Bevor ich Eure Beiträge lese, gebe ich meine Erfahrung mit dieser Geschichte wieder.
Das erste Mal - Quergelesen: nett, zwei ungleiche Freundinnen, die eigentlich keine Freundinnen sind, Arm und Reich, Mutter-Tochter-Beziehung, eine Zugreise, surreale Stimmung, Symbolik
Beim zweiten Mal - intensiver gelesen (während eines Hinflugs): skurril, grotesk, Symbolik, die sich mir nicht erschloss.
Daher habe ich mich ein wenig mit Joy Williams beschäftigt. Das Internet gibt im deutschsprachigen Bereich noch nicht viel her, außer ein paar aktuellen Beiträgen zu dem vorliegenden Buch. Dennoch konnte ich denen entnehmen, dass sich in JW Stories ihre Wahrnehmung der amerikanischen Gesellschaft widerspiegelt: Rücksichtslosigkeit, Groteske, Grausamkeit. Ihre Themen sind Tod, Liebe, Trauer, Vergänglichkeit.
Diese Angaben sind dürftig, öffnen jedoch einen kleinen Spalt des Zugangs zu der Geschichte "Im Zug" und hoffentlich zu allen anderen.
Also machte ich mich ein drittes Mal über "Im Zug" her - und schon ging es besser.
(Ich glaube nicht, dass ich diese Geschichte in Gänze verstanden habe. Aber dafür haben wir ja uns.)
Was für mich klar ist: Man darf diese Geschichten nicht auf die Realitäts-Waage legen. JW fabuliert, fast jeder Satz strotzt vor Symbolik.
Als ich "Im Zug" schließlich nach dem dritten Mal beendet hatte, fiel mir spontan der Satz "das Leben ist eine Zugfahrt" ein.
Der Zug fährt von Norden nach Süden, hält zwischendurch an, fährt wieder zurück, "Ausblicke" tauchen ein zweites Mal auf, sind aber dennoch "unbekannt", Unvorhersehbares geschieht während der Fahrt, dennoch bewegt der Zug sich stetig voran - mal etwas langsamer, mal etwas schneller. Die Zugfahrt ist also genauso unberechenbar wie das Leben.
Und ständig flicht JW Themen in die Zugfahrt ein, die zum Leben eines Menschen dazugehören: Religion, (ganz schön häufig fällt der Ausruf "Herrgott!"), das Altern (Mr. Muirhead altert in einer Szene, S. 69), die Liebe (zu Oma Muirhead oder dem Retriever), und natürlich der Tod. (Violett (der Zug ist violett) gilt übrigens als Farbe des Todes). Ich glaube, wenn ich diese Geschichte noch ein paar Mal gelesen habe, fallen mir noch mehr Themen ein.
Und alles ist von JW Zynismus durchzogen, oft heiter, so dass ich mich an die surrealistische Malerei eines Magritte oder Dalí erinnert fühle, aber oft auch düster und hoffnungslos.
Da JW bisher nicht ins Deutsche übersetzt worden ist, finde ich es übrigens von dtv sehr mutig, "Stories" ohne Vorbereitung der deutschsprachigen Leserschaft zu veröffentlichen. Ich glaube, dass es notwendig ist, für dieses Buch Hintergrundinformationen zu haben, ansonsten besteht die Gefahr des Scheiterns an diesem Buch, sowohl für den Verlag als auch für den Leser, insbesondere, wenn dieser nicht in Gesellschaft liest (was wohl eher die Ausnahme ist).