1. Leseabschnitt: Kapitel 1 bis 7 (Anfang bis S. 50)

Querleserin

Bekanntes Mitglied
30. Dezember 2015
4.048
11.071
49
50
Wadern
querleserin.blogspot.com
Da ich ein Fan von nicht chronologischem Erzählen bin, gefällt mir der Anfang sehr ;)
Der Einstieg über den misslungenen Vortrag im Jahr 1898 vor der Royal Geographical Society ist eindringlich und mit Humor geschildert - wie die zwei unterschiedlich großen Kisten zeigen.
Die Tatsache, dass Louis die Menschen vor sich als "hügelige Ebene aus Hüten" wahrnimmt und sich damit in eine Art Naturbetrachtung flüchtet, zeigt, wie unwohl er sich fühlt.
Dann springt die Handlung zu Louis - eigentlich Hans Roth Geburt, 1849. Schon die Hebamme meint, dass die Mutter unmöglich im 9.Monat sein könne, der Bauch sei zu klein. So kommt Hans klein, aber mit sehr großem Kopf auf die Welt - ein Opfer des Spotts seiner Mitmenschen. Unglaublich, dass die Mutter ihn als 13-jährigen einfach alleine lässt. Er flieht aus dem Dorf und dann wird erneut in einem Zeitsprung geschildert, wie sich Jahre später ein Journalist nach dem Jungen im Dorf erkundigt.
Ein weiterer Zeitsprung erzählt, wie ein australische Lady im Jahr 1961 das Dorf besucht, aus dem Hans stammt. Sie ist auf Spurensuche, da sie den Mann als kleines Mädchen kennen gelernt hat und er ihr immer noch in Träumen erscheint.
Sie findet das Buch - The Adventures of Louis de Montesanto - As Told by Himself - und hat eine Biographie in ihrer Handtasche, die ihn zu diskreditieren scheint: Short Man, Tall Tale.
Auch der Titel des Romans wird in diesem Kapitel "erklärt", auf einer Autogrammkarte ist Louis zu sehen,
"ein magerer Mann [....] bis zu den Hüften im Wasser, zwischen seinen Beinen der glänzende Panzer einer Schildkröte, und es sah aus, als wolle der Mann auf der Schildkröte reiten." (S.21)
Welchen Sinn ihre Notizen haben, werden wir vielleicht noch erfahren.
Im Folgenden werden chronologisch die Stationen Hans bzw. Louis bis zu seinem erzählt:
Pfarrer Sägesser
Drei Jahre Herumtreiben und Gelegenheitsjobs
Emma Campell, der er seinen Namen verdankt und mit der über Paris nach London kommt und die ihn dem Bankier
Monsieur Bischofberger empfiehlt - ein echter Unsympath, der ihn zu Sir William Stevenson schickt, der zum Gouverneur einer Kolonie in Australien berufen wird. So gelangt Louis auf den fernen Kontinent - als Butler, der Lügengeschichten erzählt.
"Abends erzählte er den Bediensteten, er sei ein französischer Edelmann italienischer Abstammung und nur hier, um Demut zu erlernen." (S.47)
Und zum ersten Mal erfahren wir etwas von seinen Gefühlen. Er wird von den Bediensteten gehasst, da er sie "bestimmt" genauso wie er von den Kindern seines Dorfes geärgert wurde, schließen sie ihn in seine Kajüte ein. Er fragt sich, warum er die Gesellschaft von Menschen nicht suche und ihm Bindungen ein Graus seien. Ob das mit dem Verhalten seiner Mutter zusammenhängt? Die ihn einfach allein gelassen hat und ihn vorher als Nichtsnutz bezeichnet hat?
 

