1. Leseabschnitt: Teil I. - Kapitel 1 bis 3 (Beginn bis Seite 75)

GAIA

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27. Dezember 2021
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Ich war auf dieses Buch, was ja dann doch nicht, wie im Entwurf des Verlags nur "Mädchen" sondern "Es ist ein Mädchen" heißt, sehr gespannt.
Interessant ist, dass der Originaltitel ja "Fille" ist, also auch "Mädchen" hätte bleiben können. Zunächst hatte ich beim Lesen der ersten Seite Angst, dass die Übersetzerin recht frei entschieden hat, auch aus dem ersten ausgesprochenen Satz statt "Mädchen." ein "Es ist ein Mädchen" zu machen. Aber ein Blick in die Leseprobe des französischen Originals zeigt, dass auch hier der erste und im späteren Verlauf ja so wichtige Satz "C'est une fille." heißt. So viel erst einmal dazu.
Der Gesamteindruck: Mir gefiel besonders auf den ersten 20+ Seiten der Einfallsreichtum, wie die Autorin (und Übersetzerin!) sprachlich die Misogynie gegenüber Mädchen (und auch Frauen) geschafft hat darzustellen wirklich sehr. Die Sprache war für mich das Herausstechendste an diesem Romananfang. Diesbezüglich habe ich mir so viele Stellen im Text markiert, die mit der Grammatik spielen bzw. aufzeigen, wie Sprache schon im negativen Sinne den Unterschied zwischen biologisch weiblichen und männlichen Personen festnagelt. Auch die Sprachbilder als solche haben mir sehr gut gefallen. Wie z.B. auf S. 19 "das Platsch des schräg auf der relativ glatten Oberfläche des Schweigens aufprallenden Steins...und die Kiesel, die von Mund zu Mund springen."

Inhaltlich stellt die Autorin zügig klar, dass hier harte Wahrheiten angesprochen werden, wie dass das Mädchen schon längst tot sei, wäre es in China oder Indien geboren. Keine Frage, diese Sachen fand ich beeindruckend.
ABER: Tatsächlich ging mir mit der Zeit die Dichte der aneinandergereihten Anekdoten, vor allem dann wenn der (gekonnt eingeführte!) Wechsel der Erzählperspektive einsetzt. Danach habe ich das Gefühl, das weniger ein Plot sich entwickelt, als eben vielmehr eine Anekdote nach der nächsten kommt. Das soll vielleicht ermüden, weil Misogynie kraftraubend und ermüdend für die betroffenen Frauen (erst einmal bezogen auf die Generation, wie im Buch dargestellt, geb. um 1959) ist. Trotzdem hoffe ich, dass der Erzählstil in den späteren Kapiteln bzw. Teilen des Romans etwas "langsamer" wird. Nicht mehr so zackig von hier nach da springt und auch mal ruhiger bestimmte Beziehungen, Szenen, Gefühlslagen betrachtet.

Zum zackigen Wechsel: Mir kamen im ersten Teil so einige knallharte Szenen zu "vor die Füße geworfen" vor. So z.B. auf S. 32, wenn mal eben gesagt wird, dass das dritte Mädchen stirbt bzw. dann gestorben ist. Da bin ich als Leserin überrumpelt und werde diesbezüglich auch nicht groß mitgenommen. Wie gesagt, wird sicherlich alles so konstruiert sein von der Autorin, aber ich fühlte mich da mit dem lapidaren Ton eher "brüskiert" (mir fällt grad keine bessere Formulierung ein). Generell ist der Ton ja so dahergeredet, halb mit einem Augenzwinkern mitunter, läppisch manchmal. Da lief in meinem Kopf so ein tragikomischer Film ab. Independent Kino, man sieht ein Kind wird geboren und aus dem Off kommt die lapidare Stimme, die so ein bisschen bemitleidend auf das Kind schaut, da die Stimme ja schon weiß, wohin die Reise/das Leben/der Filmplot gehen wird. Die Bilder wechseln zügig und sind mit den ganzen Verwandten usw. immer etwas schräg und humoristisch aufgemacht. Wisst ihr was ich meine?
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Direkt schleicht sich das Gefühl ein, dass es etwas schlechtes ist ein Mädchen geboren zu haben, genauer ein Mädchen zu sein. Die Sohn—o—grafie gab es ja leider auch erst später, so dass man sich wirklich noch überraschen lassen musste. Diese und ähnliche Dinge lockern das ernste Thema zwar etwas auf, doch nach längerem lesen wird es mir stellenweise echt zu viel. Alles was im Leben dieses Mädchens passiert, wird unter diesem Deckmäntelchen durchleuchtet. Einiges ist interessant, wie die Tatsache, dass im französischen Tochter und Mädchen zusammengefasst sind, es nur ein Wort gibt, beim männlichen Geschlecht sieht es anders aus. Das wusste ich nicht, und man kann es so deuten wie hier, was natürlich auch leicht fällt, wenn die Jungen stärker erwünscht sind, als die Mädchen, allerdings frage ich mich, ob man wirklich in alles etwas hinein interpretieren muss. Fakt ist, dass ein Mädchen keine Luftsprünge auslöst!
Was mir noch aufgefallen ist, dass einiges dem Alter des Mädchens entspricht. So etwa die kindliche Vorstellung, dass einem Mädchen der Penis abgefallen sein könnte. Anderes wiederum passt nicht, wie die Andeutungen zu André, dass sind Dinge die ein Kind nie bemerken würde.
 
