1. Leseabschnitt: Kapitel I. bis V. (Beginn bis Seite 71)

GAIA

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27. Dezember 2021
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Der Einstieg in den Roman ist für mich wirklich sehr gut gelungen. Ich finde Sukhin mit seiner grummeligen Art einen interessanten Charakter und seine Kontaktaufnahme zu seiner Ex-Freundin aus Schulzeiten weckt auf jeden Fall mein Interesse mehr über ihre Beziehung (in der Vergangenheit, Gegenwart und vielleicht auch Zukunft) zu erfahren.

Die kursiven Abschnitte kann ich noch nicht einhunterprozentig zuordnen. Die erste Vermutung ist, dass das nicht-chronologische Momente aus einer potentiell noch Jahre währenden Paarbeziehung der beiden Obengenannten sein könnte.

Die Sprache ist kurzweilig und gefällt mir ebenso sehr gut. Das war für mich so eine unsichere Sache, da ich z.B. mit Literatur aus Südkorea nur sehr eingeschränkt auf einzelne Autor:innen etwas anfangen kann. Meist sind mir die südost-asiatischen Idiome zu fremd oder nicht gut genug ins Deutsche übertragen. Hier ist der Text ja grundsätzlich auf Englisch entstanden. Wir erfahren im Glossar, dass Englisch die Schulsprache ist und scheinbar auch die Literatur Singapurs stark durch die Entstehungsgeschichte als britische Kolonie geprägt ist. So scheint der Text einen für mich als Europäerin sehr nachvollziehbaren Aufbau zu haben.

Was ich allerdings weiterhin nicht nachvollziehen kann: Warum es Verlage gibt, die die Begriffe, die im Glossar erklärt werden, nicht im Fließtext mit einer kleinen hochgestellten Ziffer kennzeichnen... Ein immer wieder auftretendes Problem, was mich wirklich stört. Für das aktuelle Buch mache ich es nun so, dass ich den jeweiligen Leseabschnitt erst einmal am Stück lese und im Anschluss für den Seitenbereich dann die Anmerkungen aus dem Glossar nachträglich durchlese. Danach gehts weiter zum nächsten LA. Bin ich eigentlich die Einzige, die das grundsätzlich stört oder gibt es auch noch andere? :oops:
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Die erste Vermutung ist, dass das nicht-chronologische Momente aus einer potentiell noch Jahre währenden Paarbeziehung der beiden Obengenannten sein könnte.
Das ist auch meine Vermutung. Dafür spricht auch, dass sich das "kursive" Ehepaar bereits aus der Schule kennt.
Warum es Verlage gibt, die die Begriffe, die im Glossar erklärt werden, nicht im Fließtext mit einer kleinen hochgestellten Ziffer kennzeichnen...
Da bin ich auch bei dir, wobei ich beispielsweise einen Kursivdruck besser finden würde als eine Fußnote. Sonst denke ich noch, ich wäre bei Manesse.... Und somit bist du nicht die Einzige, die das stört. ;)
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Mir geht es im Großen und Ganzen wie @GAIA . Ich folge dem Roman sehr gern und bin vor allem seit dem fünften Kapitel auch emotional, da ich dieses sehr berührend finde.

Sprachlich mag ich vor allem die kursiven Zwischenstücke, über die wir oben ja schon spekuliert haben. Der Anfang hat mich dabei richtig überrascht: eine alltägliche Situation und plötzlich und unvermittelt: "Die Frau ist tot." Solche Elemente wie die Doppelung der Gedanken auf S. 7 unten finde ich außergewöhnlich und sehr schön.

Sukhin ist ein sympathischer Griesgram, ein einsamer Mann, den ich interessant als Figur finde und dem ich gern folge. Vieles, was er denkt und empfindet, kann ich nachvollziehen.

