1. Leseabschnitt: Vom Anfang bis Seite 60

Sassenach123

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2015
4.342
10.617
49
49
@Literaturhexle Mit James Baldwin hast Du mir einen Autor näher gebracht, den ich sicher im Auge behalten werde.

Die Stimmung im Buch passt perfekt zu Tish, aus deren Sicht wir den Roman erleben. Sie erzählt uns auf ihre Weise von ihrem Leben. Die Sprache, der der Autor sich bedient, passt vom Wortlaut und der Denkweise perfekt zu der jungen Frau, wie ich sie mir beim lesen vorstelle.
Wir erfahren von ihrer Kindheit, die Zeit als sie Alonzo, Fonny, kennengelernt hat.
Fonny und Tish werden ein Paar, suchen eine Wohnung und wollen heiraten, doch nun sitzt er im Gefängnis. Es scheint so, als ob er unrechtmäßig dort ist. Tish und ihre Familie haben einen Anwalt genommen, versuchen Fonny zu helfen. Tish kann auf ihre Familie zählen, auch als sie endlich von der Schwangerschaft berichtet, von der im Grunde die ganze Familie bereits zu wissen schien, wurde sie aufgefangen und ermutigt. Das Gegenteil dazu bildet da wohl Fonnys Familie, lediglich Frank scheint ein guter Kerl zu sein, obwohl Fonny gar nicht sein leiblicher Sohn ist.

Der Roman lässt mich durch Tish und ihr Umfeld ein wenig erleben wie es zu der Zeit war schwarz zu sein. Tish hat eine gesunde Denkweise und bringt vieles neutral auf den Punkt. Sie wertet nicht immer direkt alles ab, vielmehr nimmt sie vieles einfach als gegeben hin. Nun bin ich gespannt wie die adrette Ms Hunt auf die Schwangerschaft reagiert. Mein Gefühl sagt mir aber, dass es nicht so gut laufen wird wie bei Clementine zu Hause.......
 

Leseglück

Aktives Mitglied
7. Juni 2017
543
1.272
44
67
Die Ich-Erzählerin ist Clementine, genannt Tish. Wir begegnen ihr im Gefähgnis, wo sie gerade ihren Freund Alonzo, genannt Fonny besucht und ihm erzählt, dass sie schwanger ist. Der Roman startet also gleich mit der belastenden Situation, in der sich das Liebespaar befindet.
Im Rückblick erzählt Tish dass sie mit Fonny schon seit ihrer Kindheit befreundet ist, "Ich wurde seine kleine Schwester und er mein großer Bruder...und so wurden wir füreinander das was dem anderen fehlte."

. Ein bisschen befremdend fand ich, dass Fonnys Mutter und ihr Verhältnis zu ihrem Mann durch eine Sexszene zwischen den beiden, beschrieben wird. Auf jeden Fall wird klar, das Fonnys Mutter eine sogenannte "Geheiligte" ist, ein Mitglied einer Kirchengemeinde, in der die Gläubigen sog. Zeugnis ablegen wobei eine Art Ekstase angestrebt wird. Diese Art Gottesdienst beschreibt James Baldwin auch in seinem ersten Roman: "Von dieser Welt." In unserem Roman wird der Gottesdienst von Tish schlicht als "Horror" beschrieben. Tish ist Baptistin, somit nicht fanatisch gläubig wie ihre "Schwiegermutter".

Tish wird von Fonnys Mutter abgelehnt. U.a. gefällt ihr nicht, dass Tish eine dunkle Hautfarbe hat. Der Rassismus unter den Afroamerikaner wird z.B. auch in Toni Morrisons letztem Roman: "Gott hilf dem Kind." beschrieben.
Diese Art Rassismus finde ich besonders tragisch, denn er zeigt, dass das Wertesystem der Weißen (das die Afroamerikaner zu Menschen zweiter Klasse macht) im Grunde von diesen auch verinnerlicht wurde. Natürlich trifft das nicht auf alle zu. Fonnys Vater Frank z.B. liebt seinen dunkelhäutigen Sohn und auch Tish.
Während es in Fonnys Familie Streit und Ablehnung gibt, scheint es in Tishs Familie sehr harmonisch und liebevoll zu zu gehen. Die Art wie die Mutter, der Vater und die Schwester auf die Nachricht von der Schwangerschaft reagiert haben fand ich richtig schön.

