1. Leseabschnitt: Kapitel 1 bis 6 (Seite 5 bis 69)

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Zwei bisher unverbundene Geschichten werden uns erzählt, die geografisch genau in entgegengesetzte Richtungen verlaufen. Sabina verschlägt es von Russland (Rostow) in die Schweiz, um dort eine bessere ärztliche Behandlung zu genießen. Fritz zieht es als glühenden Kommunisten aus der Schweiz in die junge Sowjetunion, in dieses revolutionäre Gesellschaftsprojekt, das in vielen Menschen so viel Hoffnung wecken konnte. Beide Geschichten lese ich gern und bieten einiges an Eindrücken und Stimmungen, wie das zu einem Roman zusammenwachsen kann, darauf bin ich noch gespannt.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Mir gefällt der Roman bisher sehr gut, auch wenn ich gespannt darauf warte, wie der Schnittpunkt der beiden Schicksale erreicht werden wird.
Inhaltlich finde ich beide Handlungsstränge sehr interessant, gerade auch weil sie von ihrer Ausrichtung und ihrem zeitlichen Kontext so unterschiedlich sind - die einzige Gemeinsamkeit ist ja bisher die geographische Verortung zwischen Zürich und Russland.

Die beiden Figuren eint die Eintönigkeit ihrer Tage, die Langweile und die Sehnsucht nach einem anderen Leben, getrennt werden sie charakterlich dadurch, dass Sabina jegliche Impulskontrolle fremd ist, während Fritz erst die Fassade des Anführers und später den Gleichmut des Häftlings nach außen trägt.

Sabina finde ich als Figur sehr irritierend, ihre psychische Verfassung lässt noch viel Raum für Entdeckung. Sie strebt danach ihr Umfeld zu kontrollieren und zu beherrschen, ist aber bei aller Berechnung doch fast unfähig sich selbst zu kontrollieren.

Zwei Ungereimtheiten sind mir aufgefallen, die ich gern hier ansprechen würde, da ich unschlüssig bin, ob Autor und Lektorat flüchtig gearbeitet haben oder ob sie völlig absichtlich im Text enthalten sind, um - da Sabina ja unsere Fokalisierungsinstanz ist - den Verwirrtheitszustand der Patientin zu verdeutlichen:

Sie bekommt von Johanna die Anstaltskleidung hingelegt, zieht diese an, trägt aber bei Jung im Gespräch ein rotes Kleid (das wird sogar zweimal erwähnt). Von Umziehen ist aber meines Erachtens nirgendwo die Rede.

Auf S. 31 steht Märzhimmel, auf S. 33 ist es Ende April - dabei ist essen immer noch ein und derselbe Tag.

Etwas einleuchtender, aber auch widersprüchlich, ist die Tatsache, dass auf S. 33 darauf verwiesen wird, dass die Anstalt "voller Geheimnisse" ist, auf S. 34 betont Sabina, dass es hier nichts ein Geheimnis bleibe.

Solche Passagen machen mich stutzig.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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trägt aber bei Jung im Gespräch ein rotes Kleid (das wird sogar zweimal erwähnt).
Da hast du was übersehen: Seite 16, Mitte: "Sie zog sich wieder um, schlüpfte in ihr rotes Sonntagskleid..."

Der andere Punkt mag tatsächlich eine Ungenauigkeit sein. Das wäre mir nicht aufgefallen.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Da hast du was übersehen: Seite 16, Mitte: "Sie zog sich wieder um, schlüpfte in ihr rotes Sonntagskleid..."
Ah, danke! Ich habe echt schon gezweifelt! Wahrscheinlich war ich zu Lippenstift-fixiert…Trotz mehrfachem Drüberlesen ist mir der Satz offensichtlich immer wieder entgangen - vielleicht fehlt er bei mir :rofl

Die Geheimnis-Passage finde ich auch noch eher einleuchtend, weil einmal wörtliche Rede verwendet wird.

Aber die Monate sind merkwürdig. Ich werde in den Sabina-Teilen darauf achten, ob es noch weitere Ungereimtheiten gibt. Ich hatte gerade auch einen Roman, in dem der Flieder im Oktober blüht…manchmal muss sich die Natur wohl dem Autorenwunsch beugen…
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wie gewohnt bin ich "Ins Unbekannte" gestartet, ohne mich näher mit den historischen Figuren zu beschäftigen.