Der Humor ist manchmal etwas überdreht, nimmt aber glücklicherweise keinen wahnsinnig großen Raum ein. Denn dahinter versteckt sich immer auch ein wenig Traurigkeit. Überspitzt finde ich Dennis als Klischeeschwulen. Er wird höchstwahrscheinlich die Lieblingsfigur von @Literaturhexle sein ;). Das mit der asymmetrischen Frisur fand ich hingegen witzig.

Die Schule wirkt wie ein Wirtschaftsunternehmen inklusive Abteilungsleitern. Interessant in Bezug auf Singapur als Schauplatz. Dazu ständig die singapurischen Köstlichkeiten. Ich habe bislang glaube ich noch keinen Roman gelesen, in dem Essen einen so großen Raum einnimmt. Dadurch bekommt man einen Bezug zum Handlungsort.

Das fünfte Kapitel ist in meinen Augen das bislang stärkste, wodurch der Gesamteindruck auch so positiv ist. Die Szene zwischen Sukhin und Jinn ist sehr warmherzig und besonders. Das eigentlich so halbherzig erzählte Schildkröten-Märchen fand ich in diesem Zusammenhang sehr intensiv. Am Ende des Kapitels bemerkt man bei der Aufsatzbewertung Sukhins einen deutlichen Wandel in seinem Innersten. Schön umgesetzt.

Ein kleiner persönlicher Pluspunkt bei mir ist die Erwähnung von "Wuthering Heights", auch wenn sie hier wohl symptomatisch für den grauen Alltag an der Schule stehen soll. Hätte ich das als Jugendlicher an der Schule gelesen, wäre ich wohl emotional ausgeflippt wie damals bei "Werther" ;).
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Solche Elemente wie die Doppelung der Gedanken auf S. 7 unten finde ich außergewöhnlich und sehr schön.
Stimmt, das hatte ich ganz vergessen zu erwähnen. Diese Dopplung fand ich auch toll. Ich habe die Sätze dreimal in aller Ruhe verglichen, um den minimalen, aber wichtigen Unterschied vollständig zu greifen. Toll!
Zum Humor: Ich hab bisher gemerkt (bin kurz vor dem Ende des 2. LAs), dass ich den Roman eher als literarischen Unterhaltungsroman lese. Durch diese leichten, amüsanten Stellen liest es sich entsprechend süffig runter. Bisher gefällt mir das sehr gut, da wir ja sonst immer genug schwere Kost lesen. Dieselbe Handlung hätte bei vielen anderen Autor:innen, die wir hier so lesen, viel düsterer aussehen können. Mal sehen, wie sich das über den gesamten Roman hinweg macht.
 

Sassenach123

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Am Anfang hatte ich ein wenig Angst, dass mir die Art und Weise von Sukhin auf Dauer zu viel werden könnte. Doch als ich immer mehr von ihm erfahren habe, wandelte sich das Blatt. Mein Mitgefühl wurde geweckt, ich ertappe mich dabei das meiste nachvollziehen zu können, zumindest Verständnis für ihn aufbringen zu können. Eine missglückte Liebe, die ihn anscheinend schon recht lang aus der Bann geworfen hat.
Seine rotzigen Art meint er auch nicht so, er denkt scheinbar viel rationaler, die Emotionen lässt er größtenteils weg. Schön zu sehen am Beispiel der asymmetrischen Frisur. Ich frage mich zur Zeit, ob dies schon immer so war, oder auch der Situation mit Jinn ( ich gehe davon aus, dass sie diejenige welche ist) geschuldet ist
 

Christian1977

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dass ich den Roman eher als literarischen Unterhaltungsroman lese.
Ich habe immer ein Problem damit, das zu unterscheiden. Also jetzt nicht moralisch, sondern wirklich aus literarischer Sicht. "Unterhalten" werden möchte ich eigentlich in jedem Buch, das ich lese. Wie auch immer die Unterhaltung aussehen mag. Ob durch Sprache, Inhalt, Figuren etc. Deshalb kann ich das nie so richtig abgrenzen.

