1. Leseabschnitt: Kapitel Eins bis Drei (Beginn bis Seite 50)

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Das Interessante an diesem Buch ist für mich die Deplaziertheit.
Sprachlich und stimmungsmäßig schreiten wir in elegantem Anzug durch luxuriöse Räume. Inhaltlich aber schwimmen wir im eleganten Anzug mitten im Pazifischen Ozean. Das ist so verrückt, dass es mich gefangen hält.
Das klafft so meilenweit auseinander, wird aber im Buch kompromisslos zusammengehalten. Denn das Konzept ist:
"Nach Lage der Dinge war Standish selbst noch in diesem Moment durch seine Erziehung zum Gentlemen verdammt."
 

Lesehorizont

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29. März 2022
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Mainz
Ein verheißungsvoller Autakt. Das Buch hat mich gleich gepackt!
Die Grundkonstellation allein finde ich sehr interessant: ein wohlsituierter Geschäftsmann, der in eine Krise gerät, sich eine Auszeit auf einer Schiffsreise gönnt, die ihm dann infolge eines kleinen Fehltritts zum Verhängnis wird.
Fast scheint es, er sei darauf bedacht, selbst in dieser ausweglosen Situation "eine gute Figur" zu machen. Erst als es zu spät ist, versucht er sich lautstark bemerkbar zu machen. Dennoch schafft er es aber, auf dem Rücken liegend den Sonnenaufgang zu genießen. Fast schon absurd!
Das ganze Geschehen schildert Lewis sehr atmosphärisch. Seine Schreib- und Erzhlweise ist etwas "reduktionistisch", das gefällt mir hier sehr und bringt Schwung in Erzähltempo. Dennoch bin ich gespannt, wie man ein ganzes Buch füllen kann, mit Gedanken und Emotionen in dieser aussichtslosen Situation. Das ist es aber, was mich an dem Roman so fasziniert.
Ich kann es kaum abwarten, mehr über die Gedanken des Gentlemans zu erfahren, der da im Meer treibt. Auch werden wir sicher noch mehr über seine vergangene Lebenssituation erfahren.
Ich lese also neugierig gleich weiter.
 

Eulenhaus

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13. Juni 2022
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Bin der gleichen Meinung wie Anjuta und Lesehorizont.
Auf dem Frachtschiff sind nur acht Passagiere, die er entgegen seiner sonstigen Gewohnheit interessiert beobachtet, und die ihn in den Zustand einer angenehmen Nachdenklichkeit versetzen. Auf einem Ölfleck rutscht er aus und stürzt durch die offene Brandtür ins Meer. Dieser hautnahe Meerblick war seine frühmorgendliche Lieblingsbeschäftigung. Er schämt sich, weil ein Mann wie er nicht einfach ins Wasser fällt.
Sein Gentleman-Verhalten lässt ihn zunächst den Ernst der Lage nicht erkennen und führt dazu, dass wertvolle Zeit verstreicht.
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Die Atmosphäre und die besondere Wirkung des Meeres auf den Gentleman ist sehr stimmungsvoll beschrieben. Wer schon mal am Meer war, wird selber wissen, dass es etwas Besonderes ist. Bemerkenswert finde ich dabei, dass es dem Gentleman so geht wie mir: die Worte fehlen, um diese Schönheit adäquat zu beschreiben (S. 18). Aber dafür haben wir ja unsere Literatur ;-) H. C. Lewis kann es.​

Der Autor hat einiges über Mr. Standish und seine Familie geschickt in die drei Kapitel eingewoben; wir erfahren eine Menge über ihn. - Heutzutage würde sicher niemand mehr im Geschäftsanzug auf einem Frachtschiff umhergehen; es war wahrscheinlich damals nicht ganz so ausgefallen wie es heute wäre, aber es ist wohl seiner Erziehung geschuldet. Ich finde es traurig für ihn, dass 'eine strenge Erziehung ihm alle Farben entzogen hatte' (42 u). Er führt zwar einerseits ein erfolgreiches Vorzeige-Leben, ist aber nicht wirklich zufrieden oder glücklich. Ich verstehe, dass er ausbrechen möchte, aber – ein Dilemma – kann man das, wenn man Familie und Kinder hat?! Hätte es keine andere Möglichkeit gegeben? Warum muss er alleine reisen und dann so lange?

