1. Leseabschnitt: Kapitel 1 bis 9 (Beginn bis Seite 70)

Bücherfreundin

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6. November 2022
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Die Schwiegermütter fühlen sich um ihre Macht betrogen - dass ist eine Erklärung, die ich verstehe. Derartige Fälle hat es in allen Familien zu allen Zeiten gegeben, schätze ich. Und dass es inzwischen mehr selbstbewusste, westlich orientierte Inderinnen gibt, empfinde ich als Hoffnungsschimmer.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Mai würde streiken:
Wie sie gestrickt ist, würde sie niemals streiken. Sie ist in dieses System hineingeboren worden und sich ihrer Macht gar nicht bewusst. Es reicht ihr, ihre Kinder zu schützen meiner Meinung nach.
Was ich damit sagen will, man ist den ganzen Tag damit beschäftigt.
Die Köchin Mai ist den ganzen Tag damit beschäftigt. Was meinst du, was ich mir für Leckerein bestellen würde, wenn ich weder einkaufen noch kochen noch aufräumen müsste :p. Gegessen ist das schnell. Vielleicht essen sie nur kleine Mengen und bleiben schlank.
 

parden

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Der Roman bietet einen interessanten, teilweise allerdings schwer erträglichen Einblick in die Rollenverteilung einer indischen höhergestellten Familie. Wie das System funktioniert, wenn es in niedrigeren Kasten weniger Raum für die einzelnen Familienmitglieder gibt, mag ich mir gar nicht vorstellen - in dieser Familie hier haben zumindest alle die Gelegenheit, sich über weite Strecken aus dem Weg zu gehen. Das "Miteinander" ist geprägt von einer klaren misogynen Haltung, die alle als gegeben voraussetzen. Dass Mai als am meisten von der Misogynie Betroffene dieses Verhalten ihrer Tochter gegenüber zu unterbrechen versucht, ist ihr hoch anzurechnen. Ganz im Gegensatz zur Großmutter, die auch noch gewaltig nach unten tritt. Dass ihr Schicksal einst womöglich nicht besser war und sie nun tatenlos zusehen muss, wie sich ihr Mann in seinem Refugion eine Geliebte hält, macht die Sache nicht besser. Sie demonstriert eben auf ihre Art ihr bisschen Macht und eine vermeintliche Überlegenheit, die letztlich aber nur ihrem Alter geschuldet ist. Ihr übergriffiger Umgang mit den Jungen in der Familie ist auch unglaublich.


Irritiert hat mich, dass die Kinder Sunaina und Subodh ihre Mutter mit Mai ansprechen bzw. über sie als Mai sprechen. Ich kenne das von Indien eher so, dass die Verwandschaftsbezeichnungen verwendet werden - zumindest wenn jüngere über ältere sprechen. Die Anrede Mai für die Mutter finde ich merkwürdig.
Im Gegensatz zu einigen hier würde ich das so interpretieren, dass die Kinder und ihre Mutter eine Einheit bilden, in die andere trotz ihrer Vormachtstellung nicht eindringen können. Sie wohnen gemeinsam in einem Zimmer, schlafen in einem Bett, sind zusammen albern, wenn niemand sie mehr beobachtet usw. Vielleicht ist es auch so, dass die Mutter hier beim Vornamen genannt wird, damit diese nicht auf eine Rolle reduziert wird. Es geht hier doch darum herauszufinden, wer Mai hinter ihrem Parda eigentlich ist, so habe ich das zumindest verstanden. Zeitlebens hat sie ihre Persönlichkeit, ihre "Flamme" hinter diesem Vorhang versteckt. Allein wenn es darum ging, ihre Kinder zu schützen und ihnen zur Seite zu stehen, blitzte sie kurz auf - und wurde akzeptiert.

Zu den Bildern, die die Autorin aufruft gehören der "echte Parda" (oder war es der "richtige Parda"?). Nicht nur Mais Sari, der den Körper und den Kopf, teilweise auch das Gesicht verbergen soll, sondern auch der imaginäre, der jegliche Reaktion nach außen verbergen soll als Zeichen vollkommener Unterwürfigkeit.
Das Bild fand ich auch stark. Und richtig schön als es um Sunaina ging:

