1. Leseabschnitt: Kapitel 1 und 2 (Beginn bis Seite 104)

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
querleserin.blogspot.com
Gleich vorneweg: Ich liebe Ian McEwan und habe bis auf die ganz frühen Werke alles von ihm gelesen, bin also ganz klar voreingenommen ;)

In Lektionen erzählt er die Lebensgeschichte von Roland Baines verknüpft mit der realen politischen Geschichte, die Einfluss auf Baines nimmt, was dieser auch so realisiert. Zum ersten Mal während der Suezkrise, da ist er in Libyen, weil sein Vater dort als Offizier stationiert ist.
Es war das erste Mal, dass die Erschütterungen ferner internationaler Ereignisse bis in seine kleine Welt vordrangen.
Dann erneut beim Supergau in Tschernobyl.
Er hatte gedacht, es sein seine Liebe, die das Kind schützte. Aber ein öffentlicher Notstand ist ein indifferenter Gleichmacher. Kinder eingeschlossen. (...) Was in den Augen eins Politikers gut für die Massen sein mochte, war womöglich für keinen Einzelnen gut, insbesondere nicht für ihn. (52)
Kritik an der Corona-Politik oder generell an der Politik während eines Notstandes, an der mangelnden Kommunikation?

McEwan erzählt nicht linear, sondern springt zwischen den Zeiten, so dass folgendes Zitat sich fast als Bauprinzip des Romans liest.
In Latein und Französisch hatte er die Zeiten gelernt Sie waren schon immer da gewesen, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, nur war ihm nie aufgefallen, wie Sprache die Zeit einteilte. (22)
Der Roman startet mit den Erinnerung des 38-Jährigen Schriftstellers Baines im Jahr 1986, der gerade von seiner Frau verlassen wurde und nun mit einem sieben Monate alten Jungen allein dasteht, zudem von der Polizei verdächtigt wird, seine Frau umgebracht zu haben.
Er erinnert sich an Klavierstunden, in denen er als 11-Jähriger auf dem Internat sexuell belästigt wurde, was bei ihm aber vor allem sexuelle Fantasien auslöst, so dass die Klavierlehrerin dem 13-Jährigen als Objekt der Begierde bei der Masturbation dient. Und auch als Erwachsener erinnert er sich daran zurück - es hat ihn nachhaltig geprägt.
Wir erfahren von seiner Jugend in Libyen, vom Ausnahmezustand während der Suezkrise. In dieser Zeit war er in einem Camp evakuiert, in dem er trotz der Abschottung grenzenlose Freiheit erlebt hat.
...und sie prägte ihn in seiner Ruhelosigkeit, seinem unklaren Ehrgeiz mit Anfang zwanzig, bestärkte seine Aversion gegen jede Art regulärer Arbeit. (82)
Auch der Einfluss des autoritären Vaters sowie der depressiven (?) Mutter prägen ihn - Pflichtbewusstsein, Verantwortung, Erziehung zum Mann vs. Vertrauter der Mutter. In diesem Spannungsfeld wird er groß und versteht viele der Geheimnisse der "Familienwolke" (75) - warum waren seine älteren Geschwister, die einen anderen Vater haben, nicht mit ihm aufgewachsen? Warum war seine Mutter so traurig und er so seltsam als Kind?
Und doch erlebt Baines auch Momente, die ihn an das Gute im Menschen glauben lassen - die Versorgung der Verunglückten, die positiven Erfahrungen in der Schule.
Und es sind wunderbare Sätze drin
Das lange Loslassen mochte den Kern des Elternseins ausmachen, doch das war in diesem Moment kaum vorstellbar.
Ein etwas chaotischer erster Leseeindruck ;), aber bisher lese ich den Roman gern und freue mich auf weitere 600 Seiten ;)
 

otegami

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17. Dezember 2021
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Der Roman startet mit den Erinnerung des 38-Jährigen Schriftstellers Baines im Jahr 1986, der gerade von seiner Frau verlassen wurde und nun mit einem sieben Monate alten Jungen allein dasteht, zudem von der Polizei verdächtigt wird, seine Frau umgebracht zu haben.
So las ich das auch, obwohl auf dem Klappentext von einem vier Monate alten Baby die Rede ist! :think (Lesen die Verfasser der Klappentexte den Inhalt nicht? :monocle )
Der Roman gefällt mir sehr gut und auch die Sprache begeistert mich!
 

