1. Leseabschnitt: Vorwort, Teil I. Anfang bis einschl. Kapitel 4

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Zu den Übersetzungen:
Gleich auf der ersten Seite bemerkte ich mit Staunen, dass die Neuübersetzung vier Sätze im ersten Absatz hat. In meiner alten Übersetzung ist das nur ein einziger.
"Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen gerade dreizehn, als Winston Smith, das Kinn an die Brust gepreßt, um dem rauhen Wind zu entgehen, rasch durch die Glastüren eines der Häuser des Victory-Blocks schlüpfte, wenn auch nicht rasch genug, als daß nicht zugleich mit ihm ein Wirbel griesigen Staubs eingedrungen wäre."
Eigentlich ein No-Go, dieses Satzungetüm! Das bleibt aber nicht so. In Satzbau und Ausdruck ist die alte Ausgabe im allgemeinen nicht unbedingt komplizierter oder schwerfälliger als die neue.

Als Winston von der jungen Frau träumt, heißt es in der alten Ausgabe, dass er sieht, wie sie sich "das Kleid" herunter reißt. Das fand ich immer merkwürdig, denn er hat sie ja noch nie im Kleid gesehen; überhaupt scheinen weibliche Parteimitglieder keine Kleider zu tragen. In der Neuübersetzung steht da "die Kleider".

Eine Stelle hat mich staunen lassen, und zwar auf Seite 44 die Beschreibung des Nachbarn Parsons. In der neuen Ausgabe heißt es, dass er "an seiner Pfeife nuckelte", in meiner alten, dass er "seiner Pfeife Rauchwölkchen entlockte". Das ist für mich ein derart großer Unterschied, dass ich jetzt wirklich gern mal das Original zur Verfügung hätte.*)

Zum Vorwort: Ich finde ja, das Buch braucht kein Vorwort; möglicherweise verengt ein solches sogar den Blick auf mögliche Deutungen. Ich lese es lieber als Nachwort (bitte nicht übel nehmen). Vergesst aber nicht die Anmerkungen dies Übersetzers am Ende. Die sollte man wirklich im Auge behalten.

(* Hab's schon gefunden, der Originaltext ist online. Es steht da "between whiffs of hin pipe". Wie sollte man das möglichst wortgetreu übersetzen? Das "Nuckeln" ist sehr kindlich konnotiert, die entlockten Rauchwölkchen klingen mir zu intellektuell. Vielleicht "während er Wolken von Pfeifenrauch ausstieß"? Gott sei Dank bin ich kein Übersetzer, das ist ja echt schwierig.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Eigentlich ein No-Go, dieses Satzungetüm! Das bleibt aber nicht so.
Ich bin froh, dass man Thomas Mann nicht übersetzen muss. Ich liebe seine verschachtelten, intelligenten Sätze - wohl wissend, dass heute kein Mensch mehr spricht oder schreibt.
In der Alten Fassung Fassung ist es ein Ungetüm. Aber verständlich ist es dennoch:)
Satzbau und Ausdruck ist die alte Ausgabe im allgemeinen nicht unbedingt komplizierter oder schwerfälliger als die neue.
Den Eindruck habe ich auch.
Vergesst aber nicht die Anmerkungen dies Übersetzers am Ende. Die sollte man wirklich im Auge behalten.
Danke!
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Fast hätte ich den allerwichtigsten Übersetzungsunterschied vergessen: In meiner alten Fassung: "Der große Bruder sieht dich an!"
Ich erwähnte ja schon, dass mir mein verstorbener Papa das Buch vor fast 50 Jahren zum Lesen ans Herz legte. Dabei erwähnte er immer den Originalsatz "Big Brother is watching you". "... sieht dich an" ist wirklich was völlig anderes, dann hätte es vielleicht besser "sieht dir zu" heißen sollen. Wolff erwähnt in dem Interview in der AZ München auch die Übersetzung "... wacht über dich" - finde ich auch ganz sinnig, weil es doppeldeutig ist. Die Entscheidung, es einfach im Original zu belassen, finde ich aber absolut richtig. Es ist ja ein klassischer Satz, den sowieso jede(r) versteht.
 

Xanaka

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Ordnungsgemäß habe ich mit dem Vorwort begonnen. Das habe ich dann aber nach ein paar Seiten abgebrochen. Beim Lesen habe ich gemerkt, dass Robert Habeck sich im Vorwort bereits direkt auf das Buch und die Inhalte bezieht. Da ich das Buch noch nie gelesen habe, werde ich das Vorwort dann zum Ende einfach noch mal beginnen. Ansonsten bin ich noch mitten im Anfang. Mal sehen, wie es wird.
 
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Sassenach123

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Hier schon mal ein paar Eindrücke, den letzten Rest dieses Abschnittes werde ich jetzt lesen und auf eure Beiträge gehe ich heute Abend ein.
Ich habe zwar schon viel über den Roman gehört, aber ich habe ihn bisher noch nicht gelesen. Nach dem Vorwort bereue ich dies sogar ein wenig. Ich kann mir gut vorstellen, dass es stimmt und man den Roman so viele Jahre später anders wahrnimmt. Der Bezug zur Coronakrise und dem Social scoring ist eine gespenstische Vorstellung. Wir sind näher am gläsernen Menschen als bisher angenommen.
 

