1. Leseabschnitt: Teil 1 - Kapitel 1 und 2 (Anfang bis S. 53)

Renie

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Ich bin längst durch mit dem Buch, da schaue ich jetzt nicht mehr rein, was ich nicht verstanden habe. Dann hätten sich "die Franzosen" früher outen müssen;)
Tatsächlich habe ich die ganze Zeit überlegt, ob die französischen Ausdrücke nicht nervig sind, für jemanden, der kein Französisch kann. Aber irgendwie ist es mir immer wieder durchgegangen nachzufragen.:D
 

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Bevor ich Eure Kommentare lese, möchte ich erst einmal meine Gedanken loswerden:
Ich bin begeistert!
Baldwin ist ein Meister im Beschreiben äußerer und vor allem innerer Realitäten. Er seziert innere Prozesse und beschreibt psychologische Vorgänge und Zusammenhänge feinfühlig und gekonnt.

Die Nacht mit Joey stand mir bildlich und lebendig vor Augen.
Diese eindrückliche, einschneidende, aufwühlende, sein Leben und Erleben verändernde und erschreckende Nacht mit seinem Freund Joey.

Und dann der Abend in der Bar.
Nicht nur, dass mir die gewitzten und lebendigen Dialoge mit Tiefgang gefallen haben. Nein! Es war mehr.

Man spürt die Atmosphäre in der Bar und bekommt mehr als eine Ahnung von den Prozessen, die im Inneren Davids ablaufen.
Man spürt, wie sich in David etwas regt. Eine Tatsache, die er über viele Jahre hinweg versucht hat zu verleugnen: seine Homosexualität. Gefühle, die er über viele Jahre hinweg versucht hat zu verdrängen: sich hingezogen fühlen zu Männern.
Ein innerer Sturm. Eine rasende innere Erregung. Ein innerer Kampf.
Man spürt, wie alles, was David über Jahre und Jahrzehnte in Schach gehalten hat, in der Bar über ihn hereinstürmt.

Ich bin so neugierig, wie es weitergeht und was mit Giovanni passiert.
 

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Ach ja und noch etwas muss ich loswerden, bevor ich lese, was Ihr geschrieben habt:
Ich bin tief beeindruckt von Baldwins Fähigkeit psychodynamische Zusammenhänge zu beschreiben und mit Metaphern zu verdeutlichen. (S. 28, über Entscheidungen, Willensstärke und Selbsttäuschung). Ich „musste“ diese Seite dreimal lesen und habe sie dann noch meinem Mann und meinem Sohn vorgelesen. So toll fand ich es, wie er es schafft, „Wahrheiten und Möglichkeiten“ in Worte zu fassen…
 

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Das macht es D. sehr schwer offen mit dem Vater über seine Neigungen zu sprechen...er will seinen Vater nicht enttäuschen.
... Ich glaube nicht, dass David mit seinem Vater über seine Gefühle und Neigungen sprechen wollte. Er wollte ja selbst nichts davon wissen. Er hat sich so sehr erschreckt. Möchte diese neue Wahrheit verleugnen und verdrängen. Tief in sich vergraben. Er ist noch weit davon entfernt, sie als gegeben zu betrachten, zu akzeptieren und Anderen mitzuteilen.
 

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Bei uns galt der Paragraph 175 , der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, bis 1994. in den USA war das Verbot in manchen Staaten bis 2003 gültig, in Frankreich wurde Homosexualität 1971 legalisiert.
Das sind die äußeren Verbote. Die haben alles noch um ein Vielfaches erschwert. Aber noch heute erleiden, erdulden und ertragen homosexuelle Menschen oft große Nöte aufgrund von inneren Verboten und gesellschaftlichen Vorstellungen. Vor allem junge Menschen, die noch weit davor stehen, sich selbst zu akzeptieren wie sie sind und die auch noch weit davon entfernt sind, sich zu outen.
Leichter ist es geworden. Aber leicht noch keineswegs.
 

