1. Leseabschnitt: Teil I. - Kapitel 1 bis 6 (Beginn bis Seite 80)

Eulenhaus

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13. Juni 2022
409
1.980
44
Ich höre den Roman und versuche, die LA einzuhalten.

Die Ich-Erzählerin Linda und ihr Mann Richard, ein erfolgreiches Paar in der Künstler- und Kulturszene, verlieren durch einen Verkehrsunfall ihre einzige Tochter Sonja.
Lindas Schilddrüsenkrebs wurde gerade erfolgreich behandelt. Die erneute Konfrontation mit dem Tod lässt sie in ein Tief stürzen. Während Richard kämpft, flüchtet sie auf einen abgewirtschafteten Hof in einem abgelegenen Dorf. In Leipzig wurde sie ständig an Sonja erinnert. Sonjas Tod macht sie sprachlos. Das Unbehagen ihrer Umwelt im Umgang mit ihr, das Mitleid kann sie nicht mehr ertragen. Bis auf Richard hat sie zu niemanden mehr Kontakt. Sie lebt zeitlos, verrichtet mehr gezwungenermaßen die alltäglichen Arbeiten. Die Spaziergänge mit Kaja lenken sie ein wenig ab.

Nach zwei Jahren erfolgloser Versuche, mit Linda neu zu beginnen, lernt er die lebenshungrige selbstbewusste Schriftstellerin Brida kennen, die ihm neue Hoffnung gibt und seinen Kunstsinn teilt. Sie hat zwei anspruchsvolle Kinder. Sonja dagegen ist ein empfindsames unauffälliges nicht besonders ehrgeiziges Kind. Eigenschaften, die Linda störten und deren Beurteilung sie jetzt beschämen. Das Unerledigte, Ungesagte und Ungetane kommt jetzt an die Oberfläche, was Linda noch weiter erschüttert und sie endlos trauern lässt.
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
2.017
6.108
49
Huch, hier ist es noch recht ruhig. Das wundert mich etwas, weil ich den Leseabschnitt ziemlich schnell gelesen habe, weil mir der Roman bisher sehr gefällt.

Die Eingangsszene mit dem Bussard (oder doch Falken?) mochte ich nicht. Die passt für mich irgendwie nicht. Danach hatte mich die Geschichte aber gefangen.

Das Thema des Romans ist wirklich heftig. Das eigene Kind in solch jungem Alter auf tragische Weise zu verlieren, puh, das mag man sich nicht vorstellen. Beim Lesen hatte ich immer wieder einen Kloß im Hals. Kein Wunder, dass Sonjas Tod Linda so aus der Bahn geworfen hat. Dass sie in Leipzig alles an die verlorene Tochter erinnert und sie deshalb einen Tapetenwechsel braucht, kann ich verstehen. Wobei es natürlich etwas extrem ist, ganz in die Pampa zu ziehen und sich einen Hof mit Tieren ans Bein zu binden.

Sehr realistisch, wenn auch umso trauriger ist es, dass der Tod der Tochter die Eltern entzweit. Nun verliert Linda auch noch ihren Mann. Ich kann beide Seiten entstehen. Zwei Jahre getrennt lebend, da ist es verständlich, dass sich Richard allmählich nach Zweisamkeit sehnt. Zumal ihm Linda keine Hoffnung macht, dass sie bald wiederkommt.