otegami

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17. Dezember 2021
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Auf S. 22: 'Dies waren Elemente der realen Welt, und um die zu lernen, hatte sein Vater ihn 3000 km weg von der Mutter fortgeschickt.'
Offensichtlich war das in diesen Kreisen der Engländer üblich, wenn sie im Ausland lebten, dass sie ihre Kinder nach England ins Internat oder/und zu Verwandten schickten, damit ihr Nachwuchs die englische Lebensweise lernt.
Wenn ich es recht in Erinnerung habe, war das auch in 'Ein untadeliger Mann' von Jane Gardam in seiner Kindheit / Jugend so, nur hatte der Protagonist seine ersten Jahre in Indien gelebt, Roland allerdings in Libyen.
Wenn ich mir vorstelle: mit 11 Jahren 3000 km entfernt von der Mutter!!!! :sad (Das mussten ja die Kinder alle erst mal verkraften!!!!!) All unsere Enkelkinder, auch der jüngste mit seinen 10 Jahren käme schon bald, bzw. wären dann jetzt schon so viele Kilometer entfernt im Internat! :oops: :sad
Ach nööööö, da bin ich heilfroh, dass das bei uns nicht 'nötig'/ üblich ist! ;)
 
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RuLeka

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30. Januar 2018
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Gleich vorneweg: Ich liebe Ian McEwan und habe bis auf die ganz frühen Werke alles von ihm gelesen, bin also ganz klar voreingenommen ;)
Ich bin ebenfalls voreingenommen, denn auch ich mag die Bücher von McEwan. Wobei meine Favoriten neben „ Abbitte“ und „Saturday“ die beiden schmalen Romane „ Kindeswohl“ und „ Am Strand“ sind.
Ich mag seinen Erzählstil und seine klare, präzise Sprache.
Deshalb bin ich mit hohen Erwartungen an den Text herangegangen und bisher nicht enttäuscht worden.

Die Vergangenheit wirkt in die Gegenwart hinein. Ein Mann Mitte Dreißig, zurückgelassen von seiner Frau, erinnert sich an seine Kindheit.
Hier gibt es viele Parallelen zum Autor selbst. Auch er ist der Sohn eines Majors und wuchs u.a. in Libyen auf. Die Familienverhältnisse waren nicht einfach. Der Vater ein widersprüchlicher Mensch, großzügig aber bestimmend und herrisch. Die Mutter eine eher zurückhaltende Frau, ängstlich und bedürftig. Aber wie die Frauen ihrer Generation akzeptiert sie klaglos die Entscheidungen ihres Mannes. Ihr fällt es schwer, den elfjährigen Sohn nach England in ein Internat zu stecken. Und dem sensiblen Jungen macht die Aussicht mit so vielen fremden „ Kerlen“ zusammen zu sein, Angst. Sehr anschaulich beschreibt McEwan die Gefühls- und Gedankenwelt des Jungen.

Ein Thema dieses Romans sind „ die Erschütterungen ferner nationaler Ereignisse“, die in das Private hinein Auswirkungen haben. Das erste historische Ereignis, die Suez- Krise verschafft dem 8jährigen Roland das erste und prägende Erlebnis von Freiheit. Die Kinder der englischen Soldaten kommen weg von zuhause in ein Camp. Ein Abenteuer für den Jungen.

Ein weiteres Ereignis ist der Reaktorunfall von Tschernobyl, der Roland, nunmehr alleinerziehender Vater eines Babys, zu beinahe absurden Maßnahmen greifen lässt.

