1. Leseabschnitt: Kapitel 1 bis 7 (Seiten 5 bis 52)

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wie seid ihr ins Buch gestartet? Wie wirkt der Erzählstil auf euch? Was gibt es dazu zu sagen?
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Schifferli. Ein Name, den ich ehrlich gesagt nur aus Hexles Signatur kannte. Ich konnte nicht herausfinden, ob Dagmar etwas mit Peter zu tun hatte.

Ich freue mich ja immer, wenn Autor:innen beim Erzählstil etwas wagen. Ich habe so einen Roman noch nicht gelesen, frage mich aber, ob Angela Lehners "Vater unser" nicht ähnlich ist? Er liegt noch auf meinem SUB.

Ich habe das Gefühl, selbst direkt angesprochen zu werden und empfinde den Roman deshalb bislang als äußerst intensiv. Auch formal klasse mit diesen auch optischen Sprechpausen.

Als Jahr habe ich wegen der WM 1970 herausgefunden. Spannend ist, warum Katharina in dieser Einrichtung ist. Hat sie ihren Vater umgebracht?

Mehr folgt später, denn ich muss gleich aus dem Bus aussteigen ;).
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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So, ich wollte noch ergänzen, dass ich auch von der Sprache selbst angetan bin. Ich mag, wie sich Katharina Gedanken über Wörter und Wortbildungen macht. Und wie diese eingesetzt werden. Auch schön ist, dass sie immer wieder typische Schweizer Begriffe einstreut. Dabei schwante mir zunächst Böses, als schon auf der ersten Seite dass und das verwechselt wurden. Zum Glück ein Ausrutscher.

Klug konstruiert ist, dass man nach und nach mehr über die Figur und die Gründe ihres dortigen Aufenthalts erfährt. Und ganz nebenbei streut Dagmar Schifferli immer wieder historische Tatsachen ein.

Insgesamt bin ich sehr angetan und freue mich auf die zweite Hälfte. Etwas schade, dass der Roman so kurz ist, aber vielleicht hätte er ansonsten auch nicht dieselbe Intensität.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Das erste Kapitel hat mich völlig begeistert. Ich habe mir insgeheim schon die Hände gerieben und mich einfach so gefreut: eine in höchstem Maße unzuverlässige Erzählerin, dir ihr Gegenüber nicht zu Wort kommen lässt. Wunderbar!
Ich mag, wie sich Katharina Gedanken über Wörter und Wortbildungen macht. Und wie diese eingesetzt werden.
Und genau das hat mir besonders am Anfang auch sehr gut gefallen. Das war ein richtig guter Einstieg!

Leider muss ich zugeben, dass die nachfolgenden Kapitel für mich ein bisschen von dem anfänglichen Zauber verloren haben. Das liegt nicht nur daran, dass ich schon einige Texte dieser Art gelesen habe, zuletzt


aber auch daran, dass mich einige Sätze immer wieder aus der Illusion des direkten Sprechens herausgerissen haben. Damit meine ich Sätze, in denen sich Katharina nicht an ihr Gegenüber wendet, sondern an den Leser, um ihn mit Informationen zu füttern. Diese Bewusstheit Katharinas, dass es einen dem Text enthobenen Zuschauer gibt, gefällt mir einfach nicht. Beispiele dafür sind:
Ich setze mich wieder auf den gleichen Stuhl wie beim letzten Mal, beim ersten Mal. (S. 13)
Guten Morgen. Morgen ab jetzt, weil die Stunde vom Nachmittag auf den Morgen verschoben wurde. (S. 23)
Was liegt denn da auf dem Tisch? Wo sonst nur ein Wasserglas und die kleine Lampe steht? (S. 35)
Das sind alles Dinge, die dem Psychiater schon bekannt sind bzw. die er sieht. Da bin ich der Ansicht, dass man das eleganter hätte lösen können. Aber ich bin auch bei Illusionsaufrechterhaltung etwas empfindlich ;).

Ansonsten bin ich wie @Christian1977 aber der Meinung, dass es sich um einen sehr spannenden und auch den Sprechakt formal gut imitierenden Text handelt und unsere Erzählerin lädt uns auch schön zum Raten ein. Ich hätte mir bis hierher bereits ein bisschen mehr "Manipulation" des Psychiaters gewünscht, aber das kommt hoffentlich noch!
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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frage mich aber, ob Angela Lehners "Vater unser" nicht ähnlich ist?
Ist er. Hat mich direkt erinnert. Die Erzählerin in „Vater unser“ kommt mir aber manipulativer vor.