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Nur dann kann man die Verdrängung, die Flucht, das Negieren seiner Neigungen verstehen.
... Ich finde nicht nur dann. Also nicht nur dann, wenn man die damalige Zeit vor Augen hat. Denn, wie gesagt, das waren äußere Normen und Gesetze. Noch heute gelten diese Normen und Gesetze oft innerlich weiter.
Aus zahlreichen Behandlungen weiß ich um die innere Not vieler dieser Mitmenschen, obwohl es heute keine solche äußeren Regeln und Gesetze mehr gibt…
 
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Ich kann mir gut vorstellen, dass auch heute, wo Homosexualität viel liberaler gesehen wird, junge Menschen in einen ähnlichen Konflikt geraten, wenn sie spüren, dass sie vom eigenen Geschlecht angezogen werden. Gleichgeschlechtliche Paare sind immer noch nicht die Normalität und als Jugendlicher willst du in der Regel dazu gehören und nicht außerhalb stehen.
... So erlebe und erfahre ich das vielfach. Es ist oft eine Qual, mit anzusehen, wie es da um Verleugnung und Verdrängung geht. Um Ängste, um innere Konflikte, um Selbstzweifel…
 

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Bei der Beschreibung der Bar und ihrem Publikum ist mir bewusst geworden, wie schnell man mit der Bezeichnung "klischeehaft" zur Stelle ist. Wäre dieser Roman in der heutigen Zeit geschrieben worden, hätte man die Darstellung der schwulen Gäste und deren Umgang miteinander als klischeehaft abgewatscht. Aber da dieser Roman in den 50ern geschrieben wurde, wo die Schwulenszene noch nicht das Format hat, das sie heute hat und erst recht nicht gesellschaftsfähig war, kann man auf gar keinen Fall von Klischees sprechen, wenn man wie wir in die damalige Zeit zurückblicken.
Dennoch frage ich mich, wie die Öffentlichkeit damals auf diese Beschreibungen reagiert hat. Hätte man diese Beschreibungen in der damaligen Zeit auch schon als klischeehaft bezeichnet? Ein bestimmtes Bild muss man ja auch damals schon von Schwulen gehabt haben. Dieses tuntige Gehabe, dass ein paar Gäste der Bar an den Tag legen und die entsprechenden Klamotten gehörte mit Sicherheit dazu.
... Interessante Gedanken!
 
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Ist das D.s Meinung oder etwa die von Baldwin?
...Vielleicht weder Davids noch Baldwins... Vielleicht die antizipierte Meinung der damaligen Gesellschaft?
Eigentlich glaube ich, dass es Davids und die gesellschaftliche Meinung ist. Baldwin scheint mir ein sehr offener und liberaler Mensch zu sein.
Vielleicht ist es aber nicht einmal Davids Meinung. Vielleicht „muss“ er so denken. „Muss“, um die Abwehr seiner eigenen Homosexualität und die Abwehr seine Neugierde aufrecht zu halten.
 

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Ich bin noch am Anfang (S. 16), aber das Buch hat mich jetzt schon gepackt mit seiner Sprache, seinem Gefühl, seiner unheilvollen Grundstimmung - sind die anderen Bücher von Baldwin auch so?
... Ob die anderen Bücher auch so sind, weiß ich nicht. Ich habe noch keines von ihm gelesen. Aber das wird sicher nicht mein letztes von ihm sein. Ich bin richtig angefixt…
 
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Das Einzige, was mich bisher an diesem Buch stört, sind die vielen französischen Einschübe. Ich kann bis auf die bekannten Worte Merci etc. keinerlei französisch. Klar, das ein oder andere wird meist sinngemäß erklärt, aber trotzdem stehe ich immer wie der berühmte Ochs vorm Berge :confused::D. Aber egal - Augen zu und durch :).
... Diese Einschübe sind nicht wirklich wichtig. Ich liebe es, über sie zu stolpern. Es steigert noch das Gefühl, in Paris zu sein…
 

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Genau das nervt mich bis zum Schluss! Man kann doch nicht davon ausgehen, dass jeder Französisch kann! Vieles sind ja nur Redewendungen, manchmal wird es auch wiederholt. Aber oftmals musste ich es ignorieren, hatte nämlich keine Lust, den Google Übersetzer zu bemühen.
... Es sind nicht mal Redewendungen. Es ist überhaupt nicht schlimm, diese Einschübe nicht zu verstehen. Da verpasst man nichts. Aber andererseits gibt es einem was (mir zumindest) wenn man sie versteht… Dann fühlt man sich noch mehr hinein versetzt…
 