Auf der Gegenwartsebene im Jahr 1986 versucht Roland mit der Flucht seiner Ehefrau fertigzuwerden. Er steht nun alleine da mit der Verantwortung für seinen kleinen Sohn. Seine Frau wollte wieder ihre Freiheit und Unabhängigkeit. Mann und Kind sind für sie ein Klotz am Bein. Kurzzeitig gerät Roland sogar in Verdacht, seine Frau umgebracht zu haben.

In dieser Situation dringt ein einschneidendes Erlebnis aus seiner Kindheit wieder nach oben ins Bewusstsein: die seltsame Beziehung zu seiner Klavierlehrerin. Der LA endet mit dem Entschluss des mittlerweile pubertierenden Jungen, dieser Frau nie mehr zu begegnen. Denn sie ist zu einer Obsession für ihn geworden. Aber wir ahnen/ wissen, dass es zu weiteren Begegnungen kommen wird.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Offensichtlich war das in diesen Kreisen der Engländer üblich, wenn sie im Ausland lebten, dass sie ihre Kinder nach England ins Internat oder/und zu Verwandten schickten, damit ihr Nachwuchs die englische Lebensweise lernt.
Es heißt, dort gibt es keine höheren Schulen für die Kinder. Heute finden das Familien, die berufsbedingt im Ausland leben. Es wäre damals sicher auch möglich gewesen. Aber die Kinder sollten im Mutterland ja englische Lebensart kennenlernen, wie Du schreibst.
Man hatte in dieser Zeit ein anderes Bild von Kindheit und Elternschaft. Wie es bei McEwan heißt, empfand man die Kinder eher störend für die Ehe. Auch der Alltag trennte in besser gestellten Familien den Bereich der Erwachsenen von denen der Kinder. Für uns / mich heute unvorstellbar.
In Jane Gardams Buch wurde gezeigt, welche Schäden das bei den Kindern angerichtet hat.
 

otegami

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17. Dezember 2021
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Gleich vorneweg: Ich liebe Ian McEwan und habe bis auf die ganz frühen Werke alles von ihm gelesen, bin also ganz klar voreingenommen
Ich habe 'Kindeswohl' von ihm gelesen und das hatte mich auch begeistert! ;)
Kritik an der Corona-Politik oder generell an der Politik während eines Notstandes, an der mangelnden Kommunikation?
Ich sehe die Kritik generell an der Politik während eines Notstandes an der mangelnden Kommunikation. Wir waren damals gerade im Schwarzwald und machten Urlaub auf einem Bauernhof mit unseren Kindern, als die Nachricht von radioaktiven Wolke aus Tschernobyl uns erreichte. Und es war schon interessant, w i e unterschiedlich die Länder reagierten: die einen pflügten die Ernte unter und bei manchen Ländern (20 km von uns entfernt!) war die Wolke an der Grenze stehengeblieben! :think
In diesem Spannungsfeld wird er groß und versteht viele der Geheimnisse der "Familienwolke" (75) - warum waren seine älteren Geschwister, die einen anderen Vater haben, nicht mit ihm aufgewachsen? Warum war seine Mutter so traurig und er so seltsam als Kind?
Das fand ich auch hochinteressant! Auch weil aus allem so ein Geheimnis gemacht wurde. Warum durfte niemand wissen, dass die Kinder von Rosalind, der Mutter, zwei verschiedene Väter hatten. Der Vater war doch im Krieg umgekommen. Sie war verheiratet gewesen, also bestand doch gar keine Notwendigkeit dafür!
Aber ich stelle diese Heimlichtuerei immer wieder in dieser 'Altersklasse' fest! :oops: Darüber wurde nicht gesprochen (auch zwischen Mutter und Tochter nicht) und über jenes auch nicht!
Aber wie die Frauen ihrer Generation akzeptiert sie klaglos die Entscheidungen ihres Mannes.
Ich schränke es mal ein wenig ein: wie die meisten Frauen! (Ich kenne / kannte auch andere! ;) )
Der LA endet mit dem Entschluss des mittlerweile pubertierenden Jungen, dieser Frau nie mehr zu begegnen. Denn sie ist zu einer Obsession für ihn geworden. Aber wir ahnen/ wissen, dass es zu weiteren Begegnungen kommen wird.
Ich vermute es auch ganz stark! Überhaupt fand ich die Schilderungen von dem Internat, bzw. des Tagesablaufs hoch interessant!
 