Und ganz nebenbei streut Dagmar Schifferli immer wieder historische Tatsachen ein.
Danke, dass du nachgeschaut hast. Es werden ja mehrere Hinweise gegeben, wie die Trennung der Beatles oder der Anschlag auf das Flugzeug:
- Swissair-Flug SR330 war ein Linienflug vom internationalen Flughafen Kloten in Zürich, Schweiz nach Tel Aviv, Israel. Am 21. Februar 1970 stürzte die eingesetzte Convair CV-990 ab, nachdem eine Bombe an Bord explodiert war. Alle 47 Menschen an Bord starben - verrät Wikipedia.
Katharina ist unter schwierigen Bedingungen aufgewachsen. Ihre Mutter hat MS und stirbt, da ist Katharina 12 Jahre alt. Die Mitschuld gibt sie ihrem Vater, der den Rollstuhl angeblich nicht arretiert hat. Dieser hatte ein Verhältnis mit der „Pflegetante“ aus Deutschland. Zudem hat er Katharina beschimpft und auch verprügelt. Sie in ein Nonneninternat abgeschoben, aus dem sie zu ihrer Patentante geflohen ist. Aber dort ist sie nicht willkommen.
Die Kinder ihrer Patin meiden sie, warum?
 
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Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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,

stimmt, daran erinnert es auch. Der Satz mit dem Stuhl ist mir auch aufgefallen, ansonsten bleibt die Illusion gewahrt. Die Erzählerin lässt alles aus, was sie in ein schlechtes Licht rücken könnte, z.B. warum ihre Patentante sie nicht bei sich behalten will.
Ein völlig anderes Thema ist die Fremdenfeindlichkeit, die sie ihrer Tante unterstellt - gegenüber Juden und auch den Italienern. In diesem Punkt bezieht die Erzählerin wegen Lorenzo klare Stellung.
Zu dieser Thematik passt auch der Verweis auf Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ (Anfang Kapitel 4), in dem die nationalsozialistischen Vernichtung der Juden zum Ausdruck gebracht wird.

Was haltet ihr von dem Druckbild, weiße Flächen für Gesprächspausen?
 

wal.li

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1. Mai 2014
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Der Anfang hat mir besonders gefallen, weil er anders ist als üblich. Vielleicht setzt danach ein kleiner Gewöhnungseffekt ein.
Dennoch hat mich der Leseabschnitt in seinen Bann gezogen. Mehr und mehr beginne ich mich zu fragen, was da wirklich passiert ist. Wieso ist Katharina dort gelandet? Und warum lässt sich der Psychiater sich darauf ein, dass sie die Fäden in der Hand behält.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Ein interessanter Monolog, der direkt viele Fragen aufwirft. Ich muss gestehen, dass ich mir selbst manchmal nicht traue und vieles Google, obwohl ich mir mittlerweile sicher bin, dass wir es mit echten Fakten zu tun haben, denn das Gedicht gibt es, ebenso wie den Flugzeugabsturz in Würenlingen. Wobei ich noch im Dunkeln tappe sind eher die Gründe warum Katharina dort ist. Sie scheint ein paar Panikattacken gehabt zu haben, aber das allein wird wahrscheinlich nicht der Auslöser sein. Sie hat eine große Wut auf ihren Vater, und auf die Pflegetante, aber auch hier deutet noch nichts darauf hin, dass sie handgreiflich geworden ist.
Ich bin sehr gespannt was wir noch so erfahren werden
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Der Anfang hat mir besonders gefallen, weil er anders ist als üblich. Vielleicht setzt danach ein kleiner Gewöhnungseffekt ein.
Dennoch hat mich der Leseabschnitt in seinen Bann gezogen. Mehr und mehr beginne ich mich zu fragen, was da wirklich passiert ist. Wieso ist Katharina dort gelandet? Und warum lässt sich der Psychiater sich darauf ein, dass sie die Fäden in der Hand behält.
ich denke er will ihr Vertrauen gewinnen, sie nicht aufregen, um eine Gesprächsbasis zu erhalten, um ihr dann helfen zu können. Muss für ihn schwierig sein, denn normalerweise reden ja beide Parteien, aber er scheint es richtig zu machen, sie öffnet sich ihm. Ich frage mich nun, um was es ihr geht? Sucht sie Hilfe oder will sie einfach nur alles loswerden?
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Was haltet ihr von dem Druckbild, weiße Flächen für Gesprächspausen?
Das gefällt mir sehr gut. Es suggeriert das Zögern, wenn man über eine Antwort nachdenkt, sie im Geiste formuliert oder auch beim Sprechen selbst sich nicht sicher ist, wie der Satz fortgeführt werden soll.
Dazu ähnelt es vom Layout her der Lyrik, was auch wieder zu ihren häufigen Erwähnungen des Dichters passt.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Huch, da ist ja schon viel diskutiert worden bisher in diesem LA.
Ich gebe erst einmal meine Gedanken ein und komme dann zu euren Kommentaren.

Diese ersten 50 Seiten habe ich sehr langsam und bedacht gelesen. Ich hatte das Gefühl die Protagonistin könnte in jedem Satz eine Spur legen. Und so ist es ja dann auch. Immer mal wieder erfährt man etwas aus dem bisher Geschehenem bzw. so wie sie dies erinnert und ihrem jetzigen Leben.

Die fordernde Haltung zu Beginn gegenüber dem Therapeutin scheint eine massive Selbstbehauptung und Grenzziehung zu sein, der mit schwerer Traumatisierung einhergehen. In meinem Kopf spielt sich aber auch immer noch ein zweiter Film ab, in dem die Protagonistin dies alles nur "vorspielt", um dann doch tatsächlich eine Strafmilderung zu bekommen. Für welche Straftat auch immer. Wir werden es hoffentlich noch erfahren.