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Ich finde nicht nur dann. Also nicht nur dann, wenn man die damalige Zeit vor Augen hat. Denn, wie gesagt, das waren äußere Normen und Gesetze. Noch heute gelten diese Normen und Gesetze oft innerlich weiter.
Dann denk dir das NUR weg. Ich bin aber schon der Meinung, dass die gesellschaftliche und gesetzliche Ächtung der Homosexualität es für den einzelnen noch deutlich erschwert hat, zu homosexuellen Neigungen zu stehen. Es mag auch heute nicht einfach sein, sich dazuzbekennen, weil man aus der Norm fällt, man keine Familie haben kann etc.. Das Schwulsein wird heute aber im Gegensatz zu damals in vielen Gesellschaftsschichten akzeptiert und ist nicht mit den 50er Jahren vergleichbar.
 

Literaturhexle

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...Vielleicht weder Davids noch Baldwins... Vielleicht die antizipierte Meinung der damaligen Gesellschaft?
Eigentlich glaube ich, dass es Davids und die gesellschaftliche Meinung ist. Baldwin scheint mir ein sehr offener und liberaler Mensch zu sein.
Vielleicht ist es aber nicht einmal Davids Meinung. Vielleicht „muss“ er so denken. „Muss“, um die Abwehr seiner eigenen Homosexualität und die Abwehr seine Neugierde aufrecht zu halten.
Das klingt plausibel! Hier wurde immer nur spekuliert, ob es Davids oder Baldwins Einstellung ist. So richtig passte für mich nichts. Das könnte der Königsweg sein: die herrschende gesellschaftliche Meinung.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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... Ob die anderen Bücher auch so sind, weiß ich nicht. Ich habe noch keines von ihm gelesen. Aber das wird sicher nicht mein letztes von ihm sein. Ich bin richtig angefixt…
Dann empfehle ich Dir seinen Erstling „Von dieser Welt“ ( Originaltitel „Go Tell It On The Mountain“) und „ Beale Street Blues“. Die beiden haben mir besser gefallen als „Giovannis Zimmer“.
 

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Die Figur David finde ich ziemlich komplex. Er verleugnet seine homosexuelle Neigung (aus damaliger Sicht evtl. aus nachvollziehbaren Gründen) und legt sich zum Beweis seiner Normalität eine Freundin zu. Dennoch verkehrt er mit homosexuellen Männer und geht in diese Bar. Dort schaut er aber auf alle, insbesondere die Transvestiten herab. Er hält sich offensichtlich für etwas besseres. Deshalb ist er auch so unangenehm berührt, als er feststellt, dass alle sein Tächtelmächtel mit Giovanni mitbekommen haben.

Ganz seltsam ist auch seine Beziehung zu Jacques. Jacques steht auf David und gibt ihm Geld - wohl um ihn auf lange Sicht ins Bett zu kriegen. David tut aber so, als verstehe er diese Anmache nicht, weil er ja angeblich nicht homosexuell ist. Diesen Schein kann er nicht mehr aufrecht erhalten, als er mit Giovanni für alle erkennbar anbändelt.
...In diese Komplexität, wie du es ausdrückst, zeigt sich die innere Zerrissenheit von David. Die Widersprüchlichkeit. Die Konflikthaftigkeit. Ich finde, dass der Autor das genial gemacht hat.

Dass David Jaques so offensichtlich ausnutzt, gefällt mir gar nicht. Bis dahin war er mir ziemlich sympathisch, hatte ich auch ziemlich viel Mitgefühl und ich konnte ihn einfach nur verstehen.
Aber dadurch bekommt er etwas, das mich abstößt… Naja. „abstößt“ ist vielleicht etwas zu krass. Es zeigt sich da halt eine Seite, die mir nicht gefällt und die ich nicht mag.
 

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Die Frage nach der Arbeit habe ich mir nicht nur einmal gestellt. Er lebt auf Papis Rechnung und pumpt die Leute an. Man muss nicht alles verstehen.
... Diese Frage habe mich ich mir auch schon gestellt. Und das ist die zweite Seite an David, die mir nicht gefällt. Also neben der Tatsache, dass er Jaques finanziell ausnutzt.