Bei LB habe ich zum Beispiel


Buchinformationen und Rezensionen zu Die Molche: Roman von Volker Widmann
Kaufen >

zum besten Roman in der Rubrik "Unterhaltung" gewählt. Aber ich habe nicht so recht verstanden, warum er überhaupt in dieser Rubrik auftaucht.

Und jetzt schreibst du auch noch "literarischer Unterhaltungsroman". Oh je! Das ist ja noch spezifischer.

Aufgrund meiner Unfähigkeit, dies alles zu unterscheiden, würde ich das zum Beispiel nie in einer Rezension schreiben.
 

Lesehorizont

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Passend zum Titel, habe mich schon gefragt wie der zustande gekommen ist. Aber bei den ganzen süßen Backwaren……..bekomme ich Hunger
Haha- ich habe zum Glück vorher gegessen. :) :)
Ich habe bislang glaube ich noch keinen Roman gelesen, in dem Essen einen so großen Raum einnimmt.
oh doch - mir fallen da einige ein. Aber es ist tatsächlich immer wieder interessant und verleiht der Geschichte auch mehr Authentizität.
"literarischer Unterhaltungsroman"
Unter dem Begriff kann ich mir nicht so viel vorstellen; er scheint irgendwie quer zu liegen zu gängigen Einteilungen von "Hochliteratur" bzw. "anspruchsvoller" im Unterschied zur Unterhaltungsliteratur. Unter letzterem verstehe ich in literarischer Sicht weniger anspruchsvolle Werke, die die Bestsellerlisten anführen und eine große Leserschaft erreichen. Aber klar: schwammige Unterscheidung, finde ich auch immer.
 

Lesehorizont

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Den ersten Abschnitt habe ich gerne gelesen. Natürlich frage ich mich auch, wer die tote Frau ist, die mehrfach angesprochen wird? Euren Vermutungen diesbezüglich kann ich folgen.
Ansonsten finde ich unseren Hauptprotagonisten etwas "schrullig". Mal sehen...
Ich lese die Geschichte bislang gerne, weiß aber noch nicht, in welche Richtung es gehen wird und werde mich gerne überraschen lassen :)
 

Renie

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Das nenne ich mal ein eigenwilliges Buch. Es erzählt eine Geschichte in einer Art und Weise, die völlig von dem abweicht, was ich sonst so lese. Schauplatz ist Singapur, einem Insel- und Stadtstaat mit einem Völkergemisch, das sowohl traditionellen als auch modernen Einflüssen unterworfen ist. Dem Land geht es richtig gut - sowohl wirtschaftlich als auch was die Lebensqualität betrifft. Allerdings gibt es ein paar Haare in der Suppe: brutal hohe Lebenshaltungskosten und das Rechtswesen ist sehr speziell.
Protagonist dieses Romans ist Sukhin, 35 und Single. Er unterrichtet englische Literatur. Wenn es geht, meidet er die Gesellschaft anderer, was merkwürdig ist, wenn man seine Berufswahl betrachtet.
Sukhins Eigenart verleitet mich dazu, aus ihm einen tieftraurigen und verletzlichen Menschen zu machen. Denn in Romanen, die ich sonst lese, ist das so: der Held, der zurückgezogen lebt, ist hochsensibel, irgendwann verletzt worden oder trauert still vor sich hin. Er nutzt seine Zurückgezogenheit entweder um seine Wunden zu lecken oder um sich vor weiteren Verletzungen zu bewahren.
Nicht so Sukhin. Andere Menschen gehen ihm einfach auf die Nerven. Dummheit, Lärm und Oberflächlichkeit halten ihn davon ab, die Gesellschaft anderer zu suchen. Und ich kann ihn gut verstehen. ;)
Worin jedoch seine Abneigung begründet liegt, ist nicht klar.
Ich lasse mich aber gern von den geheimnisvollen „Zwischenkapiteln" verleiten, und hoffe auf Hinweise, die mich irgendwann die Ursache für Sukhins Eigenart erkennen lassen.
Die Sprache ist ebenfalls eigenwillig. Erstmal gibt es einen Unterschied zwischen Sukhins Kapiteln und den Zwischenkapiteln. Die Zwischenkapitel atmen mit jedem Satz Melancholie und Traurigkeit aus.
In Sukhins Kapiteln wird die Geschichte jedoch sehr salopp und umgangssprachlich erzählt, was dazu verleitet, diesen Roman voreilig als leichte Unterhaltungsliteratur
abzustempeln. Doch dem ist nicht so, denn immer wieder stechen aus diesem quirligen und scheinbar oberflächem Text Passagen heraus, die besonders sind.
Dazu zähle ich auch die Beschreibung der Kartons, ihre Stapelordnung sowie den Auswahlkriterien, wobei ich noch keinen Schimmer habe, was es damit auf sich hat. Ist es nur eine Macke von Sukhins Mutter oder gibt es eine tiefere Bedeutung. Auffällig ist natürlich, dass die Kartons auch bei Jinn eine Rolle spielen, wenn auch eine ganz andere.
Und dann die Sache mit dem Kuchen. Hier stehe ich ebenfalls vor einem Rätsel, genieße aber Formulierungen in dem Text wie "Ermutigungskrümel und süßliche Versprechungen". Davon könnte ich mehr haben :birthday :smileeye