Querleserin

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Schon das Vorwort von Robert Habeck hat mich da ziemlich beruhigt. Die Übertragung der Relevanz des Stoffes in unsere Zeit ist ihm darin sehr gut gelungen. Die Botschaft: Er ist auch heute und gerade heute noch wichtig! Damit hat er mich gepackt. Also: rein in die Lektüre
Auch ich habe den Roman zu Beginn meines Studiums gelesen, noch unter dem Eindruck des Kalten Krieges, obwohl die Mauer schon gefallen war. Heute lese ich den Anfang ganz anders, wie Habeck im Vorwort beschreibt, ist es aktueller denn je, wenn man bedenkt, wie viel der Staat inzwischen über uns weiß und dass es auch bei uns aktuell schwierig geworden ist, differenziert und sachlich verschiedne Meinungen zu diskutieren. Das Phänomen der Filterblase finde ich sehr beunruhigend, da entstehen verschiedene „Teile“ der Gesellschaft, die sich kaum mehr berühren, und was ist dann Wahrheit?
Bei aller Utopie konnte sich Herr Wells offensichtlich keinen papierlosen Nachrichtenverkehr vorstellen, das ist irgendwie rührend.
Wenn man bedenkt, dass der Roman 1949 erschienen ist, verständlich, aber in vielen anderen Bereichen ist er sehr weitsichtig. Dieses ständige Gefühl beobachtet zu werden, durch den TeleSchirm etwa, ist schon sehr modern.

Der Bezug zur Coronakrise und dem Social scoring ist eine gespenstische Vorstellung. Wir sind näher am gläsernen Menschen als bisher angenommen.
und wir sind bereit, uns gläsern zu machen, indem wir alle möglichen, sehr privaten Daten in sozialen Medien von uns Preis geben.

Ich finde leider auch meine alte Ausgabe nicht mehr, die Neuübersetzung liest sich aber sehr gut und die zusammengeschriebenen Wörter mit Großschreibung passen in die heutige Zeit. Inhaltlich habt ihr das Meiste schon gesagt. Das Umschreiben der Vergangenheit ist neben der totalen Überwachung und der permanenten Indoktrination -die Erziehung der Kinder in Organisationen erinnert an die nationalsozialistischen Jugendorganisationen - das, was nachhallt. Beliebig kann die Partei das, was war nach Gutdünken verändern. Die „Wahrheit“ wird beliebig. Kein Wunder, dass das Tagebuch schreiben ein Akt der Rebellion darstellt. Ich lese gespannt weiter...
 

Xanaka

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Also, wie schon geschrieben, lese ich dieses Buch das erste Mal. Mir fällt die mitunter etwas andere Schreibweise auf, dass die Wörter groß und zusammengeschrieben werden z.B. NeuSprech. Das passt aber ganz gut. Insgesamt merke ich, dass ich das Buch versuche sehr aufmerksam zu lesen, weil es so viel zu entdecken gibt.

Winston Smith als Mitarbeiter des Ministeriums für Wahrheit finde ich sehr interessant. Auf der einen Seite erfüllt er pflichtgemäß und mit Eifer seine Aufträge. Diese gehen sogar so weit, dass er die Vergangenheit gerade rückt. Das war so eine Stelle, die ich mehrfach gelesen habe. Es ist so unglaublich.
Aber auf der anderen Seite regt sich in ihm Widerstand und er versucht die Wahrheit aufs Papier zu bringen. Leider gelingt ihm das überhaupt nicht. Eigentlich ist ihm ja auch klar, dass er sich damit absolut strafbar macht und es sowieso rauskommt. Um dann wieder zur Arbeit zurückzukehren und bei der HassMinute mitzumachen. Ich bin wirklich gespannt, wie es weitergeht.
 

Xanaka

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Zu lesen, wie Winston in seiner Wohnung nach dem kleinsten Winkel sucht, der nicht beobachtbar ist, zu lesen, wie er sich bewusst ist, dass das kleinste "unangemessene" Gesichtszucken verräterisch ist oder auch die Wirkung der Hasseinheit auf ihn zu registrieren, ist immer noch ganz besonders!
Gut, dass ich diese Leseerfahrung mit Euch noch einmal machen kann!
Das war für mich auch extrem erschreckend. Diese Intensität der Überwachung zum Einen und auf der anderen Seite wird Winston ja durch den TeleSchirm permanent mit irgendwelchen Informationen konfrontiert. Die Privatsphäre in der eigenen Wohnung ist definitiv nicht vorhanden.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Furchtbar auch diese Kinder der Nachbarin! Völlig auf Parteilinie sind sie böse, dass sie nicht zur Hinrichtung gehen durften. Die Mutter Blass und grau, wird der Blagen nicht Herr, die Winston noch mit der Schleuder beschießen. Degeneriert.
Das was dahinter steckt hat mich noch viel mehr schockiert. Die Eltern trauen sich gar nicht ihre Kinder zu erziehen, aus Angst denunziert zu werden. Unglaublich
 

