus Leben wird in dieser Zeit vor allem von Träumen bestimmt und oftmals fällt es schwer Traum und Realität auseinander zu halten. Weitere Figuren treten auf, wie der Leutnant Mamiya, dessen Lebensgeschichte ebenfalls im Verlauf der Handlung erzählt wird. Er wird im Jahre 1937 in die Mandschurei geschickt und landet während eines missglückten Geheimauftrages in einem ausgetrockneten Brunnen - zum Sterben verdammt. Doch er wird gerettet und indem er Toru seine Leidensgeschichte erzählt, erfahren wir etwas über die Geschichte Japans am Ende des 2.Weltkrieges.

Jener Brunnen inspiriert Toru in den ausgetrockneten Brunnen des Unglückshauses zu steigen - keine Szene für Klaustrophobiker (wie mich). Er versucht ins Unterbewusstsein hinabzusteigen, sich von seinem Körper zu trennen und einen Weg zu Kumiko zu finden, die er in seinen Träumen sucht. Gezeichnet verlässt er den Brunnen und schließlich tauchen noch zwei weitere Figuren auf: Muskat und Zimt Akasaka - Mutter und Sohn, deren Lebensgeschichte erneut ins besetzte China in einen Zoo zurückführt, in dem Muskats Vater als Tierarzt gearbeitet hat.

"Während ich Zimt die Geschichte erzählte, sah ich alle Farben und Formen klar und deutlich vor mir, und es gelang mir, das, was ich sah, in Worte zu fassen - in genau die Worte, die ich brauchte - und ihm dadurch alles zu vermitteln. In jede Richtung ging es endlos weiter. Es gab immer weitere Details, die sich zusätzlich einfügen ließen, und die Geschichte gewann immer mehr an Tiefe und Weite und Raum." (S.562)

Das passt auch genau zu diesem Roman, viele Details, Lebensgeschichten, Unterbewusstsein, Traum, was ist noch wirklich?
Da gelingt es nicht immer den roten Faden festzuhalten, auch wenn am Schluss das lose Ende wieder auftaucht, bleiben viele Fragen offen.


Bewertung
Magischer Realismus - die Grenzen zwischen Traum und Realität verschwindet. Unterbewusstes scheint real und erfordert von den Leser*innen sich auf diese teils surrealen Welten einzulassen.
Das ist nicht immer leicht, weil in diesem Roman die Grenzen fließend sind und ein klare Struktur fehlt. Es gibt sehr viele Figuren und ihre Geschichten, die für sich gesehen, sehr interessant sind, fließen ebenfalls ineinander. Die Zusammenhänge zu erkennen ist schwierig und fordert zur Interpretation heraus. Psychoanalytiker*innen hätten sicherlich ihre Freude an diesem Roman.

In unserem Telefongespräch haben Mira und ich versucht, die Situation Kumikos, die von ihrem Bruder ebenfalls "beschmutzt" wurde, zu deuten. Der Brunnen, der am Ende wieder Wasser spendet, als Zeichen dafür, dass sich Toru seinen Gefühlen hingibt, einen Zugang zu den Gefühlen Kumikos erreicht, die Barrieren zu ihr überwunden hat, ein tiefes Verständnis ihrer Situation erreicht.
Während in Torus Brunnen das Wasser zurückkehrt, vielleicht auch, weil er seinen Widersacher zumindest im Traum niedergestreckt hat, bleibt Leutnant Mamiya Brunnen trocken - ihm gelingt die Rache an seinem Feind nicht - eine Kontrastfigur zu Toru, weil er keinen Frieden und Glück finden kann?
Aufgefallen sind uns die vielen gewalttätigen Szenen, die die Schilderungen des Krieges zwischen Japan und Russland mit sich bringen. Aber auch Toru schlägt einen Sänger nieder und gerät so an einen Baseballschläger. Andere Szenen sind ebenfalls grausam - wie die Tötung der Tiere im Zoo. Vieles möchte man überlesen und schnell wieder vergessen.
Ein Roman, der zur Auseinandersetzung auffordert und sich nicht ohne Weiteres erschließt.

 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.240
49.145
49
Ich hatte mich in diesem Jahr ja für "Naokos Lächeln" entschieden und euch über meinen Frust während des Lesens auf dem Laufenden gehalten.
Der Autor ist definitiv nichts für mich: zu schwermütig, zu kompliziert, zu magisch.
Diese Rezension (die wie immer gut gemacht ist von der Querleserin) bestätigt mir, was ich schon wusste: kein weiterer Murakami mehr für mich:confused: