1. Leseabschnitt: Vorwort, Teil I. Anfang bis einschl. Kapitel 4

Literaturhexle

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Hier diskutieren wir das Vorwort von Robert Habeck sowie die ersten 4 Kapitel, also Seite 5 bis73.
 

wal.li

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1. Mai 2014
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Bei dem Vorwort habe ich den Eindruck gewonnen, in Robert Habeck weckt die wieder neue Aktualität des Romans große Befürchtungen. Bei mir auch, ehrlich gesagt. Ich musste irgendwie an das Urteil gegen Nawalny denken, weil er seine Bewährungsauflagen nicht erfüllen konnte, schließlich lag er ja im Koma durch eine Vergiftung, für die möglicherweise der Staat verantwortlich ist, der die Bewährungsauflagen erteilt hat. Wenn es nicht so bitter wäre, wäre es echt schräg.
Der Beginn des Romans ist für mich gleich sehr beklemmend. Allerdings scheint diese Umerziehung gleich nach dem Krieg begonnen zu haben, da dann 1984 schon fast vierzig Jahre um sind, können sich viele nicht mehr an eine freiheitliche Ordnung erinnern. Und diese weiteren andauernden Kriege, bei denen der Gegner egal ist, kommen mir wie eine Beschäftigungstherapie vor. Die Menschen werden rundum manipuliert und tun zumindest so, als ob es ihnen gefällt.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Ich bin mit einem guten Maß an Ehrfurcht und auch Sorge an diese Lektüre gegangen, muss ich sagen. Ich befürchtete, dass die Lektüre in unserer Zeit ihren Schrecken verloren haben könnte. War der hervorgerufene Schrecken doch das besondere Merkmal und der große Schatz dieses Buches in meiner Jugend. Schon das Vorwort von Robert Habeck hat mich da ziemlich beruhigt. Die Übertragung der Relevanz des Stoffes in unsere Zeit ist ihm darin sehr gut gelungen. Die Botschaft: Er ist auch heute und gerade heute noch wichtig! Damit hat er mich gepackt. Also: rein in die Lektüre!
Zunächst habe ich mich dabei erstmal etwas einer formalen Fragestellung gewidmet und noch nicht so richtig dem Stoff: Was an der Übersetzung ist eigentlich neu? Warum brauchen wir eine neue Übersetzung? Ich hatte ein wenig Sorgen, dass der Text seine Wortschöpfungen, die über das Buch hinausragende Bedeutung gewonnen haben, wie NeuSprech u.a. verloren haben könnte. Hat er aber nicht! Die sind noch drin!
Auch wenn mich diese Fragen noch weiterhin beim Lesen etwas umtreiben, war ich dann doch spätestens in Kapitel 4 - das Kapitel, in dem Winstons Arbeit beschrieben wird - so richtig drin. Ja, es gruselt noch! Sage ich beruhigt. Zu lesen, wie Winston in seiner Wohnung nach dem kleinsten Winkel sucht, der nicht beobachtbar ist, zu lesen, wie er sich bewusst ist, dass das kleinste "unangemessene" Gesichtszucken verräterisch ist oder auch die Wirkung der Hasseinheit auf ihn zu registrieren, ist immer noch ganz besonders!
Gut, dass ich diese Leseerfahrung mit Euch noch einmal machen kann!
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Ich habe beim Lesen eine kleine Zeitreise in meine Jugend gemacht und mich daran erinnert, wie befremdet, ja entsetzt ich über den beiläufigen Satz war:
"Was er jetzt beginnen wollte, war ein Tagebuch. Das war nicht illegal (nichts war illegal, denn es gab gar keine Gesetze mehr), aber wenn es entdeckt wurde, würde er wahrscheinlich mit dem Tode oder zumindest fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit in einem Lager bestraft werden."

In einem Gemeinwesen, in dem die regierende Partei fortwährende Geschichtsfälschung betreibt, kann es natürlich nicht erwünscht sein, dass sich jemand privat etwas aufschreibt - ich dachte sofort an Klemperer und sein "Ich will Zeugnis ablegen". Und dann ist das Tagebuchschreiben per se eine Art subversiver Akt, weil es zeigt, dass jemand Geheimnisse hat.
Ich habe die Übersetzungen verglichen, dazu im Lauf des Tages noch ein, zwei Beispiele, die mir aufgefallen sind.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Da ich im Moment Schwierigkeiten habe, Hörbücher zu finden (und mich mich Leseverpflichtungen etwas verzettelt habe:D), habe ich mir 1984 aufs Ohr gelegt. Wunderbar hat Habeck sein Vorwort selbst gelesen und der Vorleser (Chr. Maria Herbst) ist ein Genuss. Ideal, wenn man das Buch dazu hat. Ich melde mich später zum ersten Abschnitt. Ich lese das Buch ja zum erstem Mal.
 