Wie es dazu gekommen ist, dass Fonny verhaftet wurde wissen wir noch nicht. Auf S. 48 steht sinngemäß, dass die Polizei die Anklage erfunden hat, weil Fonny zu selbstbewusst ist. "Er ist niemandes Nigger. Und das ist ein Verbrechen in diesem beschissenen freien Land. Von irgendwem muss man der Nigger sein. Wenn man niemandes Nigger ist, ist man ein böser Nigger: und genau das hatten die Copss beschlossen, als Fonny nach Downtown gezogen war."
(Diese Formulierung erinnert mich an den Film "I am nobodys negro")

Was die Sprache in dem Roman angeht, so merkt man gleich wieder, dass James Baldwin schreiben kann. Die Sprache ist einfach, z.T. poetisch, fast romantisch.
 

Renie

Moderator
Teammitglied
19. Mai 2014
5.880
12.561
49
Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Ein bisschen befremdend fand ich, dass Fonnys Mutter und ihr Verhältnis zu ihrem Mann durch eine Sexszene zwischen den beiden, beschrieben wird.
Ja, das fand ich auch eigenartig. Irgendwie scheinen die beiden nicht zusammenzugehören. Insgesamt eine merkwürdige Familie, die aus 2 Parteien besteht: Frauen vs. Männer.

Habt Ihr eine Ahnung, in welcher Zeit der Roman spielt? Ich bin noch unschlüssig.
 
  • Like
Reaktionen: Leseglück

MRO1975

Bekanntes Mitglied
11. August 2018
1.538
3.981
49
48
Auf jeden Fall wird klar, das Fonnys Mutter eine sogenannte "Geheiligte" ist, ein Mitglied einer Kirchengemeinde, in der die Gläubigen sog. Zeugnis ablegen wobei eine Art Ekstase angestrebt wird. Diese Art Gottesdienst beschreibt James Baldwin auch in seinem ersten Roman: "Von dieser Welt." In unserem Roman wird der Gottesdienst von Tish schlicht als "Horror" beschrieben. Tish ist Baptistin, somit nicht fanatisch gläubig wie ihre "Schwiegermutter".

Der Bericht über den Kirchenbesuch lässt keinen Zweifel, dass Tish das Spektakel, das dort veranstaltet wird, für unglaubhaft und aufgesetzt hält. Sie glaubt nicht an die Rettung durch die Kirche und vergleicht die Kirche mit einem Knast. Das ist ein bemerkenswerter Vergleich. Will sie damit sagen, dass die Kirche den Gläubigen Schranken im Denken und Leben setzt, sie mental einsperrt, wie es der Knast physisch tut?
 

MRO1975

Bekanntes Mitglied
11. August 2018
1.538
3.981
49
48
Tish wird von Fonnys Mutter abgelehnt. U.a. gefällt ihr nicht, dass Tish eine dunkle Hautfarbe hat. Der Rassismus unter den Afroamerikaner wird z.B. auch in Toni Morrisons letztem Roman: "Gott hilf dem Kind." beschrieben.
Diese Art Rassismus finde ich besonders tragisch, denn er zeigt, dass das Wertesystem der Weißen (das die Afroamerikaner zu Menschen zweiter Klasse macht) im Grunde von diesen auch verinnerlicht wurde. Natürlich trifft das nicht auf alle zu. Fonnys Vater Frank z.B. liebt seinen dunkelhäutigen Sohn und auch Tish.
Das ist mir auch stark aufgefallen. Tishs Beschreibungen von anderen Personen umfassen immer den Farbton der Haut (hell, dunkel, braun, schwarz). Das ist sehr auffällig und es wird auch deutlich, dass ein hellerer Hautton und glattes Haar offenbar als Schönheitsmerkmale gelten. Ich habe daraus auch den Schluss gezogen, dass die Schwarzen das Schönheitsideal und den Rassismus der Weißen übernommen haben.
 

MRO1975

Bekanntes Mitglied
11. August 2018
1.538
3.981
49
48
Die Ich-Erzählerperspektive, verbunden mit dem Slang, hat mir von Anfang an sehr gut gefallen. Dadurch wurde ich unmittelbar in die Welt von Tish gezogen. Ich habe mal gelesen, dass Lesen wie Denken mit einem fremden Gehirn ist. Das Zitat fiel mir unmittelbar wieder ein. Beim Lesen bin ich in Tishs Kopf.
 

MRO1975

Bekanntes Mitglied
11. August 2018
1.538
3.981
49
48
Nachdem ich @Literaturhexle s Post in der Vorbemerkung gelesen hatte, fiel mir auch auf, dass es recht viel um Musik geht. Tish schildert die Lieder, die in der Kirche gesungen werden - von denen ich leider keins kenne. Tishs Mutter wollte in ihrer Jugend Sängerin werden, merkte aber, dass dafür die Stimme allein nicht reicht, sondern man auch das Leben einer Sängerin aushalten und ausfüllen können muss.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.435
49.835
49
Ich finde es rührend, wie Tish ihre Geschichte erzählt und nach und nach die gesamte Familie vorstellt. Abgesehen von der Sexszene tut sie das ja auch ziemlich neutral, versucht sofern möglich, auch die Sonnen- (bzw. Schattenseiten) einer Person zu beleuchten.