Sabina wird uns als russische Tochter aus besseren Kreisen geschildert. In der Familie werden offenbar ihre Brüder vorgezogen. Das Mädchen soll sich gefälligst in seine Rolle fügen und auf eine gute Partie warten. Sabina ist aber kein Mädchen, das sich fügt...
Man heftet ihr psychische Probleme und Hysterien an. Der heimische Doktor kann ihr nicht helfen, deshalb kommt sie nach Zürich.
Zu dieser Interpretation werde ich als Leserin bewusst geleitet. Die personale Erzählsituation lässt uns in die Gedankenwelt von Sabina schauen. Ihre Ausraster und Disziplinlosigkeiten kommen mir ehrlich gesagt sehr berechnend und gewollt vor. Sie will auffallen, sie ist sich für kein Skandälchen zu schade, will sogar den verheirateten Dr. Jung becirzen, der sie nebenbei bemerkt für intelligent hält. Woher weiß er das? Bislang hat die 19-jährige doch fast nur geschwiegen.

Ich lese diesen Teil mit Interesse, fühle mich aber auch manipuliert.
Aus meiner Sicht ist Sabina eine eingebildete höhere Tochter, die meint aufgrund des Familiengeldes ordentlich auftrumpfen zu können. Sie spielt mit den Menschen. Andere müssen die von ihr verursachte Schweinerei aufräumen. Ihre Empathie mit Johanna, die froh sein kann, diesen schlecht bezahlten Job bekommen zu haben, hält sich in Grenzen (zum Nähen hat man Dienstboten...). Hoffentlich bereitet Sabina ihr keine Probleme (würde allerdings in den Charakter des Buches passen).

Sabina will provozieren, aus der Fassung bringen. Ihre Gedanken dazu erscheinen sehr klar und kalkuliert. Dennoch mag es sein, dass sie sich nicht in dem Maße im Griff hat, wie sie es uns glauben machen will. An mancher Stelle gibt sie unumwunden zu, dass sie den Ablauf nicht genau weiß. Dr. Jung will sie zu ihren Stärken führen. Na, da bin ich mal gespannt, wo die liegen;).
Ich mag Sabina nicht. Habt ihr´s gemerkt?

Szenenwechsel zu Fritz Platten. Noch so ein arroganter Typ! (Selten, dass mich ein Buch so polarisiert. Ob das gewollt ist?)
Fritz hatte es immer mehr mit Worten als mit Taten. Zu seinem Pech war das Gymnasium keine Option. So fällt es ihm schwer, sich im System als einfacher Mann anzupassen (bzw. ausbeuten zu lassen). Er wird zum Revoluzzer, erst in der Schweiz. Dann wandert er nach Russland aus, um dort ein Hofgut als Kommune zu führen. Dabei scheitert er an seinen mangelhaften landwirtschaftlichen Kenntnissen. Das wird sehr anschaulich und nachvollziehbar beschrieben: Am Ende flüchtet er regelmäßig nach Moskau, um an der Landwi-Schule die Grundsätze des Ackerbaus zu unterrichten. Wie paradox ist das?! Seinen jüngeren Sohn gibt er auf, den älteren nimmt er mit ebenso wie seine Eltern. Fritz muss gut im Reden und Überzeugen sein. Wenigstens hat er ein schlechtes Gewissen, als der Vater stirbt. Besuchen konnte er ihn wegen der schlechten Gerüche aber nicht... Zappalot!

Nun steckt er im Lager (interessanterweise handelt es sich nicht um ein NS-Lager, obwohl die Bedingungen ähnlich sind). Harte Arbeit, wenig Brot. Die Beschreibung wirkt höchst authentisch. Ich mag das Buch. Nur mit den beiden Protas hadere ich noch;)
Wie werden sich diese beiden Geschichten wohl verzahnen?
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Die Geheimnis-Passage finde ich auch noch eher einleuchtend, weil einmal wörtliche Rede verwendet wird.
Sabina ist eine höchst unzuverlässige Perspektive. Sie will uns Glauben machen, dass sie alles kalkuliert und im Griff hat. Dann wieder gibt sie zu, dass sie Ausraster hat. Sie wirkt auf mich tatsächlich sehr emotional und unreif: Heute empfindet sie so, morgen so. Das könnte auf die Geheimnisse auch zutreffen.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Sabina will provozieren, aus der Fassung bringen. Ihre Gedanken dazu erscheinen sehr klar und kalkuliert. Dennoch mag es sein, dass sie sich nicht in dem Maße im Griff hat, wie sie es uns glauben machen will.
Die Provokation ist ihr äußerst wichtig, es hat fast den Anschein, dass sie sich über das Schockierende definiert. Aber es gibt eindeutig diese Unwägbarkeiten, die Selbstüberschätzung (unter der auch Fritz leidet), den Glauben an die Möglichkeit das Geschehen zu diktieren und vor allem sich selbst im Griff zu haben. Das ist extrem widersprüchlich, zumal ihr die Kontrolle nicht gelingt. Ich mag Sabina auch nicht, ich empfinde die Manipulation uns gegenüber dadurch eingeschränkt, dass wir uns durch die Innensicht ein Bild ihres Charakters machen können. Da wird sehr deutlich, dass sie auf jeden Fall in ihrem psychischen Paket auch ein Vater-Thema hat.
Sie wirkt auf mich tatsächlich sehr emotional und unreif: Heute empfindet sie so, morgen so. Das könnte auf die Geheimnisse auch zutreffen.
So sehe ich es auch, sie ist sehr launenhaft. Daher kann ich mir gut vorstellen, dass diese Inkonsistenzen bewusst gesetzt werden - sogar beim März/April - um ihre Wahrnehmungseinschränkungen und ihre Sprunghaftigkeit zu illustrieren. Möglicherweise beabsichtigt sie aber mit der Aussage auch etwas.
 
