1. Leseabschnitt: vom Anfang bis S. 55

Literaturhexle

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2. April 2017
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Hier diskutieren wir den Einstieg in den Roman. Das heißt, die Kapitel 1 bis 3, also vom Anfang bis Seite 55.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Sander entführt uns hier in das Rostock der Vor- und Nachwendezeit und schafft dabei eine Reminiszenz an Kempowskis Witz und Humor, mit dem jener die dunkle Zeit des Nationalsozialismus in den Bürgerhäusern Rostocks geschildert hat. Bei Sander prägt eine ähnliche Stimmung nun die DDR-Zeit im Elternhaus des Helden Thomas. Das macht Sander ganz bewusst und offen und stößt uns Leser sogar mit der Nase drauf:

"... und was da unten am alten Hafen in den heruntergekommenen Häusern passierte, das ging uns nur etwas an, wenn es bei Kempowski stand. Uns ging es nämlich noch gold."

Dieses Kempowski-hafte prägt das Elternhaus von Thomas und prägt deshalb auch den ersten Teil des Buches, in dem wir uns hier im Erzählten befinden. Die Tonlage ändert sich dann im weiteren Verlauf, wenn Thomas das Haus für sein Studium verlässt und das Weite sucht. Das ist eigentlich schade. Ich hatte mich in dieser Stimmung sehr wohl gefühlt und habe das Humorige bei der Beschreibung eines DDR-Alltags sehr genossen, denn es hebt sich sehr stark ab von der Schwere und Tristesse, die sonst sehr häufig Literatur über die DDR bestimmen. Ich schaue noch mit Interesse darauf, wie sich die Tonlage weiter entwickelt.
 

ElisabethBulitta

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8. November 2018
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Ich muss gestehen, ich habe von Kempowski noch nichts gelesen. Aber nun ja, es gibt so viele Bücher, die man vielleicht mal lesen sollte.

Doch egal. Mir gefällt der Ton auch sehr gut, auch der Humor und die darin versteckte Kritik. Außerdem ist es sozusagen eine Rückreise in die Achtziger. Mein Gott, an die Solidarność-Bewegung habe ich seit Jahren nicht gedacht.

Thomas und Daniel haben einen absolut ungleichen Hintergrund. Thomas stammt aus gutbürgrlichem Haus, bei Daniel geht's eher locker zu. Thomas scheint sich von der Bürgerlichkeit ein wenig distanzieren zu wollen, aber wie man merkt, gelingt es ihm dann doch nicht. Denn wenn man z.B. die Gerichtsszene betrachtet, scheint er auch leicht konservative Züge zu haben (was ich jetzt nicht schlimm finde).

Gut gefällt mir dieser Wechsel, dieses Erzählen auf zwei Ebenen: einmal die Gegenwart, die sich über einige Tage hinzieht, dann die Vergangenheit, hier im ersten LA die Achtziger.
 

Mamskit

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6. November 2016
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Thomas und Daniel haben einen absolut ungleichen Hintergrund. Thomas stammt aus gutbürgrlichem Haus, bei Daniel geht's eher locker zu. Thomas scheint sich von der Bürgerlichkeit ein wenig distanzieren zu wollen, aber wie man merkt, gelingt es ihm dann doch nicht.

Ich mag auch die Gegensätzlichkeit dieser Charaktere. Ich habe den Eindruck, als hätte Thomas diese Freundschaft als Junge begonnen, weil Daniel für ihn aus einer völlig anderen Welt stammt. Daniel hingegen scheint etwas über den Dingen gestanden zu haben. Ich bin gespannt, ob sich das irgendwann einmal " gedreht" hat.
Neugierig macht mich natürlich auch, warum Thomas' Frau ihn verlassen hat und warum Daniel ihm den Pass gestohlen hat.
Ich mag das sehr: die Zeit, in der die Jugend der beiden spielt, ist mir sehr gut in Erinnerung geblieben, und der Autor schreibt mit einem feinen und hintergründigen Humor.
 

MRO1975

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11. August 2018
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Ich bin auch relativ schnell in den Roman hineingekommen. Die Zweigleisigkeit gefällt mir bislang auch gut.