Leseglück

Aktives Mitglied
7. Juni 2017
543
1.272
44
67
Eine tolle Zusammenfassung der ersten Kapitel @Querleserin

Ich finde den Titelhelden nicht unsympathisch, obwohl er ja auch ein richtiger Giftzwerg sein kann.
Als Leser erfährt man wie Louis das Reisen lieben gelernt hat. Als seine Mutter, die ihn nie geliebt hat, aufhört ihm Essen zu bringen, geht er einfach eines Nachts weg vom Bergbauernhof ins Tal und ist dabei glücklich: "Hans hatte nie zuvor in seinem Leben größere Freude empfunden"
Bei dem Pfarrer Sägesser lernt er das Buch Robinson Crusoe kennen und lieben. Danach ist er eine Weile mit Jenischen unterwegs, die ihm beibrachten, dass man nie mehr Dinge besitzen dürfe als man tragen könne. Louis "hatte keine Erklärung mehr dafür, warum der Mensch sich in vier Wände einsperren sollte." Jetzt wollte er nie aufhören von Ort zu Ort zu gehen.
(Übrigens musste ich erst mal nachschauen wer "Jenische" sind, habe ich noch nie gehört. Die Bevölkerungsgruppe gehört nicht zu den Sinti und Roma, sondern ist eher ein verarmter Teil der Bevölkerung im Süden von Deutschland, der nicht sesshaft ist ???)
Die Reisen mit Emma Campbell machen ihm großen Spaß und unter dem Triumpfbogen in Paris hat er eine Erleuchtung, er hört Stimmen, die nach ihm rufen. Diese Stimmen hört er auch wieder auf der Seereise nach Australien, als er von den anderen Dienern in die Kajüte eingesperrt wird. Die Stimmen fordern ihn zum Weiterreisen auf.

Louis empfindet einen Drang immer weiter zu ziehen und sich nie an einen anderen zu binden (Bindungen jeglicher Art waren ihm ein Graus). Verständlich, denn er war immer ein ungeliebter und sogar verachteter Außenseiter. Verständlich auch seine Art andere Menschen zu schickanieren und ständig zu nörgeln. Er fühlt sich unter anderen Außenseitern wohl, z.B. unter den Jenischen oder - davon gehe ich aus - später unter den Eingeborenen Australiens.

Am Ende des 7. Kapitels ist er schon am Rand der Gesellschaft - als Diener bei einem von der Gesellschaft gemiedenen Engländer, der am Ende der damaligen Welt, in Perth einen Gouverneursposten hat.
 

Bibliomarie

Bekanntes Mitglied
10. September 2015
2.092
3.205
49
Hans Roth wird in ein hartes Leben geworfen. Seit seiner Geburt ein ungeliebter Außenseiter. Das hat sicher seinen Lebensentwurf geprägt.
Die Mutter hat ihn einfach sich selbst überlassen, das Weggehen - seine erste Reise - war der einzige Ausweg.

Ich denke, dass die Begegnungen schon Stoff für eigene Geschichten geboten hätte.
Der Pfarrer, der sich an seine Indienerinnerungen klammert und sich wahrscheinlich nur mit seiner Cannabisernte über den Winter bringt. Was für eine Figur!

Auch Emma Campell ist so eine Figur, Südstaatenlady, die die Ungerechtigkeit gegen die Plantagensklaven veröffentlicht und dafür durch Scheidung und Verlust ihrer Töchter bestraft wird.

Von den Jenischen hatte ich noch nie gehört, vom Wortklang hat es mich an die Amish erinnert, Vielen Dank @Leseglück für die Aufklärung.

Ich bin gespannt, ob die alte Dame noch weiter auftritt, auch eine interessante Figur, die sicher viel über Louis erzählen könnte.
 

Bibliomarie

Bekanntes Mitglied
10. September 2015
2.092
3.205
49
Er fragt sich, warum er die Gesellschaft von Menschen nicht suche und ihm Bindungen ein Graus seien. Ob das mit dem Verhalten seiner Mutter zusammenhängt? Die ihn einfach allein gelassen hat und ihn vorher als Nichtsnutz bezeichnet hat?

