1. Leseabschnitt: Kapitel 1 und 2 (Beginn bis Seite 104)

parden

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13. April 2014
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Nach dem ersten Abschnitt bin ich weder begeistert noch enttäuscht. Die ersten Kapitel waren für mich etwas zäh und mühsam. Es hat sich nicht alles gleich erschlossen. Aber nach dem etwas holprigen Start wurde es dann aber besser und ich bin noch in den Lesefluss gekommen.

Sprachlich bin ich auch diesmal angetan. Aber inhaltlich reißt mich der Roman noch nicht so richtig mit. Da fehlt noch etwas. Aber weil ich bisher nur positive Stimmen zum Buch wahrgenommen habe, bin ich optimistisch und lasse ich mich weiterhin gerne darauf ein.
Ja, so ergeht es mir auch. Es reißt bisher nicht mit, aber schlimm ist es auch nicht. Manche Stellen fand ich auch sehr - wie war das noch: verschwurbelt? - dargestellt, aber darüber habe ich dann einfach hinweg gelesen. Allerdings hoffend, dass es von den Stellen nicht allzu viele geben möge.

Was ich erschreckend fand, war die Tatsache, dass Roland als Kind es versucht, allen recht zu machen und sich nicht traut, Dinge anzusprechen - wie z.B. seine Kurzsichtigkeit. Hier leide ich mit ihm, denn auch ich musste als Kind die Augen zusammenkneifen, um vorne an der Tafel irgendetwas erkennen zu können, bis eine Lehrerin meine Eltern darauf ansprach. Verrückt, dass Eltern da nicht aufmerksamer sind.
 

Circlestones Books Blog

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Ich fand damals "Abbitte" großartig, aber dieser Roman konnte mich zu Beginn nicht so richtig fesseln. Nun, nach dem ersten Abschnitt fügen sich auch für mich schon einige Dinge. Was genau das mit der Klavierlehrerin war, wie weit und die lange dieser Missbrauch ging, ist mir noch nicht ganz klar, aber es hat Roland Baines eindeutig für den Rest seines Lebens geprägt, wie auch das Leben in diesem englischen Internat. Diese Passage über den herbst 1956 im Camp sagt für mich viel über Roland vor dem Internat aus. Er träumt von einem Leben in Freiheit, ohne Verpflichtungen, und nach dem Internat, mit Anfang zwanzig macht ihn das ruhelos und stärkt seine Ablehnung von regulärer Arbeit. Nun ist er achtundreißig Jahre alt, ein Lebenskünstler, Schriftsteller, der noch auf den Durchbruch wartet, er schreibt Gedichte. Dazu ein junger Vater und alleinerziehend. Dazu noch unter Verdacht, da ihn seine Frau verlassen hat. Nach einem nicht so guten Einsteig hat mich die Geschichte nun längst erreicht.
 

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Vielleicht muss er erst in seine Rolle hineinwachsen. Vergiss nicht, die Szene spielt in den 1980er Jahren. Da ging es erst los mit der neuen Vaterrolle.
Das denke ich auch, gerade wie es bisher ein seinen Gedanken beschrieben wird, mit einer teilweise anstrengenden Kindheit unter einem dominanten Vater, ist es für ihn nicht einfach, sich plötzlich als für seinen Sohn alleine zuständiger Vater zu finden. Obwohl erwachsen, hat er sich doch bisher selbst und seinen Platz im Leben noch nicht gefunden.
 

