Rezension Rezension (5/5*) zu Die Hauptstadt: Roman von Robert Menasse.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die Hauptstadt: Roman von Robert Menasse
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Europa endlich literarisches Thema

Vor 60 Jahren wurden die Römischen Verträge geschlossen, die den Weg hinein in die Europäische Union eröffneten. Die Entscheidung, auf dem Boden zerstörter, verfeindeter Nachbarstaaten, die sich jahrelang mit purer Feindschaft bekämpfend gegenüberstanden, eine europäische Staatengemeinschaft mit viel Gemeinsamkeit und vor allem mit einer demokratisch fundierten gemeinsamen Wertegrundlage zu bauen, hat uns mehr als 70 Jahre Frieden, Freiheit und weitreichenden Wohlstand gebracht. Dass dies für uns heute ein nicht nur wichtiges, sondern auch oftmals sperriges und absurdes politisches Gebilde im gefühlt so fernen Brüssel (und Straßburg) hervorgebracht hat, macht Robert Menasse in seinem nun mit dem Deutschen Buchpreis 2017 ausgezeichneten Romans „Die Hauptstadt“ zum Thema. Nach umfangreicher Recherchearbeit, versucht er in dem Roman, eine Reihe von Charakteren und Typen auftreten zu lassen, die in ihrer Vielfalt und Buntheit verschiedene Facetten des Lebens in dieser besonderen Stadt. Da ist zum Beispiel:
- Die griechische Zypriotin Fenia Xenopoulos, die den Karrieresprung in die Generaldirektion Kultur eher als Abschiebung an den Rand des Geschehens auffasst und alles tut, um wieder in wichtigeren und angeseheneren Politikfeldern eingesetzt zu werden;
- Der österreichische Mitarbeiter Fenias – Martin Susmann - , dem bei einer Dienstreise nach Auschwitz der Gedanke kommt, dass das Erbe von Auschwitz und dessen Überlebende als gründungsstiftende Idee im Zentrum einer Jubiläumsfeier der EU-Kommission stehen sollten,
- Der Brüsseler Kommissar Brunfaut, dessen Aufklärung eines Mordes in Brüssel auf Basis politischer Unwägbarkeiten irgendwie verlorengeht.
- Und viele andere mehr, die im Sinne eines Episodenromans lose verbunden nebeneinander und miteinander agieren.
Da sind verschiedene Handlungsstränge, die die Akteure antreiben und den Leser interessiert halten:
- Ein Schwein (oder mehrere Schweine?) tauchen an den verschiedensten Stellen Brüssels auf und bringen das urbane Leben durcheinander,
- Eine Person wird ermordet
- Das Projekt „Jubiläumsfeier der EU-Kommission“ wird entwickelt und im Gang durch die Institutionen langsam zu Grabe getragen
- Ein Lobbyist für die Sache der Schweinezucht drängt auf eine EU-Aktivität in Sachen Handelsabkommen der EU mit China und warnt vor den Folgen nationaler Alleingänge.
- Und vieles mehr.
Bei einer Lesung seines Romans konnte ich kurz nach dessen eigener Lektüre Robert Menasse selbst über das Buch und sein Entstehen reden hören und wurde ein zweites Mal in den Bann des Buches gezogen. Mit großer Leidenschaft berichtete Menasse dabei über seinen Entschluss, Europa zum Thema eines Romans zu machen, über den Umweg, den er über Essays dabei gehen musste (unter anderem veröffentlicht in: Robert Menasse: Der europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas, Zsolnay Verlag), über seine eigene intensive Recherchezeit in Brüssel, in der er sich im nun eher als „Terroristenviertel“ bekannt gewordenen Molenbeek eingemietet hatte. Und vor allem zeigte er seine große Begeisterung und Leidenschaft für das Projekt Europäische Union und die Möglichkeit, nationale Grenzen im Leben und in den Köpfen zu überschreiten.
FAZIT:
Ein wichtiger Roman zum richtigen Thema in richtiger Zeit, der auch noch literarische und sprachlich überzeugen kann. Er ermöglicht, auf durchaus sperrige Art und Weise dem Reiz des europäischen Projekts mit Schmunzeln und Erkenntnisgewinn nachzuspüren, in dem er den Aberwitz des politischen Alltags in der Vielfalt europäischer Kulturen und Interessen episodenhaft darstellt, dabei aber auch den Wert und die vielen Möglichkeiten eines gemeinsamen Handelns in Europa hervortreten lässt.
Mein Dank und mein Respekt an die Juroren des Deutschen Buchpreises 2017: Gute Wahl!
Meine 5 Sterne fallen da nur noch wenig ins Gewicht.