kingofmusic

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Ich konnte Alt- und Neu-Übersetzung noch gar nicht vergleichen, weil ich meine alte Ausgabe zu Hause nicht gefunden habe. Aber mir gefällt das bisher gelesene (bin jetzt am Anfang des 3. Kapitels) wieder sehr gut. Die morbide, faschistische Stimmung kommt gut zum Tragen und zum Ausdruck.
Ich habe den Tagebucheintrag von Winston von früheren Lektüren nicht mehr im Kopf, aber die krasse Schilderung des Kinofilms war schwer auszuhalten und hat mich in dem Moment regelrecht umgeworfen...Und auch der ZweiMinutenHass *grusel*. Was ich mich frage ist, ob die vielen zusammengesetzten Substantive in den älteren Übersetzungen auch Groß-und Kleinschreibung hatten und somit ein Teil von NeuSprech ist, oder ob es das erst in der Neuübersetzung gibt. Ich hoffe, ihr versteht was ich meine *g*. :D
 

Die Häsin

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Was ich mich frage ist, ob die vielen zusammengesetzten Substantive in den älteren Übersetzungen auch Groß-und Kleinschreibung hatten und somit ein Teil von NeuSprech ist, oder ob es das erst in der Neuübersetzung gibt. Ich hoffe, ihr versteht was ich meine *g*. :D

In meiner alten Übersetzung heißt es "Zwei-Minuten-Hass-Sendung" und "Hass-Woche". Irgendwo steht in der Neuausgabe - ich glaube, am Ende in den Anmerkungen -, dass Orwell entgegen den Regeln in Englisch diese Wörter mit großen Anfangsbuchstaben schrieb, deshalb hat der Übersetzer das so übernommen.
 

kingofmusic

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In meiner alten Übersetzung heißt es "Zwei-Minuten-Hass-Sendung" und "Hass-Woche". Irgendwo steht in der Neuausgabe - ich glaube, am Ende in den Anmerkungen -, dass Orwell entgegen den Regeln in Englisch diese Wörter mit großen Anfangsbuchstaben schrieb, deshalb hat der Übersetzer das so übernommen.
Danke! :cool:
 

sursulapitschi

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18. September 2019
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Das Vorwort von Herrn Habeck ist sehr mitreißend, empathisch und klug, ich hätte es nur sehr viel lieber als Nachwort gelesen.

Er hat recht mit jedem Gedanken, nur ist es so ein absoluter Kaltstart, eine kalte Dusche vorweg mitten hinein ins Thema. Ich hätte lieber erst das Buch gelesen und mich selbst erinnert, bevor ich lese, wie Herr Habeck das Lesen damals und jetzt empfand. Ich hätte auch gerne zuerst von NeuSprech und DoppelDenk gelesen, bevor ich eine Interpretation dazu geboten kriege. So habe ich es eher unwillig gelesen, was eigentlich schade ist.

Das Buch selbst ist ein Pageturner, nach wie vor. Ein Buch, das ich damals fasziniert in einem Rutsch gelesen habe, ich erinnere mich. Jetzt fesselt es genauso, eine tolle Mischung aus bösem Humor und schrecklicher Tristesse.

Besonders faszinierend fand ich die Beschreibung von Winstons Arbeit und Arbeitsplatz mit den Erinnerungslöchern und dem Rohrpostgewusel. Bei aller Utopie konnte sich Herr Wells offensichtlich keinen papierlosen Nachrichtenverkehr vorstellen, das ist irgendwie rührend.

Ich habe ab und an die alte und die neue Übersetzung verglichen und denke, das ist wohl einfach Geschmackssache. Der alte Text ist in keiner schrecklich altmodischen Sprache geschrieben, die dringend überarbeitet werden musste. Allerdings steht da: „Der große Bruder sieht dich an“. An dieser Stelle das englische „Big Brother is watching you“ zu übernehmen, ist viel eleganter.