@Leseglück: Bei der Beschreibung der ekstatischen Kirchenszenen musste auch ich an "Von dieser Welt" denken, in dem sich ja sehr viel um die Religion dreht und derlei Szenen weiten Raum einnehmen. Mir kam auch die Erinnerung an "Gott hilf dem Kind". Es scheint ja wirklich in der schwarzen Communtity weit verbreitet zu sein, Farbige nach ihrer Farbschattierung einzuteilen. Krank ist das, finde ich (zumal in der eigenen Familie, wie bei den Hunts). Wahrscheinlich hat jeder, der getreten wird, das Bedürfnis, auf einem anderen herumzutreten. Der tiefdunkle Schwarze hat demnach die A-Karte :confused:

Es ist schön, wie Tish ihre Liebe zu Fonny beschreibt. Sie scheinen füreinander bestimmt zu sein: "Und so wurden wir füreinander das, was dem anderen fehlte." (S. 24)
Sie ist auch nicht sauer, dass er im Gefängnis sitzt, gibt ihm keine Schuld daran. Er ist eben stolz und ein Mann und "Niemandes Nigger".

Die beiden Herkunftsfamilien von Tish und Fonny sind sehr unterschiedlich und es wundert mich nicht, dass Fonny fast immer bei seiner Freundin ist. Deren Mutter hat das Herz auf dem rechten Fleck, sie wusste schon längst von der Schwangerschaft und als es offiziell wird, möchte sie das feiern. Sehr schön dieses heimelige Zitat, das auch heute noch für viele Häuser gelten dürfte: "Die Küche, das ist der wichtigste Raum bei uns, wo alles passiert, wo alles anfängt, alles Gestalt annimmt und aufhört." (S. 53)

Ohne besondere Dramatik blitzt immer wieder die Rassendiskriminierung in den USA durch. Sei es, wenn ziemlich brutal beschrieben wird, wie armselig viele Kinder in Harlem sterben, dass das Kaufhaus sich für sehr großherzig hält, weil Tish dort arbeiten darf oder dass Anwälte und Cops keine Fairness den Schwarzen gegenüber walten lassen. Gerade dieses sachlich Beschreibende verdeutlicht die Problematik ungemein. Es ist einfach so, man nimmt es hin. Fonny aber wohl nicht. Ich bin gespannt, wie es weiter geht!
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.435
49.835
49
Habt Ihr eine Ahnung, in welcher Zeit der Roman spielt?
Er ist 1974 erschienen. Baldwin hat sich wohl von einem Gerichtsprozess inspirieren lassen, der 1971 stattfand. Ich könnte mir schon vorstellen, dass das in die damalige Zeit passt.
Es mag sich seitdem zwar einiges zum Besseren entwickelt haben, aber das Thema ist noch immer brandaktuell.
 

Querleserin

Bekanntes Mitglied
30. Dezember 2015
4.048
11.071
49
50
Wadern
querleserin.blogspot.com
Der Roman lässt mich durch Tish und ihr Umfeld ein wenig erleben wie es zu der Zeit war schwarz zu sein.

Das empfinde ich auch so, die Diskriminierung, wie ihr geschrieben habt, wird zwar selten explizit genannt, ist aber immer spürbar. Leider ist das immer noch in vielen Köpfen drin.

Die Sprache ist einfach, z.T. poetisch, fast romantisch.

Und sie ist teilweise recht drastisch. Wenn die Figuren untereinander sprechen, geht es teilweise sehr derb zu, was gleichzeitig sehr authentisch ist. Baldwin ist sehr dicht an seiner Figur.

Es scheint ja wirklich in der schwarzen Communtity weit verbreitet zu sein, Farbige nach ihrer Farbschattierung einzuteilen. Krank ist das, finde ich (zumal in der eigenen Familie, wie bei den Hunts).

Die Schwarzen übernehmen das Schönheitsideal der Weißen, furchtbar, das ist wirklich krank.
Vom Zeitpunkt hätte ich auch auf die 60er/70er Jahre getippt. Mit dem Erscheinungsdatum passt das ja.
Vielen Dank für diese Leserunde, von Baldwin will ich auf jeden Fall mehr lesen!