Auf jeden Fall lese ich diesen Roman sehr gerne und bin offen für seine Andersartigkeit, freue mich sogar darüber. Denn ich kann gar nicht oft genug betonen, wie sehr ich Romane schätze, die sich von der Masse abheben und mich überraschen.
 

Renie

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Überspitzt finde ich Dennis als Klischeeschwulen.
Ich frage mich, ob er von uns nur als Klischeeschwuler wahrgenommen wird, weil wir Leser in "deutscher" Literatur mit dem Thema überschwemmt werden. Denn streng genommen ist Homosexualität in Singapur kein Thema, das mit der Freizügigkeit behandelt wird, wie wir sie kennen. Wikipedia sagt:

Vielleicht ist der gute Dennis daher nur jemand, der Spaß daran hat, mit seiner Art zu provozieren.
 

Christian1977

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Wenn es geht, meidet er die Gesellschaft anderer, was merkwürdig ist, wenn man seine Berufswahl betrachtet.
Das kann ich sogar sehr gut verstehen. Ich habe im Referendariat zwei Jahre als Lehrer gearbeitet und war über jede Minute Ruhe am Rest des Tages dankbar.
Und ich kann ihn gut verstehen. ;)
Worin jedoch seine Abneigung begründet liegt, ist nicht klar.
Siehe oben, ich kann ihn auch sehr gut verstehen ;). Aber ich kann auch verstehen, worin seine Abneigung begründet liegt. Und du hast sie eigentlich auch schon angesprochen: die Oberflächlichkeit der Menschen. Und wahrscheinlich auch die partielle Dummheit. Ich bin beispielsweise auch eine Niete im Smalltalk und bei einer Feier (wenn ich überhaupt mal eine besuche) wie Sukhin auch lieber in der Rolle des stillen Beobachters am Rande.
Dazu zähle ich auch die Beschreibung der Kartons,
Die Kartons nehmen in meinen Augen eine zentrale Rolle ein. Bei Sukhins Mutter verhindern sie ein "normales" Leben, bei Jinn ermöglichen sie überhaupt eine Art von Leben. Kartons schützen vor äußeren Einflüssen, aber nur oberflächlich und eingeschränkt. Und sie dämpfen das Innere, z.B. den Schmerz und die Angst, bleiben aber immer fragil.
Denn streng genommen ist Homosexualität in Singapur kein Thema, das mit der Freizügigkeit behandelt wird, wie wir sie kennen. Wikipedia sagt:
Das ist ein sehr wichtiger Aspekt, vielen Dank dafür!
 