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Anscheinend hat sie ja bewusst mit Flasche gefüttert, um ihr Verschwinden vorzubereiten.
Für mich war klar, dass sie Roland und vor allem Lawrence geplant verlassen hat, mit eigenen Zielen, die sicher nichts mit einem anderen Mann zu tun haben (also ich bin mir da sicher, vielleicht sieht das der Autor in den weiteren Kapiteln anders). Dass Roland mit ihrem Verschwinden zu tun hat, schließe ich aus, ich denke eher, dass sie mit ihrer Rolle als Mutter und mit diesem so irgendwie vor sich hinlebenden Eheman nicht klarkam, sich eingeengt fühlte und in dieser Rolle in diesem Moment keine Zukunft sah. Vielleicht braucht sie nur Zeit und hat vor, wieder zurück zu kommen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau und Mutter diesen Schritt einfach so macht, da muss es schon sehr tiefe Gründe geben, besonders, da sie keine junge Mutter ist.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ein Thema dieses Romans sind „ die Erschütterungen ferner nationaler Ereignisse“, die in das Private hinein Auswirkungen haben.
Sehr gut entdeckt! Bis jetzt passt das hervorragend. McEwan webt aktuelle Ereignisse in seine erzählten Zeiten mit ein. Das gefällt mir und ist ein roter Faden.
indem der Erzähler sich als Spermium fühlt - da hatte ich doch meinen "Nutshell"-Moment (e
Jaaaaa! Da ist der Gaul mit dem Manne durchgegangen;)
Genial geschildert der Wechsel von zeitlicher Freiheit zum Pünktlichkeitsdiktat. Dann der subtile Missbrauch durch die Klavierlehrerin. Im Grunde ist nichts passiert, und dennoch...
Die Beschreibungen zum Verlauf der Zeit haben mir auch sehr gut gefallen. Das muss für den Jungen schon eine kolossale Umstellung gewesen sein. Die Freiheiten im Ausland eingetauscht gegen das Korsett der englisch-elitären Sitten. Roland kannte bis dato weder eine Krawatte, noch ein unbequemes Sakko, noch wie man sich zu verhalten hat... Und das alles muss er ohne den Rückhalt eines Elternhauses erlernen. Das schreit auch ohne perverse Klavierlehrerin nach einem Schock.
"Er vermisst sie und beginnt seine eigene Geschichte zu glauben". Das ist hier sicherlich der Fall. Ich wäre enttäuscht, wenn es sich als Irrtum herausstellt.
Gut beobachtet! Da habe ich wohl drüber gelesen. Aber was mich irritiert: Die Gute hat weder Kleidung noch Geld mitgenommen.... Das ist doch nun sehr seltsam. Außerdem bin ich bei Wanda: Nichts, was es nicht gibt, aber einen Säugling alleine beim Vater zu lassen? zumindest sehr außergewöhnlich.
Ich halte Roland nicht per se für unschuldig an dieser Stelle, finde die Konzeption des Romans (spannender (Kriminal-)Fall - Rückblicke) aber ziemlich spannend, zumal sie stilistisch gekonnt zu Papier gebracht wurden.
Ich halte es für ganz und gar unwahrscheinlich, dass seine Frau das Baby alleine gelassen hat.
Stimmt. Die Frau war zwar nicht die ordentlichste, aber ein Kind zu verlassen und anschließend keinen Kontakt zu haben, ist komisch.

Ich werde bislang nicht vom Hocker gerissen, lese aber mit Interesse weiter.
 

Barbara62

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19. März 2020
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Stimmt. Die Frau war zwar nicht die ordentlichste, aber ein Kind zu verlassen und anschließend keinen Kontakt zu haben, ist komisch.
Wie gesagt, sie hat ihren Abgang vorbereitet, indem sie nicht gestillt hat. Sie hat sich also von Anfang an einen Notausgang vorbehalten.
 