Thomas ist Strafverteidiger in Berlin geworden - nicht besonders erfolgreich nach meiner professionellen Einschätzung. ;) Leider werden hier auch einige Klischees bedient, wobei ich mir noch nicht sicher bin, ob das Absicht ist. Anwälte kommen hier mal wieder nicht gut weg. o_O

Ich frage mich, warum Thomas diese Laufbahn eingeschlagen hat und warum ihn seine Frau verlassen hat. Und warum haben er und Daniel den Kontakt verloren und warum hat Daniel den Pass von Thomas. Ziemlich viele Fragen für 55 Seiten - das gefällt mir.

Die Rückblende in die Schul- und Lehrzeit weckt bei mir auch viele Erinnerungen und finde, die damals herrschende Atmosphäre ist gut getroffen. An die riesigen Kohlehaufen auf dem Schulhof kann ich mich noch gut erinnern und auch an die Pausen und die wilden Diskotheken und das Anstehen davor und die Raucherei....:cool:
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Neugierig macht mich natürlich auch, warum Thomas' Frau ihn verlassen hat und warum Daniel ihm den Pass gestohlen hat.
Dass der Pass gestohlen wurde, das habe ich so nicht in Erinnerung... Er benutzte ihn doch nur, oder?

Ich vermute stark, dass Thomas seine Frau betrogen hat. Die Schweigsamkeit der Tochter, die nicht auf die Frage antwortet, sondern nur ein "gute Nacht, Papa", schreibt, lässt mich darauf kommen. (Die Situation hat eine Freundin von mir. Mädchen können sehr, sehr hart und nachtragend sein und über Jahre schweigen...)
Leider werden hier auch einige Klischees bedient, wobei ich mir noch nicht sicher bin, ob das Absicht ist. Anwälte kommen hier mal wieder nicht gut weg. o_O
Das ist interessant. Ich habe mit der Branche nichts zu tun, dadurch kenne ich die Klischees nicht, so dass sie mir nicht so leicht ins Auge springen. Meinst du dieses seltsame "geschäftliche" Treffen in der Sauna mit anschließendem Besäufnis... ;)?

Ich bin gerade total beglückt von dem Roman: er liest sich locker-leicht, ohne trivial zu sein. "Der blinde Mörder" fordert meine Aufmerksamkeit zuweilen sehr, da ist diese Lektüre wunderbares Kontrastprogramm :)
Ich habe mich relativ spät für die Leserunde entschieden und freue mich gerade darüber.

Die beiden Freunde hatten sich 10 Jahre nicht gesehen. Haben sie sich nur aus den Augen verloren aufgrund der räumlichen Distanz oder gab es einen triftigen Grund dafür? Für Letzteres könnte die Tatsache sprechen, dass Thomas den Freund nicht mit nach Hause nehmen will. Außerdem erzählt er nichts über die Trennung von seiner Frau, die allerdings auch noch sehr frisch ist.

Nach und nach werden sich die Lücken gewiss füllen und ich lese gespannt weiter.

Positiv möchte ich anmerken, dass ich weder Rostock noch den Wedding (außer aus der Scheer'schen Literatur ;))kenne. Trotzdem fühle ich mich mit den Beschreibungen mitgenommen und nicht überfordert. Es gefällt mir richtig gut, dass man keine Ortskenntnis braucht, um "anzukommen".

Daumen also eindeutig nach oben!
 

ElisabethBulitta

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Das ist interessant. Ich habe mit der Branche nichts zu tun, dadurch kenne ich die Klischees nicht, so dass sie mir nicht so leicht ins Auge springen. Meinst du dieses seltsame "geschäftliche" Treffen in der Sauna mit anschließendem Besäufnis... ;)?