Sassenach123

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Auffällig ist natürlich, dass die Kartons auch bei Jinn eine Rolle spielen, wenn auch eine ganz andere.

Die Kartons nehmen in meinen Augen eine zentrale Rolle ein. Bei Sukhins Mutter verhindern sie ein "normales" Leben, bei Jinn ermöglichen sie überhaupt eine Art von Leben.
An die Kartons hatte ich schon gar nicht mehr gedacht. Ich fand es beim lesen lustig, so wie die Szene wo er sie säubert, die Kategorisierung, nach der Entscheidungen gefällt werden, ob sie behalten werden, sind ebenfalls genial. Aber hinter ihnen steckt mehr, da habt ihr beiden völlig recht.
 

GAIA

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Und jetzt schreibst du auch noch "literarischer Unterhaltungsroman". Oh je! Das ist ja noch spezifischer.
Haha. So genaue Linien kann ich da auch nicht ziehen. Aber irgendwie gibt es Romane, die ich "nach Gefühl" (also unter Entbehrung jeglicher theoretischer Grundlagen) so bezeichnen würde. Mir fällt spontan "Sein Sohn" von Charles Lewinsky dazu ein. "Literarisch", weil der Roman einen gewissen literarischen Anspruch hat und inhaltlich Wissen vermittelt, moralische Fragen stellt etc. "Unterhaltung", weil man für diese Zeit sehr gut unterhalten wird, es kurzweilig ist, man aber auch nicht allzu sehr daran zu kämpfen, zu knaupeln hat. Tiefsinnig kann es sein, aber leichter verpackt. Wobei eben nicht "leichte Unterhaltung"! (Da fand ich bei der LB-Liste für die Wahl auch die Kategorie "unterhaltung" interessant. Viele Bücher waren für mich auch dort überraschend eingeordnet. Ich glaube diese Kategorie ist generell neu, oder?) Letztlich sind viele Genreeinordnungen mitunter schwer. Das können Literaturwissenschaftler sicherlich am besten. Wobei die Frage ist, ob die überhaupt mit dem Begriff "literatrische UNterhaltung" arbeiten würden.

Dazu zähle ich auch die Beschreibung der Kartons, ihre Stapelordnung sowie den Auswahlkriterien, wobei ich noch keinen Schimmer habe, was es damit auf sich hat. Ist es nur eine Macke von Sukhins Mutter oder gibt es eine tiefere Bedeutung. Auffällig ist natürlich, dass die Kartons auch bei Jinn eine Rolle spielen, wenn auch eine ganz andere.
Diese Parallelen finde ich auch hochinteressant. Bei Sukhins Mutter und Vater werden die Kartons ineinander verschachtelt, um mehr Kartons auf engem Raum beherben zu können, für den Fall, dass die Familie mal umziehen könnte, was nie passiert.
Jinn muss die Kartons stapeln, dass sie überhaupt erst eine Behausung ergeben, für sie würde ein "Umzug" ganz anders aussehen, als für Sukihns Eltern und hätte auch eine andere Gewichtung. Vielleicht ein ganz unfreiwilliger "Umzug", wenn sie von Staatsdienern verjagt wird. (Ich wüsste nicht, wie in Singapur mit Obdachlosigkeit umgegangen wird juristisch, da dieses Land ja so viel Wert auf Ordnung und Sauberkeit legt!)