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Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Sabina ist eine höchst unzuverlässige Perspektive. Sie will uns Glauben machen, dass sie alles kalkuliert und im Griff hat. Dann wieder gibt sie zu, dass sie Ausraster hat. Sie wirkt auf mich tatsächlich sehr emotional und unreif: Heute empfindet sie so, morgen so. Das könnte auf die Geheimnisse auch zutreffen.
Stimmt, nicht mal bei ihren Ausrastern scheint der Leser sich sicher sein zu können, ob sie nicht sogar von ihr selbst gespielt werden
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Die beiden Charaktere, die hier vorgestellt wurden, sind interessant, ich verfolge mit Spannung, was sie so erleben. Bei Sabina bin ich aber intensiver dabei als bei Fritz, warum kann ich gar nicht mal benennen.
Die Anstalt in der Schweiz erscheint mir für die damalige Zeit recht fortschrittlich. Sabina wird zwar gefesselt, aber nur bei extremen Ausrastern. Die Therapieansätze des Arztes wirken auch eher human, da kenne ich ganz andere Schilderungen.
Vieles, was Sabina denkt wirkt wirr, aber ihre Intelligenz blitzt durch, definitiv. Sie scheint sehr unter dem Verhalten des Vaters gelitten zu haben, was man auch gut nachvollziehen kann. Die Familie ist betucht, nur so ist der Aufenthalt in der Schweiz überhaupt möglich. Doch nun scheint sie auf sich gestellt, so zumindest lässt sich der Brief der Eltern deuten. Ich vermute allerdings, dass die Eltern weiterhin die Kosten abdecken werden, alles andere wäre ja utopisch. Eine Trennung von den Eltern für eine gewisse Zeit, ist allerdings sicher nicht das Schlechteste, sie hat viel aufzuarbeiten, da stünde ihr das bestimmt im Weg.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Eine Trennung von den Eltern für eine gewisse Zeit, ist allerdings sicher nicht das Schlechteste, sie hat viel aufzuarbeiten, da stünde ihr das bestimmt im Weg.
Wobei sie sich momentan ja ziemlich stur stellt und die Redezeit mit dem Arzt nicht im Entferntesten nutzt. Stattdessen malt sie sich aus, wie es wäre, ihn zu verführen. Sehr unreif, die Gute.
Aber klar: Sie ist 19 und hat unter der Ungerechtigkeit im Hause und unter ihrem Vater (näheres sollte noch kommen) sehr gelitten. Allerdings macht sie es ihren Lieben gewiss nicht leicht. Die Unterbringung in der Klinik zeigt ja, wie überfordert und hilflos die Familie mit der Tochter ist, die sich in keiner Weise anpassen will. Sabina ist ihrer Zeit zu weit voraus.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Ich habe sehr genau darauf geachtet, ob und inwieweit Sabina "verrückt" ist. Die Szenen, in denen sie die Kontrolle über sich selbst verliert, sind die absolute Ausnahme. Weit häufiger zeigt sie ganz normale Teenager-Reaktionen (lachen in unpassendem Moment, Rock über die Knie hochziehen etc), die wir heute wohl als selbstverständlich ansehen, die aber damals für eine höhere Tochter untragbar waren. Man denke, sie hatte schon ihrer Menses gehabt, ehe sie aufgeklärt wurde!
Das, was damals von den Seelenärzten (natürlich Männern) als typisch weibliche, hysterische Erkrankung angesehen wurde, war höchstwahrscheinlich in neunzehn von zwanzig Fällen ganz normale Rebellion.

Mir gefällt Sabina ganz gut. Sie beobachtet ihre Umgebung genau und benimmt sich herausfordernd - finde ich ganz normal.