Alle waren ständig besorgt. Nur Mai schien es nicht zu kümmern, was ich tat und wo ich war. Alle waren darauf aus, mich hinter dem 'echten Parda' festzuhalten, nur Mai schob wie aus Versehen den Vorhang beiseite, bevor er gänzlich zugezogen werden konnte. (...) dann wurde die Glut, die hinter dem Parda glomm, gerade dadurch, dass das ständige Schwenken des Vorhangs ihm Luft zufächelte, voll entfacht und ließ ihn selbst in Flammen aufgehen. (S. 58)
 
Zuletzt bearbeitet:

Irisblatt

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Im Gegensatz zu einigen hier würde ich das so interpretieren, dass die Kinder und ihre Mutter eine Einheit bilden, in die andere trotz ihrer Vormachtstellung nicht eindringen können. Sie wohnen gemeinsam in einem Zimmer, schlafen in einem Bett, sind zusammen albern, wenn niemand sie mehr beobachtet usw. Vielleicht ist es auch so, dass die Mutter hier beim Vornamen genannt wird, damit diese nicht auf eine Rolle reduziert wird. Es geht hier doch darum herauszufinden, wer Mai hinter ihrem Parda eigentlich ist,
Stimmt, das könnte auch der Grund sein. Deinen Gedanken finde ich jetzt besonders spannend, weil sich nach meinem Erleben in Indien die Rollenerwartungen immer vor das Individuum schieben. Damit die Familiengefüge funktionieren, darf niemand aus der Reihe tanzen - es fällt auf alle zurück. So gesehen, ist das, was Geetanjali Shree mit ihrem Roman Mai macht, schon fast revolutionär, wenn sie den Blick auf die Mai hinter der Rolle, hinter dem Parda wirft. Ebenso wie das Streben der Kinder, ihre "echte" Mutter kennenzulernen.
 

Literaturhexle

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Vielleicht ist es auch so, dass die Mutter hier beim Vornamen genannt wird, damit diese nicht auf eine Rolle reduziert wird.
Ich habe mich oben bewusst aus der Debatte herausgehalten, weil ich keinerlei Respektlosigkeit oder Überheblichkeit Mai gegenüber von Seiten ihrer Kinder entdecken kann. Namen sind Schall und Rauch, an denen mache ich zunächst einmal nichts fest.
Insofern finde ich deine Interpretation sehr plausibel. Es würde mir gefallen, wenn sie zutrifft;)
 

Irisblatt

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Meint ihr denn, dass die Kinder wählen durften, wie sie Mai nennen? Das kann ich mir nur schwer vorstellen.
Letztendlich haben wir ja die Erinnerung der Ich-Erzählerin. Vielleicht hat sie ihre Mutter in der direkten Ansprache anders genannt und spricht jetzt nur so von ihr in der Erinnerung, eben weil es ihr um die Persönlichkeit der Mutter geht. Damit wäre auch meine Irritation verschwunden - es ist nämlich für mich schwer vorstellbar, dass die Kinder sie tatsächlich Mai gerufen haben.
 

parden

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Meint ihr denn, dass die Kinder wählen durften, wie sie Mai nennen? Das kann ich mir nur schwer vorstellen.
Ich glaube gar nicht, dass die Kinder ihre Mutter während ihrer Kindheit beim Vornamen genannt haben. Die Geschichte setzt sich aus Erinnerungen zusammen, erzählt wird von der erwachsenen Sunaina, die beschließt Mai in den Fokus zu stellen, nicht die Rolle, die sie ihren Kindern gegenüber innehatte.
 

Renie

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Bevor ich auf Eure Beiträge eingehe, möchte ich noch etwas zum umstrittenen "Mai" loswerden. Ich habe ein wenig recherchiert, weil mir die Erklärung, dass "Mai" ein Vorname ist, nicht richtig erscheint. Dieser Roman ist bereits 2010 in einem anderen Verlag im deutschsprachigen Raum erschienen: Draupadi Verlag, der vorwiegend indische Literatur veröffentlicht. In der Buchbeschreibung von Draupadi wird mehrfach darauf hingewiesen, dass "Mai" in Hindi die Bedeutung "Mutter" hat. Da indische Literatur die Kernkompetenz des Verlages war und ist, gehe ich nicht davon aus, dass es sich hierbei um eine Falsch-Information handelt. Darüberhinaus gibt es ein Interview bei TraLaLit (Magazin für übersetzte Literatur) mit Reinhold Schein, dem Übersetzer dieses Romans, Thema: Große kleine Sprache Hindi. In diesem Interview geht Herr Schein, zusammen mit einem anderen Hindi-Übersetzer, auf die sprachlichen Besonderheiten von Hindi ein sowie auf indische Literatur. In dem Zusammenhang nennt Herr Schein ebenfalls diesen Roman (Mai = Mutter).
Ich packe den Link zu dem sehr interessanten Interview in die "Vorstellungsrunde".