Bei Sukhins Mutter verhindern sie ein "normales" Leben, bei Jinn ermöglichen sie überhaupt eine Art von Leben.
Auch das ist eine gute Komponente. Ich glaube, diese Kartons sind (neben den Kuchenandwendungen :p ) hier sehr, sehr wichtig.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Also jetzt nicht moralisch, sondern wirklich aus literarischer Sicht. "Unterhalten" werden möchte ich eigentlich in jedem Buch, das ich lese. Wie auch immer die Unterhaltung aussehen mag. Ob durch Sprache, Inhalt, Figuren etc. Deshalb kann ich das nie so richtig abgrenzen.
Darüber musste ich noch länger nachdenken und ich denke genau deine zuvor gemachte Unterscheidung „nicht moralisch sondern literarisch“ ist hier für deine Begriffsverwendung wichtig.
Denn bei mir kommt wohl bei der Nutzung von „unterhalten werden“ die moralische Komponente rein.
Auf meinem SuB liegt z.B. noch folgendes Buch

Es geht um entführte Mädchen, die als Sexsklavinnen der Boko Haram gehalten werden. Bei diesem Inhalt könnte ich nie die Formulierung nutzen, dass ich erwarte, dass es mich „unterhalten“ wird. Aber das ist wohl wirklich die Begrifflichkeit und wie diese moralisch aufgeladen ist. Du meinst sicherlich dann „unterhalten“ im Sinne von „Das Buch sollte das Interesse der Lesenden am Thema nicht reduzieren“, oder?

Wenn man jetzt hypothetisch ein anderes, auch moralisch natürlich stark aufgeladenes Thema als Beispiel nimmt: Konzentrationslager. Dann fällt mir am ehesten als filmisches Äquivalent zu „literarischer Unterhaltungsroman“ der Film „Das Leben ist schön“ ein. Der Film kann zur Prime Time auf einem Privatsender, der auf Einschaltquoten - also auf das breite Publikum - aus ist, gezeigt werden (also nicht nur was für 22:30 Uhr auf Arte oder 3Sat) und hat trotzdem filmemacherische Qualität und inhaltlichen Tiefgang. Wird so ein Schuh draus?
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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„Das Buch sollte das Interesse der Lesenden am Thema nicht reduzieren“, oder?
Genau, so meinte ich es. Es darf mich nicht langweilen. Oder sollte es nicht.
Wird so ein Schuh draus?
Ja, ich verstehe, was du meinst. Wobei ich tatsächlich glaube, dass "Das Leben ist schön " nicht auf einem Privatsender laufen würde. Auf dein Beispiel bezogen. Aber vielleicht liege ich auch falsch.

Ich verstehe es grundsätzlich, dennoch würde mir eine Einteilung immer schwer fallen.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Ich bin positiv überrascht. Überrascht von der Leichtigkeit und der fehlenden Infantilität, die ich irgendwie erwartet hatte. "Asiatische" Literatur ist mir normalerweise wenig zugänglich, aber dieses Buch scheint sich außer der Reihe bewegen zu wollen.

Sukhin hatte ich allerdings wesentlich älter eingeschätzt. Sein 35ster kam dann für mich ziemlich unerwartet. Er scheint intelligent, aber sehr introvertiert zu sein. Fürs Lehrerleben nicht unbedingt die ideale Voraussetzung. Mir gefällt, wie er Trends, wie zum Beispiel das Joggen schonungslos als sinnlos entlarvt und Smaltalk verachtet.

Wie ihr schon bemerkt habt, wundert es mich auch, dass Jinn auf der Straße in Kartons lebt. Ich war zwei Mal als Tourist in Singapur, kann mich aber noch daran erinnern, dass man an jeder Ecke mit Schildern daran erinnert wurde, wie hoch die Strafen sind, wenn man Müll fallen lässt, oder auf der Straße raucht.

Auch die Kartonsammlung im Haus von Sukhins Eltern sind bemerkenswert. Der Wohnraum ist knapp und teuer, da wundert mich diese extravagante, schrullige Platzverschwendung. Vor allem bin ich erstaunt, dass Sukhin sie auch noch penibelst sauberhält.

Für mich entwickelt sich dieser Roman zum Pageturner.