Welche Klischees bedient werden, habe ich mich auch gefragt, aber nicht zu fragen gewagt; was mir allerdings in dieser Hinsicht aufgefallen ist, ist die Sache mit der Gentrifizierung. Hier sind die Juristen diejenigen, die diese unterstützen und auch noch Profit daraus schlagen. Alteingesessene aus den Wohnungen vertreiben (auch wenn sie Geld dafür kriegen), einen Kriminellen unterstützen, der einen auf Geschäftsmann macht ... Das wirft kein gutes Bild auf die Juristerei. Wobei ich mir allerdings insgesamt nicht so sicher bin, ob Sander nicht eben auch die Welt so darstellt, wie sie ist - mit einem Augenzwinkern?

Z.T. ist der Humor auch bitterböse. Als Thomas vom Essverhalten (restp. Leiden) seiner Kollegin spricht und im gleichen Absatz sagt, wenn sie esse, sähe es nicht nach Leiden aus, war schon böse. Abr eben auch lustig.
 

MRO1975

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Das ist interessant. Ich habe mit der Branche nichts zu tun, dadurch kenne ich die Klischees nicht, so dass sie mir nicht so leicht ins Auge springen. Meinst du dieses seltsame "geschäftliche" Treffen in der Sauna mit anschließendem Besäufnis... ;)?
Ja, unter anderem der Saunabesuch und der Umstand, das Thomas sich offenbar von einem Miethai engagieren lässt. Auch dass er als Strafverteidiger arbeitet, wobei ich den Bericht über die Staatsschutzsache vor dem Kammergericht interessant finde.
 

MRO1975

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Hier sind die Juristen diejenigen, die diese unterstützen und auch noch Profit daraus schlagen. Alteingesessene aus den Wohnungen vertreiben (auch wenn sie Geld dafür kriegen), einen Kriminellen unterstützen, der einen auf Geschäftsmann macht ... Das wirft kein gutes Bild auf die Juristerei.[/QUOTE
Das meinte ich. Natürlich gibt es auch solche Anwälte, aber 99 Prozent machen andere Dinge und arbeiten auf anderen Gebieten. Auch Strafverteidigung ist nur ein kleiner Bereich. Nach einer Umfrage gehören Anwälte zu denjenigen Personen, denen am meisten vertraut wird. Vertrauenswürdiger sind nur Pfarrer.
 
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Literaturhexle

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Natürlich gibt es auch solche Anwälte, aber 99 Prozent machen andere Dinge und arbeiten auf anderen Gebieten. Auch Strafverteidigung ist nur ein kleiner Bereich.
Das ist schon klar. Aber die Strafverteidigung gibt für Romane und Geschichten natürlich weit mehr her als vieles andere.... Man denke an Grisham ;)
Doch sind wir ja ein Rechtsstaat. Keine gerichtliche Auseinandersetzung, sei es die Entmietung eines MFH oder ein Strafprozess darf/sollte ohne Anwälte stattfinden. Also "muss" ja irgendjemand auch dem vermeintlich Bösen dienen...

Hier im Buch ist das etwas überspitzt dargestellt. Das nehme ich nicht so ganz ernst. Da geht es mir wie Elisabeth. Aber nett, dass du uns auf bestehende Klischees aufmerksam gemacht hast, @MRO1975 !

Bei mir selbst ist in letzter Zeit die Berufsgruppe der Notare in Ungnade gefallen. Drei von Vieren waren sowas von arrogant und besserwisserisch. Ich habe das ausgehalten, mich aber gefragt, wie klein sich jemand fühlen muss, der vielleicht wirklich Schwierigkeiten hat, einen Sachverhalt zu verstehen ... Aber wahrscheinlich würde derjenige eben gerade NICHT nachfragen, sondern die Autorität akzeptieren und alles ist gut.
Aber Schluss: das gehört hier nicht hin ;)!
 

