Er ist ein Sprachvirtuose. Da sitzt einfach jedes Wort.
So empfinde ich das auch! Das "Verschwurbelte" erscheint mir nie wahllos oder überfrachtet, für mich ergibt sich da immer ein sehr dichtes atmosphärisches Bild. Aber ich sehe schon, beim Thema Schreibstil sind wir (also alle Mitlesenden) uns nicht einig.
Sein Meisterwerk ist - meiner Meinung nach - "Abbitte" von 2001.
Das will ich schon ewig lesen, ich muss es endlich mal anpacken.
Roland als Kind war für mich in seinen Handlungen gut nachvollziehbar. Mit seinem Verhalten als Erwachsener tue ich mich etwas schwerer.
Ich habe den Eindruck, wir sehen in seinem erwachsenen Ich eine Prägung seines Lebens im Internat und vor allem seinem Missbrauch durch die Klavierlehrerin. Da liegt ganz viel im Argen, glaube ich.
Grundsätzlich zählt er für mich aber nicht zu den Sprachvirtuosen, auch nicht unbedingt zu anspruchsvoller Literatur.
Aww. Wirklich nicht? Und ich bin bisher so begeistert von diesem Buch und von der Sprache...
Roland ist ein seltsames Kind. Er hinterfragt nichts und interpretiert vieles falsch. Aber noch seltsamer ist er als Erwachsener.
Ach, aber das ist doch normal, dass man als Kind vieles falsch interpretiert! Ich habe den Eindruck, er ist ein sehr sensibler Junge, der sich von Konflikten sehr bedroht fühlt, und durch die dominante Klavierlehrerin wurde das ja eher noch verstärkt.
Ausser dass ich ich Roland für den Mörder halte.
Was? Ich glaube gar nicht, dass überhaupt ein Mord passiert ist?
Sogar einen Vamp hat er gefunden, an dem er sexuelles Erwachen übt.
Sexuelles Erwachen? Neeee... Da nutzt eine erwachsene Frau die ganz normalen sexuellen Neigungen eines Kindes aus und pervertiert sie. Damit verhindert sie ein normales sexuelles Erwachen, finde ich.
Er versucht sich bildlich vorzustellen, was im Bewusstsein eines Babys vorgeht. Es hat noch keine Worte, um seine Sinneseindrücke auszudrücken. Ist das Gehirn ein leerer Raum, in dem feuerwerkartig Eindrücke aufleuchten oder ist das Gehirn wie ein Teich, in dem die Eindrücke in die Tiefe einsinken, nicht weg, sondern die Basis bilden für das spätere Leben. So in die Richtung habe ich diese Passage verstanden.
Ja, so habe ich das auch in etwa interpretiert.
Genau das ist die Kunst des Übersetzers ... und der Grund, warum ich nie Belletristik übersetzt habe.
Da stimme ich dir zu! Ich übersetzte seit ein paar Monaten ein Sachbuch (für einen Bekannten, dessen verstorbener Freund das Buch geschrieben hat), und das ist schon schwierig genug.
Ich habe Ian McEwan immer als Autor erlebt, der seine Sätze genau komponiert und sich jedes Wort gut überlegt.
Komponiert, das trifft es ganz gut, finde ich. Da ist nichts willkürlich.
Normalerweise tun sie es nicht, aber ich finde es gut, dass McEwan bewusst ein solches Beispiel ausgewählt hat. Nur weil wir es nicht verstehen, kann es trotzdem Frauen geben, die dazu in der Lage sind, v.a. mit einer Familiengeschichte wie Alissa.
Meine leibliche Mutter ist abgedampft, da war ich noch ein sehr kleines Baby. Gibt es. Insofern hat mich das nicht wirklich überrascht und es kam mir auch nicht unglaubwürdig vor.
Ist Roland ein zuverlässiger Erzähler?
Bisher würde ich sagen, ja, sogar ein sehr ehrlicher. Zwar sind seine Ansichten geprägt und verzerrt von seiner Zeit im Internat und mit der Lehrerin, aber ich glaube nicht, dass er was verschweigt.
Hier leide ich mit ihm, denn auch ich musste als Kind die Augen zusammenkneifen, um vorne an der Tafel irgendetwas erkennen zu können, bis eine Lehrerin meine Eltern darauf ansprach. Verrückt, dass Eltern da nicht aufmerksamer sind.
Haha, als ich 9 Jahre alt war, sagte ein Freund meiner Familie: "Das Kind sieht nichts!", dann wurde getestet und ich bekam meine erste Brille. Ich glaube, manchmal sind gerade die Menschen, mit denen man als Kind ständig zusammen ist, betriebsblind.
Was genau das mit der Klavierlehrerin war, wie weit und die lange dieser Missbrauch ging, ist mir noch nicht ganz klar, aber es hat Roland Baines eindeutig für den Rest seines Lebens geprägt, wie auch das Leben in diesem englischen Internat.
Oh ja, absolut. Ich habe den Eindruck, ihm selber ist nicht vollends klar, was ihm da tatsächlich geschehen ist. In dem Alter mag es einem Jungen ja erstmal vorkommen, als wäre es ein Glücksfall, wenn eine erwachsene Frau sexuelles Interesse zeigt, aber das ist es nicht …