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otegami

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17. Dezember 2021
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Auch der Alltag trennte in besser gestellten Familien den Bereich der Erwachsenen von denen der Kinder. Für uns / mich heute unvorstellbar.
Das stimmt! Meine Mutter arbeitete in ihrer Jugend als Dienstmädchen in einer 'besser gestellten' Familie und die Kinder durften auch nicht mit am Familientisch essen, sondern nahmen ihre Mahlzeiten in der Küche mit dem Personal ein. (Sie genossen das allerdings: da ging es nämlich lustiger zu!)
 

Renie

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renies-lesetagebuch.blogspot.de
Ich liebe Ian McEwan und habe bis auf die ganz frühen Werke alles von ihm gelesen, bin also ganz klar voreingenommen
Ihr, die Ihr schon fast alles von McEwan gelesen habt: Könnt Ihr eine Entwicklung in der Schreibkunst von McEwan erkennen? Ich habe auch schon vieles von ihm gelesen, allerdings in kunterbunter Reihenfolge und weiß nur, dass ich mich jedes Mal pudelwohl mit seiner Erzählweise fühlte. Doch da mir die Chronologie fehlt, kann ich die Entwicklung nicht erkennen. Der Mann schreibt nun seit Mitte der 70er Jahre, also seit fast 40/50 Jahren. Seinen Romanen muss man doch seine Lebenserfahrung anmerken, sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Versteht das jetzt bitte nicht als Hausaufgabe. ;) Nur würde ich mich freuen, wenn Ihr zwischendurch in dieser Leserunde etwas dazu schreiben könntet. Es interessiert mich ganz einfach, wie Ihr das seht.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Ich mag Ian McEwan grundsätzlich und schätze ihn sehr, aber bei mir stockt es hier doch noch extrem. Da ich McEwan bisher nur im Original gelesen habe, kann ich allerdings nicht ausschließen, dass ich wegen der deutschen Übersetzung Berührungsprobleme habe. Ich vermisse tatsächlich seinen intelligenten und eleganten Stil, mit dem ich ihn sonst in Verbindung bringe.

Das erste Kapitel erschien mir recht wirr, fast konfus, besonders als der Traum auftaucht, indem der Erzähler sich als Spermium fühlt - da hatte ich doch meinen "Nutshell"-Moment (ein Roman, der mir übrigens sehr gut gefallen hat). Auf der emotionalen Ebene haben nur der unaufgeräumte Garten und die dreckigen, billigen edwardianischen Fliesen etwas bei mir ausgelöst, der Polizist hat mir auch gefallen - ansonsten fand ich das alles recht konstruiert und nicht besonders begeisternd.
Kurzzeitig gerät Roland sogar in Verdacht, seine Frau umgebracht zu haben.
Den Verdacht hatte ich tatsächlich auch. Bei mir wurden durch die Art der Darstellung doch ein paar Zweifel gesät, die sich erst mit der fünften Postkarte wieder auflösten.

Gelungener - aber immer noch nicht begeisternd - war das zweite Kapitel. Die Geschichte mit Libyen, der Umzug nach England und dann die Darstellung des Schulalltags haben mir besser gefallen. Sie stammen zwar direkt aus der Tradition der englischen Schul- und Internatsgeschichten, worauf mit dem Hinweis auf die "Jennings"-Reihe von Anthony Buckeridge auch angespielt wird, aber es ist immer wieder interessant zu lesen.