Insofern sollten wir uns von der Idee mit dem Vornamen lösen. Die Kinder verwenden den Begriff "Mutter", wie sie Großmutter, Papa und Großvater verwenden.
 

Renie

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Wie unterschiedlich die Frauen miteinander umgehen und welche Einstellungen sie zueinander haben wird auf Seite 42 deutlich.
Solidarität unter Frauen - hin oder her! Diese Aussage war sehr großmütig von Mai. Immerhin wird sie von ihrer Schwie-Mu in jeder Lebenslage getriezt und als seelischer Prügelknabe genutzt. Manch andere würde jede Gelegenheit nutzen, sich für die Quälereien zu rächen.
 

Renie

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rächen.
Beachtlich, dass die Kinder eine gute Ausbildung bekommen.
Beachtlich ist wohl eher, dass Suni eine gute Ausbildung erhält. Bei dem Bruder ist es wohl eher eine Selbstverständlichkeit.
Die beste Szene für mich war, als das Fastenfest nur für Mädchen war und die Großmutter es nicht durchsetzen konnte, dass der Junge, ihr Goldenkel, auch daran teilnehmen darf.
Ja, diese Szene hatte etwas. Noch besser war für mich aber, dass Mai sich durchgesetzt hat, ihre Tochter an diesem anderen Fest (oder war es dasselbe?irgendwas mit 9 Tagen, am Ende des Leseabschnitts) teilhaben zu lassen, trotzdem sie aufgrund ihres Alters (hatte sie schon ihre Tage?) eigentlich nicht mehr mitmachen durfte. Der Punkt ging klar an Mai :party.
 

Irisblatt

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Insofern sollten wir uns von der Idee mit dem Vornamen lösen. Die Kinder verwenden den Begriff "Mutter", wie sie Großmutter, Papa und Großvater verwenden.
Vielen Dank - das macht es klar. Ich kannte bisher nur andere Wörter für Mutter. Dann spricht sich Mai auch nicht, wie der Monat - sonder Ma-i
Leserunden sind einfach unersetzlich.
 

Renie

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Mai
Manche Gedanken wiederholen sich (zu) oft: die Sorge der Kinder um Mai und der Hinweis auf eine bessere Zukunft. Das hatte ich dann irgendwann begriffen. Ich bin empfindlich, wenn Autorinnen oder Autoren mich für begriffsstutzig halten.
Für mich ist dies ein Roman über Frauen in Indien, am Beispiel von Mai, die eine typische Vertreterin ihrer Generation war. Gleichzeitig haben wir mit der neuen Generation einen Wechsel vom traditionellen zu einem modernen Rollenverständnis. Daher sind für mich die Sorge um die Mutter sowie die Zukunftsgedanken wichtige Elemente.
Es gefällt mir sehr, dass Subodh sich nicht verbiegen lässt. Sicher eher ungewöhnlich, dass er sich nicht zum Pascha entwickelt - bei der Verhätschelung.
Stimmt, zumal er ja auch ewig unter der Aufsicht von Oma stand und Mai nur als Amme herhalten durfte.
Dadurch sieht man auch, welchen großen Einfluss Mai auf ihre Kinder hatte. Lustig ist für mich die Auslegung dieses Einflusses durch den Rest der Sippe: ihr wird vorgeworfen, dass sie ihrer Erziehungsaufgabe nicht nachkommt und den Kindern alles durchgehen lässt. Ganz im Gegenteil: sie macht alles richtig, aber auf ihre eigene Art und mit den Möglichkeiten, die ihr zur Verfügung stehen.
 

Bücherfreundin

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Stimmt, das könnte auch der Grund sein. Deinen Gedanken finde ich jetzt besonders spannend, weil sich nach meinem Erleben in Indien die Rollenerwartungen immer vor das Individuum schieben. Damit die Familiengefüge funktionieren, darf niemand aus der Reihe tanzen - es fällt auf alle zurück. So gesehen, ist das, was Geetanjali Shree mit ihrem Roman Mai macht, schon fast revolutionär, wenn sie den Blick auf die Mai hinter der Rolle, hinter dem Parda wirft. Ebenso wie das Streben der Kinder, ihre "echte" Mutter kennenzulernen.
Sehr interessante Gedanken, finde ich auch….