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Ich hatte mir lange überlegt, ob ich dieses Buch lesen möchte, wurde dann auf Grund von sehr effizenten Besprechungen in den Medien doch neugierig. Allerdings hatte ich nicht erwartet, dass der Stil der kurzen Leseprobe auch so bleiben würde. Bis auf Seite 38, wo sie dann feststellt, dass Laurence nun drei Jahre alt ist und sehr interessiert, und daher ihre Geschichte nun selbst weitererzählen kann, fühlte ich beim Lesen eine gewisse Distanz. Es ist eine stete Aneinanderreihung von bekannten Tatsachen, nicht nur einige Erfahrungen, wie wir sie wohl alle gemacht haben, sondern sämtliche Erfahrungen, vereint in einer Person. Die noch dazu ein rundliches Kind ist, was sie noch mehr ausgrenzt. Der Vater auf Distanz, die Mutter und André, macht der Vater Zugeständnisse, weil die Mutter das Geld in die Ehe gebracht hatte? Mit 7, 8 Jahren schnappt man Worte wie "Tunte, schwul" auf und denkt darüber nach? Cliché um Cliché, da wird nichts ausgelassen. Bisher ist es noch nicht mein "Buch des Monats" ;)
aber es kann ja noch werden, ich bin gespannt.
 

ulrikerabe

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Einiges ist interessant, wie die Tatsache, dass im französischen Tochter und Mädchen zusammengefasst sind, es nur ein Wort gibt, beim männlichen Geschlecht sieht es anders aus.
Ich war mir nicht ganz sicher und habe noch während des Lesens mein Französisch aufgefrischt.
"fille" heißt sowohl Tochter, als auch Mädchen
"fils" heißt Sohn, "Garcon" Knabe

Ich habe ein bisschen geschmunzelt, als ein paar Seiten später die Gleichheit des Wortes im Text explizit erwähnt wurde.

Es ist ja auch eine Besonderheit, dass Mädchen in der deutschen Sprache sächlich ist. Es ist schon ein Kreuz mit den Artikeln und Geschlechtern :)
 

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Alles was im Leben dieses Mädchens passiert, wird unter diesem Deckmäntelchen durchleuchtet.
So geht es mir auch mit diesem ersten Teil, ich finde teilweise sogar, das Situationen und Momente bewusst so konstruiert werden, damit jede einzelne Szene in diesem Sinne die unterschiedliche Erziehung und Wertschätzung zwischen Mädchen und Jungen betont. Auf dem inneren Klappentext werden die bestechende Raffinesse und der sanfte Humor der Autorin hervorgehoben - vielleicht ist der Humor zu sanft für mich und mir zumindest bisher nicht aufgefallen.
 

ulrikerabe

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Cliché um Cliché, da wird nichts ausgelassen.
Das dachte ich mir spätestens ab dem Moment, wo sie als Unterschied zwischen Jungs und Mädchen erkennt, dass die einen stehen beim Pinkeln und die anderen nicht.