Die Figurenzeichnung hat mich bis jetzt sehr überzeugt. Auch die unaufgeregte Sprache passt sehr gut, finde ich.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
4.171
11.820
49
51
Wadern
querleserin.blogspot.com
Der Roman hat mich sofort eingesogen ;), er liest sich gut und wechselt zwischen der Gegenwart, in der Linda als Ich-Erzählerin ihr Leben auf dem abgelegenen Hof schildert, und den Erinnerungen, die sie verfolgen.
Das sind die Erinnerungen an das Kennenlernen Richards, der bereits aus erster Ehe zwei Kinder hat, Ylvie und Arvid, mit denen Linda nicht warm wird. Umso größer ihr Wunsch ein eigenes Kind mit Richard zu haben: Sonja.
Und da ist auch noch der Wunsch nach einem zweiten Kind.
"Warum bist du nicht auf die Welt gekommen?", flüsterte ich, und es antwortete: "Du weißt, warum." (S.44)
Richard wollte nicht noch ein weiteres Kind, als er es dann doch in Erwägung zieht, ist Sonja bereits 6 Jahre alt und Linda nicht mehr bereit dafür und fühlt sich verraten.
Er hatte uns aus dem Takt gebracht, unseren harmonischen Tanz jäh unterbrochen." (S.57)
Aber auch zuvor stellt Linda fest, dass sie nicht vollständig mit Sonja glücklich ist, da sie das Leben mit Baby zwar zum ersten Mal erlebt, Richard aber bereits zwei Kinder hat - sie wird immer die Zweite sein.
Auch als Sonja älter wird, ist sie "enttäuscht" von der harmoniebedürftigen Tochter, die kaum Ehrgeiz entwickelt und weniger Ecken und Kanten aufweist als ihre Halbgeschwister und zudem noch eine aus der Sicht der anderen problematische Esserin.
Heute macht sich Linda deswegen Vorwürfe, oder? Dass sie von Sonja enttäuscht war.
Richard hat zwei Jahre auf Linda gewartet - so lange lebt sie schon in dem abgelegenen Dorf, bevor er wieder am Leben teilnehmen will.
Natascha , die Linda mit ihrer autistischen Tochter Nine besucht, bringt es auf den Punkt:
Sie wollen, dass er sich ebenso aufgibt, wie Sie es tun. Aber er lebt weiter. Und das nehmen Sie ihm übel." (S.70)
"Er hat sich gerettet. Auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod hat er sich für das Leben entschieden, während sie versucht haben, ihn zu den Toten rüberzuziehen." (S.71)
Der Roman wirft die schwierige Frage auf, wie weiterleben, wenn man das Kostbarste im Leben verloren hat. Kann und darf man jemals wieder glücklich werden, wenn das geliebte Kind gestorben ist.
Ich möchte mir die Möglichkeit eines meiner beiden Kinder, von denen zufällig eins ebenfalls ein 17-jähriges Mädchen ist, gar nicht vorstellen. Und doch glaube ich, dass ich weiterleben wollen würde - nach einer langen Zeit der Trauer mich für das Leben entscheiden könnte. Lindas totaler Rückzug, die Weigerung am Leben teilzunehmen und das Geschehene zu verarbeiten, an die glücklichen Momente zurückzudenken und gemeinsam Trauer zuzulassen, befremdet mich tatsächlich. Das ist schon sehr extrem, andererseits will ich mir nicht anmaßen zu urteilen, da ich die Situation noch nie erlebt habe.
 

alasca

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13. Juni 2022
3.832
12.186
49
Ein sehr soghafter Text. Ich kann Linda einerseits verstehen, andererseits möchte ich sie schütteln: Lass los, kehre zurück ins Leben und stell deinen guten Mann nicht vor diese Wahl!

Dass sie sich in Selbstvorwürfen zerfleischt, weil sie Sonja zu Lebzeiten immer anders hat haben wollen, ist verständlich. Aber letztlich: Sinnlos. Auch hier: Siehe oben.

Und obwohl Lindas Positionen nicht ganz einfach nachzuvollziehen sind, bleibt man nah dran an der Figur. Viele kluge Gedanken werden formuliert, ich empfinde den Text als sehr tiefgründig. Die Autorin geht mit ihrer Figur dorthin, wo es wehtut.

Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht - das ist an dieser Stelle völlig unklar und darum umso fesselnder.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
7.552
29.056
49
66
Der Roman hat mich von Anfang an gepackt. Schon wie sich die Protagonistin selbst vorstellt, hat was : „ Linda bedeutet die Milde, die Freundliche, die Sanfte. Dieser Name hat nichts mehr mit mir zu tun.“
Es gibt zwei Versionen der Hauptfigur, eine vor dem Unfalltod der einzigen Tochter, eine danach. Linda war früher eine gepflegte Frau, glücklich verheiratet mit Richard. Die beiden lebten mit ihrer siebzehnjährigen Tochter Sonja in Leipzig. Alles war gut, auch wenn die beiden Kinder aus Richards früherer Ehe nicht einfach waren und Linda sich eigentlich lange ein zweites Kind gewünscht hatte. Doch von einem Augenblick auf den anderen hat sich alles verändert. Sonja stirbt nach einem Verkehrsunfall und die Beziehung zwischen Linda und Richard hat dem Schicksalsschlag nicht standgehalten. Beide trauern, aber auf verschiedene Weise. Während Richard irgendwann wieder nach vorne schauen, weiterleben will, bleibt Linda in ihrer Trauer gefangen.
Dazu kam noch Lindas Krebserkrankung. Sie hat zwar den Krebs überwunden, doch an ihr früheres Leben will und kann sie nicht anknüpfen. Linda mietet ein heruntergekommenes Bauernhaus in einem kleinen Dorf, lebt dort für sich allein. ( Zu Beginn der Geschichte lebt Linda seit zwei Jahren dort.)
Richard hat mittlerweile eine neue Frau kennengelernt, eine Sache, die Linda nicht verstehen kann.
Sehr gut beschreibt Daniela Krien die Gefühlswelt ihrer Hauptfigur. Und obwohl wir alles aus Lindas Perspektive erfahren, kann ich mich auch sehr gut in Richard hineinversetzen.
Es gibt auch keinen Groll zwischen dem Paar, im Gegenteil, es ist noch sehr viel Liebe spürbar. „ Auch Richard hat nichts falsch gemacht. Hat sich nur eines Tages umgedreht und nach vorn gesehen, während mein Blick in die Vergangenheit gerichtet blieb.“
 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
7.552
29.056
49
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Die Eingangsszene mit dem Bussard (oder doch Falken?) mochte ich nicht. Die passt für mich irgendwie nicht
Ich fand die Szene sehr eindringlich, denn sie zeigt, zu was für eine Frau Linda geworden ist. Eine Frau, die vehement kämpft für das, was ihr anvertraut worden ist ( und wenn es in diesem Fall nur ihre Hühner sind). Sie hat keine Angst, packt zu, ohne Rücksicht , ohne nachzudenken.
Das Thema des Romans ist wirklich heftig. Das eigene Kind in solch jungem Alter auf tragische Weise zu verlieren, puh, das mag man sich nicht vorstellen. Beim Lesen hatte ich immer wieder einen Kloß im Hals. K
Eigentlich mag man sich mit so einem Thema nicht auseinandersetzen. Es erscheint mir als das Schlimmste, was einem passieren kann.
Sehr realistisch, wenn auch umso trauriger ist es, dass der Tod der Tochter die Eltern entzweit
Ich kenne das aus zwei Familien in unserem Dorf. Bei einer ging es soweit, dass sich der Mann umgebracht hat, weil er nicht mehr ertragen konnte, wie sich seine Frau in ihrer Trauer eingerichtet hat. Für ihn war hier anscheinend kein Platz mehr.
Jeder trauert anders, möglicherweise trauern auch Frauen und Männer unterschiedlich.
Heute macht sich Linda deswegen Vorwürfe, oder? Dass sie von Sonja enttäuscht war
Wie banal sind angesichts des Todes die Vorwürfe, die wir anderen machen.
 

Barbara62

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19. März 2020
4.621
17.889
49
Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Wie banal sind angesichts des Todes die Vorwürfe, die wir anderen machen.
Dieser Gedanke hat mich durch das ganze Buch begleitet und begleitet mich seither.

Die unterschiedliche Art der Trauer hat mich auch bei "Maifliegenzeit" sehr bewegt, obwohl sie dort noch andere Gründe hatte.
 

alasca

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13. Juni 2022
3.832
12.186
49
Ich fand die Szene sehr eindringlich, denn sie zeigt, zu was für eine Frau Linda geworden ist. Eine Frau, die vehement kämpft für das, was ihr anvertraut worden ist ( und wenn es in diesem Fall nur ihre Hühner sind). Sie hat keine Angst, packt zu, ohne Rücksicht , ohne nachzudenken.
Gerade den Einstieg fand ich absolut packend und sehr gekonnt: Nach anderthalb Seiten hat man verstanden, wo Linda steht. An der Stelle hatte ich noch sehr viele Überschneidungen mit ihr;-). Da wirkte sie auf mich äußerst lebendig, keine Spur von dem "Tod auf Raten". Später konnte ich ihre Verfasstheiten durchaus nachvollziehen, aber nicht mehr verstehen (oder umgekehrt?).