Nun bin ich gespannt, wie er mit seinem Unglück umgeht, ob er überhaupt überlebt, was wir noch alles von ihm erfahren und vor allem: ob er neue Erkenntnisse über sein Leben gewinnt.​
 

Federfee

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13. Januar 2023
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Inhaltlich aber schwimmen wir im eleganten Anzug mitten im Pazifischen Ozean. Das ist so verrückt, dass es mich gefangen hält.
Da habe ich mich auch gefragt, wie es mit dem Anzug weiter geht, nicht nur mit ihm ;-)
selbst in dieser ausweglosen Situation "eine gute Figur" zu machen.
Kaum zu glauben, in so einer Extrem-Situation. Das hat der Autor vielleicht etwas überspitzt, um zu zeigen, wie seine strenge Erziehung gewirkt hat.
 

Eulenhaus

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Ich kenne selbst jemanden, der auf seinem Boot im Anzug, anfangs sogar mit Krawatte, unterwegs war.

Im Gegensatz zum rastlosen Leben des Autors beschreibt er Standish in einer so wohl geordneten, gesicherten Familien- und Arbeitssituation, dass es wahrscheinlich eine Wunschvorstellung seinerseits war.
 

Wandablue

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Brandenburg
Was lesen wir hier? Vom ersten Satz an frage ich mich, ob ich bereits mein erstes Lesejahrhighlight lese und das bei einem Klassiker. // Mir wird bei dem Thema ganz anders. Namenloses Entsetzen fasst mich. Ein Albtraum. DER Albtraum. // Sehen wir einem Mann beim Sterben zu? // Nur einmal wird das Wort genannt: Todesangst.
Diese Todesangst wird in den Gegensatz zur wunderschönen Natur gesetzt. Was ist ein einzelner kleiner Mensch angesichts der Gewalt der Natur, selbst wenn diese Natur gerade ganz friedlich ist, ist sie in dieser Friedlichkeit allein aufgrund ihres Soseins, des Ganzanderen, lebensbedrohend.

Ja, wir erfahren etwas vom Gentleman, nämlich, dass dieser Mensch sein wohlsituiertes Leben nicht zu schätzen noch zu spüren vermochte. Aber eigentlich ist mir das egal. // Allein. Im Meer. Mehr Entsetzen, mehr Entfremdung, mehr Aufgehen in der Natur geht nicht. Aber auch: Mehr Zurechtrücken der Dimensionen (Mensch klein, in all dem, was Mensch vermag dennoch unbedeutend; Natur groß und überwältigend, niemals beherrschbar; die Überheblichkeit und Großspurigkeit des Menschen ad absurdum geführt) geht nicht. Ganz großes Kino. Dazu noch die Sprache: ein Genuß auf allen Ebenen. Irgendwo ist auch etwas Spitzbübisches, das kriege ich noch nicht ganz zu fassen.
 

Renie

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Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Ich bin gerade hin und weg. Der Plot ist irre und verursacht bei mir doch ein gewisses Unbehagen bei dem Gedanken, was frau selbst in dieser Situation machen würde. Hoffentlich werde ich es nie herausfinden müssen.
Ich genieße diesen Roman sehr. Die lebhafte Sprache macht Spaß, ist unglaublich geistreich, der trockene Humor grenzt an Slapstick, genau wie die Darstellung der Charaktere. Mr. Standish ist schon eine tragische Gestalt. Ein Gentleman, dem das Gentleman-sein anerzogen wurde und der sämtliche Klischees erfüllt, die man damit in Verbindung bringt. Der Gute hat wohl seine Midlife Crisis zum Anlass genommen, um zu reisen. Keine schlechte Lösung, immerhin hat er es bis zu seinem Stunt genossen.
In den wenigen 50 Seiten dieses ersten LAs sind so viele Momente, die mich zum Lachen gebracht haben, dennoch bleibt das Unbehagen und das Mitgefühl für den tragischen Gentleman.
Die überschaubare Seitenanzahl dieses Romans macht mich ein bisschen traurig, vorausgesetzt, dass er das Anfangsniveau hält.
 