Ich weiß nicht, ob es eine Legende ist oder eine echte Umfrage. Aber ich meine mich daran zu erinnern, dass bei einer Befragung, was Frauen als erstes machen würden, wenn sie einen Tag lang Mann sein könnten, die meisten Antworten lauteten: im Stehen pinkeln

Gut, unter dem Gesichtspunkt, dass es die erste Handlung ist, die man am Morgen nach dem Aufstehen macht, verständlich. Und spontan geäußert auch. Mit etwas Bedenkzeit würden ich wohl viele eher ihr Gehalt neu verhandeln :)
 

ulrikerabe

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Wisst ihr was ich meine?
Ich denke ja.
So sind die Beobachtungen, die sie macht, auch nicht immer kindlicher Natur sondern eher mit dem erwachsenen Rückblick.
V.a. Beobachtung sechs: Ein Junge will insgeheim den Mädchen gefallen. Es ist also komplizierter als es scheint. Bleibt abzuklären. (s. 51)

Oh, ich meine Mme Laurens hat das schon sehr genau abgeklärt.
 

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Mit etwas Bedenkzeit würden ich wohl viele eher ihr Gehalt neu verhandeln
Das denke ich auch, mit einer Ausnahme, bei einem Waldspaziergang, weit und breit kein WC, nur Buchen, und deren Stämme sind nicht besonders dicht, da wünsche ich mir jedes Mal immer noch, das diskret im Stehen erledigen zu können. Ich kann mich erinnern, dass es mal vor 15 ?? Jahren etwa eine Art Trichter gab, der es Frauen ermöglichen sollte, endlich auch im Stehen zu pinkeln. War unter eher feministisch orientierten Frauen ein Thema, habe allerdings nur darüber gelesen, keine praktische Erfahrung und es hat sich wohl auch nicht bewährt. ;)
 

ulrikerabe

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... und wir in der wienerischen Umgangssprache "das Buberl" und die Buberpartie kennen, beides ist allerdings keine besonders schmeichelhafte Bezeichnung, in alten Zeiten hatten wir auch noch "das Bübchen".
Verkleinerungen sind ja immer (?) sächlich. Was wäre das Hauptwort zu Mädchen? Die Maid? Verwendet ja keiner.
 

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Verkleinerungen sind ja immer (?) sächlich. Was wäre das Hauptwort zu Mädchen? Die Maid? Verwendet ja keiner.
Oh, an die generell sächlichen Verkleinerungsformen hatte ich nicht gedacht, stimmt. Mädchen kommt von die Magd, aber damals nicht unbedingt Magd im Sinne von Landarbeiterin, sondern generell junge Frau.
 
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Reaktionen: Lesehorizont und GAIA

GAIA

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Ich kann mich erinnern, dass es mal vor 15 ?? Jahren etwa eine Art Trichter gab, der es Frauen ermöglichen sollte, endlich auch im Stehen zu pinkeln.
Oh ja!!! Achtung: Die sog. Urinella! Wir machten damals auf Festivals immer den Witz als Frauen, die dabei waren, dass wir eine Urinella bräuchten, damit wir ähnlich sorgenfrei wie die Männer die Dixis benutzen könnten. Ich erinnere mich. :rofl
 

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Oh, an die generell sächlichen Verkleinerungsformen hatte ich nicht gedacht, stimmt. Mädchen kommt von die Magd, aber damals nicht unbedingt Magd im Sinne von Landarbeiterin, sondern generell junge Frau.
Frau - Fräulein fällt mir noch ein.
Ist aber ja auch früher zur Unterscheidung von verheirateten und unverheirateten Frauen gedacht gewesen
 

ulrikerabe

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Frau - Fräulein fällt mir noch ein.
Ist aber ja auch früher zur Unterscheidung von verheirateten und unverheirateten Frauen gedacht gewesen
Und das zieht sich durch viele Sprachen hindurch. Madame - Mademoiselle Mrs - Miss - Ms. , Signora - Signorina ....
Für die Männer gibt es diese Unterscheidung nicht

Allerdings ist das Fräulein offiziell im Schriftverkehr aufgehoben. Amtlich gibt es die Unterscheidung nicht mehr
 