Aber wenn man die Erfahrung selbst nicht gemacht hat, kann man eh nicht mitreden, geschweige sich ein Urteil bilden.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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11.650
49
50
Krien schafft es hier sehr gut, dass man am Ball bleiben möchte. Auch wenn der Roman für mich aus persönlichen Gründen doch sehr schwierig ist, bin ich mittendrin. Als Lunda auch noch Krebs bekommt, fragt mich sich, warum das jetzt auch noch? Aber ist das Leben nicht tatsächlich so? Es zählt nicht ab, ob man es aushält, es passiert, nennt sich Schicksal, und genau das bringt die Autorin sehr gut wieder.
Vieles habt ihr bereits erörtert, doch ich möchte noch ergänzen, dass sich hier etwas wichtiges auftun könnt, und zwar Nine. Ich habe den Eindruck, dass sie das Eis aufbrechen kann. Sie stellt keine Fragen, bei allen anderen muss Linda sich ja immer wieder rechtfertigen, dennoch wäre sie Gesellschaft und würde Linda das Gefühl geben gebraucht zu werden, ähnlich wie bei Kaja, die ihr auch gut tut. Aber mal abwarten, vielleicht interpretiere ich da auch zu viel hinein.
 

Sassenach123

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2015
4.653
11.650
49
50
Richard wollte nicht noch ein weiteres Kind, als er es dann doch in Erwägung zieht, ist Sonja bereits 6 Jahre alt und Linda nicht mehr bereit dafür und fühlt sich verraten.
Richard war ja durch zwei vorherige Kinder, die eher anstrengend sind, auch zurecht erstmal zurückhaltend. Lindas Perspektive eine ganz andere, aber ebenso nachvollziehbar. Natürlich konnte er, als er dann doch ein zweites mit ihr vorschlug, nicht ahnen, dass sie sich gerade damit abgefunden hat. So lebensnah und nachvollziehbar erzählt, finde ich toll
Es gibt auch keinen Groll zwischen dem Paar, im Gegenteil, es ist noch sehr viel Liebe spürbar. „ Auch Richard hat nichts falsch gemacht. Hat sich nur eines Tages umgedreht und nach vorn gesehen, während mein Blick in die Vergangenheit gerichtet blieb.“
Eigentlich bewunderswert wie die beiden miteinander umgehen. Ich hoffe sie finden wieder einen Zugang zueinander, denn auch eine Freundschaft kann bereichern. Und momentan wissen wir ja noch nicht, ob die Beziehung bei Richard wirklich langfristig ist, viel finden sie wieder zueinander, als Paar
 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
7.552
29.056
49
66