Als immer wieder Aldershot erwähnt wurde, gepaart mit der Tatsache, dass auch Roland wie McEwan 1948 geboren wurde und darüber hinaus McEwan ebenfalls in Libyen aufgewachsen ist, fragte ich mich zumindest kurzzeitig nach dem Grad der Autofiktion.

Ich hoffe, der Roman dreht jetzt etwas auf, ich mag mich gern überzeugen lassen - bis jetzt würde ich leider eher sagen "braucht man nicht unbedingt".
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ihr, die Ihr schon fast alles von McEwan gelesen habt: Könnt Ihr eine Entwicklung in der Schreibkunst von McEwan erkennen? Ich habe auch schon vieles von ihm gelesen, allerdings in kunterbunter Reihenfolge und weiß nur, dass ich mich jedes Mal pudelwohl mit seiner Erzählweise fühlte. Doch da mir die Chronologie fehlt, kann ich die Entwicklung nicht erkennen. Der Mann schreibt nun seit Mitte der 70er Jahre, also seit fast 40/50 Jahren. Seinen Romanen muss man doch seine Lebenserfahrung anmerken, sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Versteht das jetzt bitte nicht als Hausaufgabe. ;) Nur würde ich mich freuen, wenn Ihr zwischendurch in dieser Leserunde etwas dazu schreiben könntet. Es interessiert mich ganz einfach, wie Ihr das seht.
Chronologisch habe ich seine Romane nicht gelesen und fühle mich auch nicht kompetent genug, um Deine Frage zu beantworten.
Es gibt sehr gute und weniger gute Bücher von ihm, was bei einem so produktiven Autor nicht ungewöhnlich ist. Zu den schwächeren Romanen würde ich „ Honig“, und Solar“ ( wobei ich das Buch trotzdem gerne gelesen habe) zählen.
„Nussschale“ fand ich schlecht, ebenso „ Die Kakerlake“.
Thematisch ist McEwan breit aufgestellt und er beleuchtet das Innenleben seiner Figuren sehr genau.
 

alasca

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13. Juni 2022
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In diesem ersten LA werden wir zwischen den Zeiten ziemlich herumgeworfen. Seltsamerweise bin ich dennoch keineswegs desorientiert - bin ich so schlau oder ist McEwan so gut? ;) Die Antwort liegt auf der Hand.

Was die Knappheit der Schilderung angeht, erinnert mich der Roman stark an Gurnah. Auch die Art, die "großen" Ereignisse ins Kleine zu ziehen, oftmals auf eine Weise, die paradox anmutet (die Internierung im Camp, die prägende Freiheitsgefühle auslöst) finde ich bemerkenswert. Ich war von Anfang an gefesselt. Könnte gar nicht so genau sagen, warum. Natürlich bin ich ebenfalls positiv voreingenommen, Abbitte und Kindeswohl hat mich total gerockt, aber daran liegt es nicht, das trägt sich ziemlich schnell ab, wenn´s aktuell nicht funktioniert.

Was das erwachsene Leben von Roland betrifft, werden eine Menge Andeutungen eingestreut, die mich sehr neugierig machen (etwa, was die konkreten Konsequenzen von Rolands Freiheitssehnsucht sein werden). Auch seine Verzweiflung über das Verlassenwordensein und sein Sohn, der sich als Anker statt Belastung entpuppt, fand ich sehr überzeugend.

Was McEwan einfach meisterhaft beherrscht, ist die Darstellung innerer Zustände, die in seinen Händen große Klarheit gewinnen. Er behandelt Befindlichkeiten, für die so mancher gar keine Wahrnehmung hat, und bringt sie sensibel auf den Punkt. Ein, zwei Sätze, und ich denke mal wieder: wow.

Auch bezüglich des Internatlebens, eine britische Besonderheit, mit der sich wahrscheinlich Typen wie Boris Johnson noch am ehesten erklären lassen. Nach dem, was ich darüber weiß, kommt kaum jemand ohne ernstere Macke durch diese Zeit. Habt ihr mal "The Crown" gesehen? Die Beschreibung von Charles´ Martyrium in der ehemaligen Schule von Prinz Philipp, Gordonstoun, ist erschütternd. Ganze Generationen wurden traumatisiert.