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Er ist ein Sprachvirtuose. Da sitzt einfach jedes Wort.
So empfinde ich das auch! Das "Verschwurbelte" erscheint mir nie wahllos oder überfrachtet, für mich ergibt sich da immer ein sehr dichtes atmosphärisches Bild. Aber ich sehe schon, beim Thema Schreibstil sind wir (also alle Mitlesenden) uns nicht einig.
Sein Meisterwerk ist - meiner Meinung nach - "Abbitte" von 2001.
Das will ich schon ewig lesen, ich muss es endlich mal anpacken.
Roland als Kind war für mich in seinen Handlungen gut nachvollziehbar. Mit seinem Verhalten als Erwachsener tue ich mich etwas schwerer.
Ich habe den Eindruck, wir sehen in seinem erwachsenen Ich eine Prägung seines Lebens im Internat und vor allem seinem Missbrauch durch die Klavierlehrerin. Da liegt ganz viel im Argen, glaube ich.
Grundsätzlich zählt er für mich aber nicht zu den Sprachvirtuosen, auch nicht unbedingt zu anspruchsvoller Literatur.
Aww. Wirklich nicht? Und ich bin bisher so begeistert von diesem Buch und von der Sprache...
Roland ist ein seltsames Kind. Er hinterfragt nichts und interpretiert vieles falsch. Aber noch seltsamer ist er als Erwachsener.
Ach, aber das ist doch normal, dass man als Kind vieles falsch interpretiert! Ich habe den Eindruck, er ist ein sehr sensibler Junge, der sich von Konflikten sehr bedroht fühlt, und durch die dominante Klavierlehrerin wurde das ja eher noch verstärkt.
Ausser dass ich ich Roland für den Mörder halte.
Was? Ich glaube gar nicht, dass überhaupt ein Mord passiert ist?
Sogar einen Vamp hat er gefunden, an dem er sexuelles Erwachen übt.
Sexuelles Erwachen? Neeee... Da nutzt eine erwachsene Frau die ganz normalen sexuellen Neigungen eines Kindes aus und pervertiert sie. Damit verhindert sie ein normales sexuelles Erwachen, finde ich.
Er versucht sich bildlich vorzustellen, was im Bewusstsein eines Babys vorgeht. Es hat noch keine Worte, um seine Sinneseindrücke auszudrücken. Ist das Gehirn ein leerer Raum, in dem feuerwerkartig Eindrücke aufleuchten oder ist das Gehirn wie ein Teich, in dem die Eindrücke in die Tiefe einsinken, nicht weg, sondern die Basis bilden für das spätere Leben. So in die Richtung habe ich diese Passage verstanden.
Ja, so habe ich das auch in etwa interpretiert.
Genau das ist die Kunst des Übersetzers ... und der Grund, warum ich nie Belletristik übersetzt habe.
Da stimme ich dir zu! Ich übersetzte seit ein paar Monaten ein Sachbuch (für einen Bekannten, dessen verstorbener Freund das Buch geschrieben hat), und das ist schon schwierig genug.
Ich habe Ian McEwan immer als Autor erlebt, der seine Sätze genau komponiert und sich jedes Wort gut überlegt.
Komponiert, das trifft es ganz gut, finde ich. Da ist nichts willkürlich.
Normalerweise tun sie es nicht, aber ich finde es gut, dass McEwan bewusst ein solches Beispiel ausgewählt hat. Nur weil wir es nicht verstehen, kann es trotzdem Frauen geben, die dazu in der Lage sind, v.a. mit einer Familiengeschichte wie Alissa.
Meine leibliche Mutter ist abgedampft, da war ich noch ein sehr kleines Baby. Gibt es. Insofern hat mich das nicht wirklich überrascht und es kam mir auch nicht unglaubwürdig vor.
Ist Roland ein zuverlässiger Erzähler?
Bisher würde ich sagen, ja, sogar ein sehr ehrlicher. Zwar sind seine Ansichten geprägt und verzerrt von seiner Zeit im Internat und mit der Lehrerin, aber ich glaube nicht, dass er was verschweigt.
Hier leide ich mit ihm, denn auch ich musste als Kind die Augen zusammenkneifen, um vorne an der Tafel irgendetwas erkennen zu können, bis eine Lehrerin meine Eltern darauf ansprach. Verrückt, dass Eltern da nicht aufmerksamer sind.
Haha, als ich 9 Jahre alt war, sagte ein Freund meiner Familie: "Das Kind sieht nichts!", dann wurde getestet und ich bekam meine erste Brille. Ich glaube, manchmal sind gerade die Menschen, mit denen man als Kind ständig zusammen ist, betriebsblind.
Was genau das mit der Klavierlehrerin war, wie weit und die lange dieser Missbrauch ging, ist mir noch nicht ganz klar, aber es hat Roland Baines eindeutig für den Rest seines Lebens geprägt, wie auch das Leben in diesem englischen Internat.
Oh ja, absolut. Ich habe den Eindruck, ihm selber ist nicht vollends klar, was ihm da tatsächlich geschehen ist. In dem Alter mag es einem Jungen ja erstmal vorkommen, als wäre es ein Glücksfall, wenn eine erwachsene Frau sexuelles Interesse zeigt, aber das ist es nicht …