Ich habe mir viele Stellen in dieser gewagten Erzählstruktur gekennzeichnet und bin gespannt wie sich alles entwickeln wird. Bevor ich zu verschiedenen inhaltlichen Vermutungen und Fragen etwas sage, schau ich aber erst einmal bei euch durch, ob das ein oder andere nicht schon diskutiert wird oder wurde.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Tscha hm. Die Sprache ist schön. Und es herrscht eine gewisse Intensität.
Aber die Geschichte? Vllt ist die belanglos. Der Vater hat eine kranke Frau und hat ein Verhältnis mit deren Schwester. So what? Was ist so schlimm daran?
Wenn die Schwester aus Deutschland kommt, muss auch die Mutter aus Deutschland sein, oder?
Wir erfahren nicht viel. Das Kind Katharina fühlt sich ungeliebt, wird geschlagen und mit Essensentzug bestraft. Warum bloß? Gut, das ist spannend. Es ist ungewöhnlich, dass der Vater sein Kind nicht liebt, da er doch seine Schwägerin wohl liebt. Sort of.
Die Schwägerin hat 3 eigene Kinder. Die Mutter ist früh gestorben. Wahrschl hat der Vater das Elend nicht mehr aushalten wollen.
Hm, ich hatte ein sehr gutes Verhältnis zu allen meinen Tanten. Hmhm.
Das Buch ist kurz und muss mit allerhand belanglosen Banalitäten gefüllt werden. Gedichten. Romanen. Ist das Gedicht, das sie erwähnt von Paul Celan? Aber der hat sich nicht früh umgebracht.
Die Grundidee ist natürlich gut. Psychiater, der nichts sagen darf. Aber ob die Idee reicht, muss sich erst noch weisen. Bisher - nein.
 
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GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Das sind alles Dinge, die dem Psychiater schon bekannt sind bzw. die er sieht. Da bin ich der Ansicht, dass man das eleganter hätte lösen können.
Diese Stellen sind mir auch ein klein wenig aufgefallen (aufgestoßen würde ich nicht sagen). Sie haben mich auch aus dem Rhythmus geworfen.
Die Erzählerin lässt alles aus, was sie in ein schlechtes Licht rücken könnte, z.B. warum ihre Patentante sie nicht bei sich behalten will.
Diese leichte Manipulation der erzählten Geschichte finde ich auch sehr spannend.
Zu dieser Thematik passt auch der Verweis auf Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ (Anfang Kapitel 4), in dem die nationalsozialistischen Vernichtung der Juden zum Ausdruck gebracht wird.
Danke für den Hinweis. Genau das hätte ich in die Runde als Fragestellung geworfen.
Generell scheint sie ihr Augenmerk immer wieder auf Juden, jüdisches Leben usw. zu werfen. Wie die Sache mit dem Hebräisch. Da scheint mir mehr dahinter zu stecken.
Was haltet ihr von dem Druckbild, weiße Flächen für Gesprächspausen?
Ich finde die Idee sehr gut. Auch, dass sich die Länge der Sprechpausen anhand der freien Fläche ablesen lässt, ist gut gemacht.
Und warum lässt sich der Psychiater sich darauf ein, dass sie die Fäden in der Hand behält.
Böse Zungen würden behaupten: Wahrscheinlich ist das in den 1970ern ohnehin noch ein Psychoanalytiker, der sowie sie hätte die ganze Zeit quatschen lassen. ;)
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
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Brandenburg
Damit meine ich Sätze, in denen sich Katharina nicht an ihr Gegenüber wendet, sondern an den Leser, um ihn mit Informationen zu füttern.
exakt. Bei mir kam sogar Langeweile auf.
"Manipulation" des Psychiaters gewünscht,
Hä? Das sollte ein Psychiater tunlichst unterlassen, seine patienten zu manipulieren!!!
Aber er weckt ihr Interesse, indem er Katharina Material zur Verfügung stellt.

Paul Celans Gedicht „Todesfuge“
Daran hab ich auch gleich gedacht. Aber sagt sie nicht, der Dichter hätte sich früh umgebracht, oder hab ich "früh" nur assoziiert?

Was haltet ihr von dem Druckbild, weiße Flächen für Gesprächspausen?
Aufmachung ist gut.

Und warum lässt sich der Psychiater sich darauf ein, dass sie die Fäden in der Hand behält.
Um ihr Vertrauen zu gewinnen. Wenn es nicht anders geht. Der Psycho lässt sich immer auf den Patienten ein, geht auch gar nicht anders.
 

Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
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Ich glaube (noch) nicht, dass sie unzuverlässig ist. Sie sagt nämlich nichts.
Ich habe sie auch als unzuverlässig empfunden. Bei der Geschichte mit dem Flugzeugabsturz erwähnt sie zum Beispiel zuerst gar nicht, dass der Onkel von der Patin (?) ums Leben kam. Und danach tut sie so, als müsste das dem Therapeuten bekannt sein.