Literaturhexle

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wobei ich den Bericht über die Staatsschutzsache v
Ob so etwas vor ein Kammergericht gehört, kann ich natürlich nicht sagen, aber das war natürlich schon ein Ding, dass Thomas dort nur seine Zeit absitzt, bis er das Honorar abkassieren kann. (Ich bekomme ein Gefühl für die Klischees;))

Und es ist natürlich nicht rechtens, das Eigentum eines Mandanten privat (hier für einen Freund) zu nutzen. Das schafft Verflechtungen, wo keine hingehören.
Das sieht alles schon recht hemdsärmelig aus und scheinen Indizien zu sein, dass es der Kanzlei nicht wirklich gut geht, wie weiter oben schon gesagt wurde.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Leider werden hier auch einige Klischees bedient, wobei ich mir noch nicht sicher bin, ob das Absicht ist. Anwälte kommen hier mal wieder nicht gut weg. o_O
Ein Los, dass sie mit Lehrer*innen in Romanen teilen ;)

Ich bin auch sehr gut in den Roman hineingekommen und bin erfreut, dass er eine Leichtigkeit hat, die ich auch so von der Wendeliteratur nicht kenne - bin immer noch Ruge geschädigt ;) (In Zeiten des abnehmenden Lichts), obwohl der auch seine komischen Seiten hat.
Thomas hat meines Erachtens seines Pass Daniel überlassen, @Literaturhexle, das habe ich auch so verstanden. Aber warum?
Viele offene Fragen, die sich im weiteren Verlauf sicherlich lösen werden. Ich lese gespannt weiter...
 

MRO1975

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Bei mir selbst ist in letzter Zeit die Berufsgruppe der Notare in Ungnade gefallen. Drei von Vieren waren sowas von arrogant und besserwisserisch. Ich habe das ausgehalten, mich aber gefragt, wie klein sich jemand fühlen muss, der vielleicht wirklich Schwierigkeiten hat, einen Sachverhalt zu verstehen ...
Das wundert mich. Ich kenne viele Notare, meine beste Freundin ist Notarin und ein echter Erklärbär. Sie hat allerdings ihre Schwierigkeiten mit Lehrern - die würden immer alles besser wissen wollen und halten ihr ihre Googlerechtsauskünfte vor. ;)
 

ElisabethBulitta

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Vertrauenswürdiger sind nur Pfarrer.

Das war aber bestimmt vor den Missbrauchsskandalen in letzter Zeit. Mittlerweile habe ich als regelmäßige Kirchgängerin (die allerdings die Pfarrer nicht wirklich kennt und mit einem auch nur sehr, sehr selten einer Meinung ist, aber das ist eine andere Sache) das Gefühl, als eine Unterstützerin Pädophiler angesehen zu werden. Zumindest kommt das bei Gesprächen oft so rüber. Wobei mir schon klar ist, dass das nicht zum Thema des Buches gehört.
 

ElisabethBulitta

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Bei mir selbst ist in letzter Zeit die Berufsgruppe der Notare in Ungnade gefallen.

Da habe ich auch total andere Erfahrungen gemacht. Der Notar, der damals die Erbsache meiner Eltern abgehandelt hat, war sowas von super zuvorkommend. Meine Mutter hat das Haus meines Vaters geerbt, stand aber selbst kurz vor dem Tod und war total dement. Und er hat total Rücksicht genommen und kam echt innerhalt einer halben Stunde an einem Tag, an dem meine Mutter mal ein paar klare Gedanken fassen konnte.
 

ElisabethBulitta

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Ein Los, dass sie mit Lehrer*innen in Romanen teilen

Romane kenne ich nicht viele, aber ich musste gestern beim Thema "Klischees" noch an den Film "Frau Müller muss weg" denken ... Da habe ich mich echt geschämt, Grundschullehrerin zu sein. Denn die wurde echt als strunzdumm dargestellt, so wie wir auch in der Gesellschaft.
 

Literaturhexle

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Romane kenne ich nicht viele, aber ich musste gestern beim Thema "Klischees" noch an den Film "Frau Müller muss weg" denken ... Da habe ich mich echt geschämt, Grundschullehrerin zu sein. Denn die wurde echt als strunzdumm dargestellt, so wie wir auch in der Gesellschaft.
Von dem Film habe ich bis jetzt nur gehört. Er muss aber toll sein... (wenn man nocht gerade Lehrerin ist;))
Also in meinem Umfeld genießen die Grundschullehrer einen guten Ruf. Mittlerweile ist angekommen, wie wichtig sie sind.