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Ich habe diesen Abschnitt sehr gerne gelesen.
Rhetorisch fand ich die "gefühlte Katastrophe", dass es ein Mädchen ist, gut rüber gebracht. Es war sicher insbesondere früher oft so, dass man sich nach einem Mädchen einen Jungen wünschte - quasi als "Stammhalter". Interessant fand ich in dieser Hinsicht den Hinweis, dass Laurence in anderen Kulturen wohl während der Schwangerschaft bereits getötet hätte.
Berührt hat mich insbesondere der Schmerz darüber, dass das dritte Mädchen kurz nach der Geburt starb. Die düstere Stimmung in der Folge fand ich gut beschrieben; auch die gefühlte "Unzukänglichkeit" von Laurence.
Generell wird in diesem Abschnitt viel mit gängigen Vorurteilen gearbeitet, aber gut, lange Zeit war es zum Beispiel so, dass Mädels rosa trugen, Jungs hellblau. Einiges davon ist tendenziell heute noch so.
Diese kindliche Vorstellung das weibliche Geschlecht sei sozusagen ein unterwntickeltes oder verloren geganges männliches, wurde, denke ich, auch realistisch beschrieben. Ein Mitglied eines früheren Leseclubs hat mir mal erzählt, wie entsetzt ein kleines Mädchen mal war, als es am Strand erstmalig den Unterschied zwischen sich und einem kleinen Jungen feststellete. Es habe bitterlich geweint, weil es diesen "Schlauch", wie es hier beschrieben wird, nicht hat. :D
Interessant fand ich den Perspektivwechsel, wo wir dann die Geschichte aus der Sicht von Laurence erzählt bekommen. In ihren ersten Erinnerungen dreht sich auch vieles um den Unterschied der Geschlechter.
Ich bin jedenfalls gespannt, wie sich die Geschichte weiter entwickelt...
 

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29. März 2022
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Mir gefiel besonders auf den ersten 20+ Seiten der Einfallsreichtum, wie die Autorin (und Übersetzerin!) sprachlich die Misogynie gegenüber Mädchen (und auch Frauen) geschafft hat darzustellen wirklich sehr. Die Sprache war für mich das Herausstechendste an diesem Romananfang. Diesbezüglich habe ich mir so viele Stellen im Text markiert, die mit der Grammatik spielen bzw. aufzeigen, wie Sprache schon im negativen Sinne den Unterschied zwischen biologisch weiblichen und männlichen Personen festnagelt. Auch die Sprachbilder als solche haben mir sehr gut gefallen
Stimmt! Erstaunliche Kreativität der Autorin.

Trotzdem hoffe ich, dass der Erzählstil in den späteren Kapiteln bzw. Teilen des Romans etwas "langsamer" wird. Nicht mehr so zackig von hier nach da springt und auch mal ruhiger bestimmte Beziehungen, Szenen, Gefühlslagen betrachtet.
Bislang gefiel mir der temporeiche Erzählstil eigentlich ganz gut. Vielleicht empfand ich die Traurigkeit über den Tod des dritten Mädchens deswegen sogar besonders intensiv. Ich finde, da werden starke Bilder erzeugt. Ich konnte mir Laurence gut vorstellen, wie sie um das gefürchtete Zimmer ängstlich herumschleicht.
Direkt schleicht sich das Gefühl ein, dass es etwas schlechtes ist ein Mädchen geboren zu haben, genauer ein Mädchen zu sein. Die Sohn—o—grafie gab es ja leider auch erst später, so dass man sich wirklich noch überraschen lassen musste.
Das war mir, ehrlich gesagt, gar nicht so bewusst, dass diese Methodik noch recht jungen Datums ist. Naja, nicht alle technischen Neuerungen sind nur positiv zu sehen. Die frühere Unvorhersehbarkeit des Geschlechts hat gewiss auch so manche Vorteile...

Es ist ja auch eine Besonderheit, dass Mädchen in der deutschen Sprache sächlich ist. Es ist schon ein Kreuz mit den Artikeln und Geschlechtern :)
Ist sicher für viele verwirrend, die die deutsche Sprache erlernen...

Ich weiß nicht, ob es eine Legende ist oder eine echte Umfrage. Aber ich meine mich daran zu erinnern, dass bei einer Befragung, was Frauen als erstes machen würden, wenn sie einen Tag lang Mann sein könnten, die meisten Antworten lauteten: im Stehen pinkeln
Tatsächlich? Hätte ich nicht unbedingt erwartet. :D