Barbara62

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19. März 2020
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Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Als Lunda auch noch Krebs bekommt, fragt mich sich, warum das jetzt auch noch? Aber ist das Leben nicht tatsächlich so? Es zählt nicht ab, ob man es aushält, es passiert, nennt sich Schicksal, und genau das bringt die Autorin sehr gut wieder.
Die Erkrankung von Linda holt Richard gewissermaßen ins Leben zurück. Jetzt hat er plötzlich eine Aufgabe und kann nicht mehr nur trauern.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
20.758
54.634
49
Heute macht sich Linda deswegen Vorwürfe, oder? Dass sie von Sonja enttäuscht war.
Ich verstehe es auch so. Es ist menschlich und wichtig, dass man auch seine Kinder kritisch sieht und nicht nur durch die rosarote Brille der Liebe. Im Nachgang klingen diese Dinge natürlich entsetzlich banal und quälen Linda. Die Vorwürfe entspringen zum Teil ja auch einer Sorge: Wird mein zartes, emotionales Kind in einer Welt der Harten, Rücksichtslosen bestehen können? Auch eine vegane Ernährung im Grundschulalter ist gewiss nicht ohne, sie erfordert Mühe und Zeit, wenn sie gut funktionieren soll.
Lindas totaler Rückzug, die Weigerung am Leben teilzunehmen und das Geschehene zu verarbeiten, an die glücklichen Momente zurückzudenken und gemeinsam Trauer zuzulassen, befremdet mich tatsächlich.
Hat Richard es nicht auch leichter an der Stelle, weil er noch zwei weitere Kinder hat? Natürlich wiegt ein Kind das andere nicht auf. Dennoch sind andere da, die seine Aufmerksamkeit fordern und deren Weg er begleiten kann. Er ist nicht so allein wie Linda.
Während Richard irgendwann wieder nach vorne schauen, weiterleben will, bleibt Linda in ihrer Trauer gefangen.
Was ich nachvollziehen kann, ist, dass Linda nicht mehr in der Wohnung bleiben wollte, in der alles voller Erinnerungen ist. Hätte es zu dem alten Gehöft vielleicht eine Alternative gegeben, wenn man miteinander gesprochen hätte?
Sie hat keine Angst, packt zu, ohne Rücksicht , ohne nachzudenken.
Diese Szene reißt einen sofort in das Buch hinein. Furioser Auftakt! Kann man nicht auch das sich zunächst tot stellende Huhn als Metapher sehen, wie es plötzlich aufsteht und weiterlebt, als sei nach dem Angriff nichts gewesen?
Wie banal sind angesichts des Todes die Vorwürfe, die wir anderen machen.
Natürlich. Nur ist der Mensch nicht so gestrickt, im Angesicht des Schlimmeren seine eigene Situation zu relativieren. Zumindest können es die meisten nicht oder nicht immer. Im Angesicht des Todes wirkt auch ein Bandscheibenvorfall lächerlich - trotzdem tut er erbärmlich weh.
Sie stellt keine Fragen, bei allen anderen muss Linda sich ja immer wieder rechtfertigen,
Ein bisschen irritiert hat mich ihr Satz: "Es stellt sich ohnehin die Frage, wer hier wen therapiert und weswegen eigentlich." Er klingt in meinen Augen überheblich. Wiegt hier Natascha das eine Unglück (gehandicaptes Kind) gegen das andere (verunglücktes Kind) auf?
Man kann als Leser beide sehr gut verstehen.
Das versteht Krien wunderbar! Sie schildert, lässt aber Verurteilungen weitgehend beiseite, so dass sich der Leser selbst sein Bild machen kann.
 

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
20.758
54.634
49
Aber hier, in meinem dritten Leben, sind es nicht die Menschen. Es sind die Tiere und Pflanzen und der Wind und die Bilder von den Toten an den Wänden." 29
Wie ein schwarzes Loch steht es im Zentrum meines Seins und schluckt jede Zukunft, bevor sie beginnen kann. (41)
... und fast alle Probleme, die für mich kommen würden, leiteten sich aus der simplen Tatsache ab, die Zweite zu sein.48
Die heilsame Wirkung von Kälte erfuhr ich dort zum ersten Mal. 55

Es sind solche Sätze, die unheimlich viel Kraft und Aussage haben, dass sie mich sofort für den Text einnehmen.

Beängstigend diese Begegnung im Ferienhaus mit dem Nachbarn. Lässt sie sich mit ihm ein, um sich selbst zu bestrafen? Linda versteht es selbst nicht:
Was in dieser Nacht geschah, gehört in die Dunkelheit und in das Schweigen. Ins Licht und in die Worte geholt, bliebe es dennoch unverständlich. 80
Ich schließe mich der allgemeinen Begeisterung gerne an, auch wenn der Text fordernd ist.
 

Barbara62

Bekanntes Mitglied
19. März 2020
4.621
17.889
49
Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Nachtrag: Ein bisschen habe ich mit der Figur von Richards Ex-Frau gehadert. Ohne Frage gibt es solche gewalttätigen Frauen - aber dermaßen selten...
Mein Mann hat einen Patienten, der genau das erlebt. Ich weiß nicht, ob es wirklich so selten ist. Aber es ist vermutlich noch schambehafteter als für Frauen. Frauen bekommen von ihren Geschlechtsgenossinnen Mitleid, Männer von ihren eher nicht. Umso besser, wenn auch das einmal in der Literatur thematisiert wird.
 