Sassenach123

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Bei Winston hat man förmlich das Gefühl das er ausbrechen möchte, diesen Druck hinter sich lassen möchte. Doch das ist leichter gesagt als getan, er macht brav alles mit, auch wenn es noch so unangenehm ist, und macht einen unbeteiligten Eindruck. Denke da an die Turnübungen:p
Es ist schon Wahnsinn wie viel man auf die heutige Zeit anwenden kann. Ob der Roman in 50 Jahren immer noch, oder schon wieder aktuelle Elemente vorweisen kann?
 

Die Häsin

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Rhönrand bei Fulda
Ich habe im letzten Jahr "Vox" von Christina Dalcher gelesen. Da geht es um eine Gesellschaft, in der Frauen idealerweise täglich höchstens 100 Worte sprechen sollen. Das Buch ist in Ich-Form aus der Sicht einer Frau geschrieben (wenn ich mich richtig erinnere), und sie hat eine kleine Tochter, die total stolz ist, dass sie die 100 Worte sogar noch unterbietet. Fand ich damals auch ziemlich krass ...
 
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Sassenach123

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Ich habe im letzten Jahr "Vox" von Christina Dalcher gelesen. Da geht es um eine Gesellschaft, in der Frauen idealerweise täglich höchstens 100 Worte sprechen sollen. Das Buch ist in Ich-Form aus der Sicht einer Frau geschrieben (wenn ich mich richtig erinnere), und sie hat eine kleine Tochter, die total stolz ist, dass sie die 100 Worte sogar noch unterbietet. Fand ich damals auch ziemlich krass ...
Das habe ich auch gelesen. Die Mutter war glaube ich sogar eine berühmte Wissenschaftlerin, und dann schwups, war Mund halten angesagt.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Das was dahinter steckt hat mich noch viel mehr schockiert. Die Eltern trauen sich gar nicht ihre Kinder zu erziehen, aus Angst denunziert zu werden. Unglaublich
Eine perfekte Indoktrination, so schaltet man alle Andersdenkenden schnell aus. Ein furchtbarer Gedanke die eigenen Kinder könnten sich gegen dich stellen.
 

ulrikerabe

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14. August 2017
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Der jetzige „TeleSchirm“ ist in der alten Übersetzung ein „Televisor“, da gefällt mir die alte Version besser. „NeuSprech“ hieß „Neusprache“, „DoppelDenk“ – „Zwiegedanke“, „SpechSchreib“ – „Sprechschreiber“ … Nur mal so interessehalber, hat jemand die englische Version? Ich wüsste gerne, wie diese Begriffe im Original heißen.

Here we are :):
telescreen, newspeak, doublethink, speakwrite
die Ministerien heißen Minitrue, Minipax, Miniluv, Miniplenty (vgl. S. 25)
 

ulrikerabe

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14. August 2017
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Ich habe das Buich 1987/88 gelesen, dann vor etea 2 Jahren in der Hörbuchdassung gehört und jetzt lese ich eben dies Version.

Mir ergeht es beim Lesen so wie es im Vorwort steht: "Damals" also in unseren 1980ern hatte das Bich nichts mit meinem Leben zu tun. Der Vergleich zu der Sowjetdiktatur drängte sich auf, der Kalte Krieg war aktuell. Aber wir haben das alles nur aus den Nachrichten erlebt. Österreich eine Insel der Seligen.

Beim heutigen Lesen ist aber das Szenario gar nicht so weit weg, unsere Überwachung schaffen wir uns größenteils selber. Die Veränderung von Nachrichten, Fake News, Lügenpresse, Manipulation (echte wie verschwörungstheoretische), alles täglich zu lesen.
"Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Und wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit."
Geschichte schreibt immer der Gewinner, wer die Macht hat kontrolliert die Information. Auch in scheinbar gefestigten Demokratien, wie wir es ganz aktuell in allen möglichen Staaten beobachten können, demokratischen, wie weniger demokratischen.

Wenn die "paar Kubikzentimeter im Inneren deines Schädels" gefährdet sind, dann hat Winston recht: Gedenkenverbrechen führen nicht zum Tod, sie sind der Tod.
 
Zuletzt bearbeitet:

ulrikerabe

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14. August 2017
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S. 44 [zitat]"...einer von diesen bedingungslos ergebenen Trotteln, auf die sich die Partei fast noch mehr stützte, als auf die GedankenPolizei."[/zitat]
Es lebe die Prolokratie (damit sind nicht die Prolls aus dem Buch gemeint). Doch genau das ist es , wo ich mich bei den Neuen Rechten immer wieder frage, welche gefährlicher sind, die Anführer oder die träge Masse, die sich durch diese legitimiert fühlt.