Die kindliche Erfahrung hat sicher seine Charakter geprägt und auch das Verhalten der Menschen, die in ihm nur eine Missgeburt sahen. Ich denke, dass körperliche Andersartigkeit zur damaligen Zeit noch mehr zur Ausgrenzung führte.
 

wal.li

Bekanntes Mitglied
1. Mai 2014
2.728
2.678
49
Ich habe mal versucht herauszufinden, wer der Mann wohl war, dessen Geschichte wir hier lesen. Leider habe ich noch nichts gefunden. Da wäre ich echt neugierig.
In der damaligen Zeit hatte es ein Mensch mit ungewöhnlichem Aussehen sicher noch schwerer als heute. Hans' Mutter will kaum etwas von ihm wissen, weil er so klein ist. Und die Engländerin hält ihn zunächst für ein Tier. Doch Hans schlägt sich durch und erfindet sich immer wieder neu.
Man möchte Mitleid mit ihm haben und Verständnis zeigen, doch so wirklich sympathisch wirkt er nicht. Immerhin steht er immer wieder auf und interessiert sich für Reisen und fremde Kulturen. Ich glaube, er versucht das Beste aus allem zu machen.
Etwas schmunzeln musste ich am Anfang, wo er sich davon geschlichen hat, als er als Lügner bezeichnet wurde. Ob er wohl wirklich gelogen hat?
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.438
49.868
49
Hmm. Inhaltlich kann ich kaum noch etwas hinzufügen.
Die Geschichte entwickelt sich so ganz anders, als ich erwartet hatte: Cover und Titel hatten mich auf einen etwas ulkigen, leichteren Reisebericht eingestellt. Nun bekommt man es mit einem durchaus vielschichtigen Protagonisten zu tun, der rastlos und bindungsarm und eher zufällig von Station zu Station stolpert, geführt von dem Träum, die Welt zu entdecken.
Hans/Louis ist dabei einerseits als Kleinwüchsiger Hohn und Spott ausgesetźt, wird lieblos behandelt, wendet sich schon sehr früh vom Glauben ab. Er findet aber auch Menschen, die ihn fördern und weiterbringen. Sein Herz scheint aber kalt zu bleiben. Freude hat er daran, über andere zu bestimmen, ihnen z.B. die Mahlzeit zu kürzen, wenn der Toilettengang zu lange gedauert hat. Er schikaniert und wird schikaniert. Kein sympathischer Mensch.
Die Sätze sind kurz und klar, der Erzählstil sehr distanziert und kühl. Ich empfinde die kurzen, nicht chronologisch geordneten Kapitel fast wie eine Aufzählung von Begebenheiten. So richtig weiß ich noch nicht, wo die Reise hingeht, bin noch nicht im Plot angekommen, fühle mich noch fremd in der Geschichte. Das kann aber auch durchaus gewollt sein.
 

Querleserin

Bekanntes Mitglied
30. Dezember 2015
4.048
11.071
49
50
Wadern
querleserin.blogspot.com
Leider habe ich noch nichts gefunden. Da wäre ich echt neugierig.
Schau mal im Gespräch mit dem Autor nach, da erzählt er darüber, wie er an die Geschichte gekommen ist. In der Realität hieß der Protagonist anders, Louis de Rougement. Er ist das Vorbild für die Geschichte.

Die Sätze sind kurz und klar, der Erzählstil sehr distanziert und kühl. Ich empfinde die kurzen, nicht chronologisch geordneten Kapitel fast wie eine Aufzählung von Begebenheiten.

Die Erzählweise ist wirklich sehr distanziert. Bis auf wenige Gedanken Hans/Louis wird fast nur die Außensicht geschildert. Ich wünsche mir, dass wir mehr über den Protagonisten erfahren, über das, was er denkt...aber wir sind ja erst am Anfang.
 

wal.li

Bekanntes Mitglied
1. Mai 2014
2.728
2.678
49
Schau mal im Gespräch mit dem Autor nach, da erzählt er darüber, wie er an die Geschichte gekommen ist. In der Realität hieß der Protagonist anders, Louis de Rougement. Er ist das Vorbild für die Geschichte.