Renie

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Essen
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Dennoch bin ich gespannt, wie man ein ganzes Buch füllen kann, mit Gedanken und Emotionen in dieser aussichtslosen Situation.
Das frage ich mich auch. Nach diesem Anfang kann ich mir aber nicht vorstellen, dass der Roman philosophische Ausmaße annimmt. Ich tippe eher auf weitere Einblicke in Standishes bisheriges Leben. Vielleicht nimmt er dieses besondere "Erlebnis" als Anlass, ums einem Leben eine neue Wendung zu geben. Das ist aber reine Spekulation und ich bin offen für alles, was kommt.
 

Lesehorizont

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@Wandablue Gewaltig, gell?
Ich musste zwischendrin immer wieder an die Philosophie Blumenbergs denken. Das ist mein Lieblingsphilosph. Thema in seinem Werk: Die Überlegenheit dfer Welt gegenüber dem Menschen, der ihr in keinster Weise gewchsen ist. Diese absolute Verlorenheit, Winzigkeit und Bedeutungslosigkeit des Menschen kommt hier, wie ich finde, sehr gut rüber.
Ich bin ja schon durch, da ich mich nicht zügeln konnte, aber bei mir ist es definitiv mein erstes Jahreshighlight.
 

Renie

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19. Mai 2014
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Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Was ist ein einzelner kleiner Mensch angesichts der Gewalt der Natur, selbst wenn diese Natur gerade ganz friedlich ist, ist sie in dieser Friedlichkeit allein aufgrund ihres Soseins, des Ganzanderen, lebensbedrohend.
Dazu passt auch ganz hervorragend das Buchcover: diese fast spiegelglatte Wasseroberfläche, das Schiff von hinten, das in den Sonnenaufgang fährt, nichts sonst außer Weite, einerseits idyllisch, aber andererseits auch keine Aussicht auf Rettung. Ich habe gerade schon wieder ein mulmiges Gefühl im Bauch:think
 

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Ich genieße diesen Roman sehr. Die lebhafte Sprache macht Spaß, ist unglaublich geistreich, der trockene Humor grenzt an Slapstick, genau wie die Darstellung der Charaktere. Mr. Standish ist schon eine tragische Gestalt.
Ja genau. Aber ich finde, die Balance zwischen Tragik und Komik wird hier von Lewis sehr gut ausgependelt. Dennoch folgte ich dem Protagonisten auf eine Achterbahnfahrt dert Gefühle. Krass, krass.
Und ja: Man hofft, nie selbst dergleichen erleben zu müssen...
 

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Das frage ich mich auch. Nach diesem Anfang kann ich mir aber nicht vorstellen, dass der Roman philosophische Ausmaße annimmt. Ich tippe eher auf weitere Einblicke in Standishes bisheriges Leben. Vielleicht nimmt er dieses besondere "Erlebnis" als Anlass, ums einem Leben eine neue Wendung zu geben. Das ist aber reine Spekulation und ich bin offen für alles, was kommt.
Ich bin inzwischen durch und werde natürlich nicht spoilern. ;)
Mich hat jedoch die Frage sehr beschäftigt, ob er last minute noch gerettet wird?
 

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29. März 2022
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Mainz
Er erkennt ihn schon. Die Aussicht darauf, seine Haltung und Würde als Gentleman zu verlieren, ist für ihn aber schlimmer. :apenosee
Und genau dies gibt dem Ganzen eigentlich sehr ernsten Geschehen eine komische Note. Selbst in Angesicht des nahenden Untergangs ist ihm sein vermeintliches Ansehen wichtiger als sich die Blöße zu geben, lautstark nach Hilfe zu rufen.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Selbst in Angesicht des nahenden Untergangs ist ihm sein vermeintliches Ansehen wichtiger als sich die Blöße zu geben, lautstark nach Hilfe zu rufen.
Ei, die paar Sekunden, die man braucht, um sich zu sortieren. Das würde jedem so gehen. Eigentlich gibt es keinen anderen Ausweg als zu ertrinken. Grauenhafte Vorstellung. Bei Daniel Kübelbeck, den ich nicht aus meinem Kopf kriege, ging es hoffentlich schnell und war er schon tot als er auf dem Wasser aufprallte. Über Bord - das ist mein absoluter persönlicher Horror. Schiffsreisen meide ich.