Der jetzige „TeleSchirm“ ist in der alten Übersetzung ein „Televisor“, da gefällt mir die alte Version besser. „NeuSprech“ hieß „Neusprache“, „DoppelDenk“ – „Zwiegedanke“, „SpechSchreib“ – „Sprechschreiber“ … Nur mal so interessehalber, hat jemand die englische Version? Ich wüsste gerne, wie diese Begriffe im Original heißen.
 

sursulapitschi

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Da ich im Moment Schwierigkeiten habe, Hörbücher zu finden (und mich mich Leseverpflichtungen etwas verzettelt habe:D), habe ich mir 1984 aufs Ohr gelegt. Wunderbar hat Habeck sein Vorwort selbst gelesen und der Vorleser (Chr. Maria Herbst) ist ein Genuss. Ideal, wenn man das Buch dazu hat. Ich melde mich später zum ersten Abschnitt. Ich lese das Buch ja zum erstem Mal.
Fast bin ich neidisch. Das ist ein Buch, das man gerne zum ersten Mal entdeckt.
 
  • Haha
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kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Bei aller Utopie konnte sich Herr Wells offensichtlich keinen papierlosen Nachrichtenverkehr vorstellen, das ist irgendwie rührend.
Es wird auch nie ohne Papier gehen. Irgendwo habe ich mal den Spruch gehört "Das papierlose Büro ist genauso weit weg wie das papierlose Klo". That´s it :D.
 

sursulapitschi

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Was ich mich frage ist, ob die vielen zusammengesetzten Substantive in den älteren Übersetzungen auch Groß-und Kleinschreibung hatten und somit ein Teil von NeuSprech ist, oder ob es das erst in der Neuübersetzung gibt. Ich hoffe, ihr versteht was ich meine *g*
Ein paar dieser Begriffe habe ich schon herausgesucht. Wenn dich noch etwas Bestimmtes interessiert, sag Bescheid, dann guck ich nochmal.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich hätte auch gerne zuerst von NeuSprech und DoppelDenk gelesen, bevor ich eine Interpretation dazu geboten kriege. So habe ich es eher unwillig gelesen, was eigentlich schade ist.
Sursu, das liegt doch an jedem selbst. Wenn man da empfindlich ist, sollte man IMMER auf Vorworte verzichten - es sei denn der Autor schreibt es selbst.
Das wäre für uns völlig in Ordnung. Man muss nicht immer zu allem Stellung nehmen;)
 

Literaturhexle

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Ich scheine das Buch vor vielen, vielen Jahren etwa bis Seite 100 gelesen zu haben, als es in aller Munde war. Ich mochte keine Dystopien und keine Fantasy, habe keine Erinnerungen an diesen Versuch.

Den ersten teil habe ich beim Putzen als Hörbuch gehört und bin sehr begeistert! Winston scheint noch klar denken zu können, der Wunsch, der Nachwelt ein Tagebuch zu hinterlassen, spricht dafür. Auch hat er noch Erinnerungen an seine Eltern und seine Schwester. Bedrückend empfinde ich, dass die Menschen völlig allein leben müssen. Mit niemandem darf man vertraulich sprechen. Eine Gedankenpolizei - schon der Name ist beängstigend. Eine falsche Geste, ein unkonzentrierter Moment, eine spontane Reaktion können schon Ursache für eine Bestrafung mit dem Tod sein... Doch hat Winston auch einen winzigen Blickkontakt mit einem anderen Mann, der etwas Positives in ihm auslöst. Irgendwo gibt es vielleicht noch andere, die nicht komplett gehirngespült und angepasst sind?
Überall wird man beobachtet. Big Brother is watching you entwickelte sich auch damals zu einem Schlagwort - und zu einer Fernsehsendung...

Furchtbar auch diese Kinder der Nachbarin! Völlig auf Parteilinie sind sie böse, dass sie nicht zur Hinrichtung gehen durften. Die Mutter Blass und grau, wird der Blagen nicht Herr, die Winston noch mit der Schleuder beschießen. Degeneriert.

Winstons "Arbeit" im Wahrheitsministerium ist völlig unproduktiv. Kein Wunder, dass der Staatsapparat wenig Leistung erbringt (außer auf dem Papier). Ein riesiger Verwaltungs- und Kontrollapparat verwaltet, die Leute haben wahrscheinlich wenig zu essen... Ein Unrechtssystem, das die Vergangenheit "kontrolliert", indem sie im Bedarfsfall neu geschrieben wird. Heftig.

Aber, das zeigt auch die jüngere Vergangenheit, es gibt diese Staaten immer noch. Natürlich ist in 1984 vieles überzeichnet, doch wenn man nach (Weiß-)Russland schaut: Da kann eine kleine Meinungsverschiedenheit mit der Staatsmacht auch schon fatale Strafen nach sich ziehen...