S. 16 „Sie waren zu jung, um zu verstehen, wie elend ihnen war, und zum Reden war ihnen zu kalt.“ Ein typischer McEwan-Satz.

Aber wie McEwan das Internat beschreibt, konterkariert durchaus ein Stückweit meine Erwartungen. Rolands Befürchtungen bezüglich der "Jungs" lösen sich in Luft auf. Witzig der Lehrer, der mit den Jungs über Masturbation spricht, alle versteinern, und dann: "Genießt es." Genial geschildert der Wechsel von zeitlicher Freiheit zum Pünktlichkeitsdiktat. Dann der subtile Missbrauch durch die Klavierlehrerin. Im Grunde ist nichts passiert, und dennoch... Ich glaube gar nicht, dass sie nochmal auftaucht, muss sie auch nicht. Sie hat sich eingebrannt.

Dass McEwan für die Thematik ein tiefes Verständnis hat, beweist schon sein Roman "Am Strand". Einer seiner besten.

Mir gefällt es super bis jetzt. Ich freu mich auf´s Weiterlesen!
 
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RuLeka

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30. Januar 2018
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bin ich so schlau oder ist McEwan so gut?
Ohne Deine Intelligenz in Abrede zu stellen, ich glaube, McEwan ist so gut. Ich kann nämlich dem Ganzen auch sehr gut folgen.
Was McEwan einfach meisterhaft beherrscht, ist die Darstellung innerer Zustände, die in seinen Händen große Klarheit gewinnen. Er behandelt Befindlichkeiten, für die so mancher gar keine Wahrnehmung hat, und bringt sie sensibel auf den Punkt. Ein, zwei Sätze, und ich denke mal wieder: wow.
Genau! Er beschreibt Befindlichkeiten, die der Junge empfindet, aber nicht wirklich benennen kann. Trotzdem versteht man , was er meint.
Dann der subtile Missbrauch durch die Klavierlehrerin. Im Grunde ist nichts passiert, und dennoch... Ich glaube gar nicht, dass sie nochmal auftaucht, muss sie auch nicht. Sie hat sich eingebrannt.
Es ist schon was passiert, aber so beiläufig, dass der Junge nur ein Unbehagen spürt, aber keinen Missbrauch benennen könnte. ( Ich glaube, dass Missbrauch oftmals genauso beginnt.)
Ich bin mir aber sicher, dass die Geschichte zwischen den beiden eine Fortsetzung erlebt. So bestimmt, wie der LA mit dem Entschluss endet, muss es weitergehen. Roland wehrt sich noch, ist ihr aber schon verfallen.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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@Renie: Ich habe den Eindruck, dass er im Laufe der Jahre politischer geworden ist. Das sieht man deutlich an „Die Kakerlake“, eine der wenigen Romane, die mir nicht gefallen haben, während ich „Honig“ genial fand, da man ihn am Ende eigentlich wieder von vorne lesen müsste. Ich finde seinen klaren Stil sehr angenehm und dass er die Leser:innen immer wieder herausfordert. Hat Roland seine Frau umgebracht? Offensichtlich nicht? Warum wächst er nicht mit seinen Geschwistern auf? Welche Geheimnisse warten noch auf uns?
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Eine Erzählung über das Leben des Roland B., in der man sich wirklich wohlfühlen kann. Die zeitlichen Sprünge sind klar erkennbar und lassen den Leser nicht verwirrt zurück, sondern bauen sich langsam zu einem Gesamtbild zusammen. "Alles ist verbunden!" Das scheint mir sowieso eine Grundthese dieses Romans zu sein und schließt dabei Erfahrungen bis aus der Kindheit genauso ein wie wichtige geschichtliche Ereignisse, die hier Rolands Leben erheblich mitbestimmen.
Ich lese weiter, um mich weiter lesend wohlfühlen zu können. :)