Federfee

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13. Januar 2023
3.171
13.308
49
Meine eindrücke muss ich erst noch sortieren, bevor ich mich äußere.
Die Eingangsszene mit dem Bussard (oder doch Falken?) mochte ich nicht. Die passt für mich irgendwie nicht
Ich fand sie sehr beeindruckend und dachte, dass eine Menge Aggressivität in dieser Frau steckt, wobei ich jetzt nach etlichen Seiten nicht mehr weiß, ob ich das am Anfang richtig gesehen habe.
Zwei Jahre getrennt lebend, da ist es verständlich, dass sich Richard allmählich nach Zweisamkeit sehnt. Zumal ihm Linda keine Hoffnung macht, dass sie bald wiederkommt.
Es muss furchtbar für ihn sein; er leidet ja auch und bräuchte Trost.
Der Roman wirft die schwierige Frage auf, wie weiterleben, wenn man das Kostbarste im Leben verloren hat. Kann und darf man jemals wieder glücklich werden, wenn das geliebte Kind gestorben ist.
Das fragt man sich automatisch, aber eigentlich will man über so etwas gar nicht nachdenken, zu schrecklich ist das.
Wie banal sind angesichts des Todes die Vorwürfe, die wir anderen machen.
Das kann man sich immer wieder nur vor Augen halten, wie unwichtig manche Dinge sind.
Hat Richard es nicht auch leichter an der Stelle, weil er noch zwei weitere Kinder hat?
Ein guter Gedanke. Da hat er es wahrscheinlich etwas leichter.
Kann man nicht auch das sich zunächst tot stellende Huhn als Metapher sehen, wie es plötzlich aufsteht und weiterlebt, als sei nach dem Angriff nichts gewesen?
Interessanter Gedanke :think Aber was könnte das bedeuten?
 

Federfee

Bekanntes Mitglied
13. Januar 2023
3.171
13.308
49
Bis jetzt ist alles sehr traurig: die Vorstellung, dass ein junger Mensch so plötzlich aus dem Leben gerissen wird, ganz schrecklich beschrieben die Szene, als die Ärztin es den Eltern sagen muss. Da wundert mich die Krebserkrankung von Linda nicht. Ich denke, ihre Abwehrkräfte haben durch den Tod der Tochter Schaden genommen, was sie selber auch so sieht (13). Und dann die unterschiedliche Art und Weise, wie sie und ihr Mann mit allem umgehen. Schrecklich, dass sie sich so zurückzieht und sie sich nicht gegenseitig trösten können.

Linda hat sich total verändert, was sich nicht nur darin zeigt, dass sie ihr Äußeres vernachlässigt. Sie lebt ganz zurückgezogen von aller Welt in einem heruntergekommenen Haus und fast alles ist ihr egal.

Richard wird sehr sympathisch dargestellt, sanftmütig, fürsorglich. Ich kann gut verstehen, dass er eine Neue findet, wobei noch nicht klar ist, wie es mit ihr weitergehen wird. Aber nach zwei Jahren Einsamkeit und nachdem Linda ihn immer wieder zurückstößt und nicht weiß, wann und ob sie wieder in ihr altes Leben zurückkehren wird, ist es verständlich, dass er menschliche Wärme sucht. Dennoch kümmert er sich um sie, bringt ihr bei jedem Besuch eine Kleinigkeit mit, sehr liebevoll.​

Einziger Besuch: die schrille Natascha, die ihr einen Spiegel vorhält, fragt, was andere nicht wagen, sie mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert:

'Auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod hat er sich für das Leben entschieden, während Sie versucht haben, ihn zu den Toten rüberzuziehen.' (71)

Auch hier wieder (wie in manchen Büchern) eine Beschreibung, wie negativ sich das dörfliche Leben verändert hat (17), alles ganz typisch: Gabionen, Trampolins,...

Schöne Wortbilder:​
'Sie war ein verschlissener Mensch.'19 u., den Erinnerungsfallen entkommen 24, die Beschreibung des Blattfalls der Linden im Park 24, Träume in die kleinen Schubladen des Alltags gepackt 46
 

Hervorgehobene Beiträge