Danke für den Tipp, das werde ich machen. Heute morgen habe ich auch einen facebook Post des Verlages gefunden, in dem das Vorbild genannt wurde, da habe ich auch ein wenig nachgeforscht.
:)[/QUOTE]
 
  • Like
Reaktionen: Momo

Renie

Moderator
Teammitglied
19. Mai 2014
5.890
12.569
49
Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Übrigens musste ich erst mal nachschauen wer "Jenische" sind, habe ich noch nie gehört. Die Bevölkerungsgruppe gehört nicht zu den Sinti und Roma, sondern ist eher ein verarmter Teil der Bevölkerung im Süden von Deutschland, der nicht sesshaft ist ???)
Danke @Leseglück . Das wollte ich auch noch nachschlagen, brauche ich jetzt nicht mehr ;)
 
  • Like
Reaktionen: Querleserin

Renie

Moderator
Teammitglied
19. Mai 2014
5.890
12.569
49
Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Diese Old Lady Long scheint Louis gekannt zu haben, als sie noch ein Kind war. Mich hat die Situation in dem "Louis"-Museum berührt, als sie die Hand nach dem Bild ausstreckt und feststellt, wie groß dieses Bild doch ist. Das erinnert sie an früher, wo sie wahrscheinlich selbst als Kind die Nase des großen Erwachsenen berührt hat (dabei war er ja gar nicht so groß)
"Ihre Finger auf seiner Nase waren wie die Finger eines Kindes. Sie musste einst nach dieser Nase gegriffen haben, aber sie erinnerte sich nicht."
Ich frage mich, in welchem Verhältnis die beiden zueinander standen. Ob sie seine Tochter ist?
 

Momo

Aktives Mitglied
10. November 2014
995
1.264
44
Mir gefällt das Buch richtig gut. Ein wenig skurril, allerdings sehr distanziert kommen mir die Figuren vor, sehr kühl. Ich hatte anfangs so meine Schwierigkeit, mich in sie hineinzuversetzen.

Ich schaue erstmal, was ihr so geschrieben habt.
 
  • Like
Reaktionen: Leseglück und Renie

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.639
4.793
49
62
Essen
Ich komme spät in die Leserunde rein, deshalb von mir nichts zum Inhalt mehr. Was ich aber noch einwerfen wollte: Für mich ist das Besondere an dem Buch bis jetzt, die Art und Weise, wie die Kapitel unvorbereitet einsetzen und nebeneinander stehen, trotzdem aber eine gemeinsame Geschichte erzählen sollen. Jedes Einzelne schafft unabhängig von den anderen einen eigenen Kosmos aus den Lebensstationen von Louis oder Hans. Jedes ist wieder eine neue Überraschung! Wie ist er dahin gekommen? Wer sind die Personen, die vorkommen? Der Leser hat keine Ahnung und kann nur einfach den jeweiligen Kosmos des Kapitels aufsaugen und genießen. Letzteres geht bei mir gut. Aber wie fügt sich das zu einem Gesamtbild zusammen? Bisher kann ich mir das noch nicht ganz vorstellen.
 

Renie

Moderator
Teammitglied
19. Mai 2014
5.890
12.569
49
Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
: Für mich ist das Besondere an dem Buch bis jetzt, die Art und Weise, wie die Kapitel unvorbereitet einsetzen und nebeneinander stehen, trotzdem aber eine gemeinsame Geschichte erzählen sollen
Stimmt! Ich ertappe mich dabei, dass ich mich zu Beginn jedes Kapitels frage, an welchem Ort und in welcher Zeit wir uns mit diesem Kapitel befinden. Aber ich lasse mich jedesmal gerne überraschen.:)
 
  • Like
Reaktionen: Leseglück

Sassenach123

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2015
4.344
10.621
49
49
So, nach einem anstrengenden Osterwochenende konnte ich nun auch endlich in die Welt von Louis/ Hans eintauchen.
Da im Grunde alles wichtige schon geschrieben wurde, schildere ich euch hier eine Stelle die mich sehr berührt hat.
Und zwar ist es die Stelle im Park, als Hans erlebt wie eine Mutter sich um ihr gestürztes Kind kümmert. Hans tat mir so unendlich leid in dieser Situation.
Mir gefällt auch, dass wir als Leser erfahren wie Hans in den Besitz der Stücke gekommen ist, die im Museum ausgestellt sind. Zumindest gehe ich davon aus, dass auch die anderen Dinge eine Geschichte haben, ähnlich wie die Kiste mit den Initialen H.R.