Ich erinnere mich an einen Film über Sabina Spielrein ("Eine dunkle Begierde", 2011) mit großem Staraufgebot; die Spielrein wurde von Keira Knightley dargestellt. In diesem Film leidet Spielrein bei der ersten Begegnung mit C.G.Jung unter einem fürchterlichen Grimassenzwang und verzerrt pausenlos das Gesicht auf eine Weise, dass sie kaum richtig sprechen kann. Verglichen damit kommt mir die Figur in dem Buch geradezu harmlos vor.
 

Lesehorizont

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29. März 2022
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Mainz
Ich mag Sabina nicht. Habt ihr´s gemerkt?
Ja, das ist unschwer erkennbar. ;)
Sabina ist eine höchst unzuverlässige Perspektive. Sie will uns Glauben machen, dass sie alles kalkuliert und im Griff hat. Dann wieder gibt sie zu, dass sie Ausraster hat. Sie wirkt auf mich tatsächlich sehr emotional und unreif: Heute empfindet sie so, morgen so. Das könnte auf die Geheimnisse auch zutreffen.
Ich lese den Teil über Sabina als Bericht über eine psychisch Kranke und finde diesen an sich sehr interessant. Da ich sie als "krank" wahrnehme, tendiere ich über unangenehmere Eigenschaften hinwegzuschauen.
Da wird sehr deutlich, dass sie auf jeden Fall in ihrem psychischen Paket auch ein Vater-Thema hat
Das wird ja auch am Anfang explizit benannt und ich bin tatsächlich interessiert, mehr zu erfahren. Ich denke einfach, dass Kindheitserfahrungen sehr prägend sind und dort erlittene Tramata etc sich massiv und dauerhaft auf das Leben und die Persönlichkeit auswirken können.
Wobei sie sich momentan ja ziemlich stur stellt und die Redezeit mit dem Arzt nicht im Entferntesten nutzt. Stattdessen malt sie sich aus, wie es wäre, ihn zu verführen. Sehr unreif, die Gute.
Hier wird tatsächlich ein Klichee bedient, nämlich dass viele Patientinnen sich in ihre Therapeuten verlieben. Darauf scheint es ja zuzusteuern, oder?
 

Lesehorizont

Bekanntes Mitglied
29. März 2022
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Mir geht es bislang wie @Sassenach123: Mich interessiert Sabinas Geschichte bei weitem mehr als die von Fritz. Hier bin ich gespannt, wie der Zusammenhang von Kindheitserlebnissen und psychischer Erkrankung sich konkret weiter entwickeln wird. Wo Berechnung vielleicht ins Spiel kommt, ist die Liebäugelei mit dem jungen Arzt. Da wird abzuwarten sein, wie dieser auf Annäherungsversuche reagieren wird.
Bislang fesselt mich die Geschichte rund um Fritz noch nicht so. Ich finde aber die Grundsätzliche Konstruktion der Spiegelung und Kreuzung der beiden Geschichten sehr reizvoll. Ich bin neugierig, wie sich die beiden Schicksale konkret kreuzen werden und welche Konsequenzen es haben wird.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Für mich ist Sabina eine tragische Figur. Mit ihrem Temperament und ihrer vermutlichen Intelligenz, ist sie einfach in der flaschen Zeit und unter den falschen Leuten aufgewachsen.
Dass sie im Burghölzli gelandet ist, verdankt sie ihrer "reichen" Herkunft. Das ist sowohl tragisch und überflüssig, als auch eine vielleicht gute Wendung in ihrem Leben. Wäre sie eine einfache Arbeiterin gewesen, hätte sie schon früh ihre überschäumende Aufgewecktheit für überlebenswichtigere Dinge einsetzen müssen, sprich, sie hätte arbeiten müssen. Ihre Eltern und ihr heimischer Arzt waren mit ihr überfordert, also konsultiert man das fortgeschrittene "Ausland".
Ich feiere Doktor Jung, er macht alles richtig und lässt Sabinas Wellen sanft auslaufen. Den "Trick", dass er sich hinter sie gesetzt hat, zeugt von echtem Engagement und Hingabe (und nicht dem Abarbeiten eines Schulmedizinischen Katalogs).

Mit Kapitel 5 wurde ich dann etwas unsanft aus dem Klinikalltag herausgerissen und 36 Jahre nach vorn geschleudert. Ich weiß nicht, ob ich das hier sagen darf, aber erst da wurde mir klar, dass ich die Hälfte des Rückentextes ignoriert hatte. Erstaunt drehte ich das Buch, und siehe da, Fritz Platten wurde erwähnt.
Jetzt ist natürlich die spannende Frage, wie diese zwei Personen geschichtsmäßig zusammenkommen.
Außerdem bin ich schon wieder im russischen Arbeitslager gelandet, wo ich das Gefängnis doch gerade mit "Aufstieg in den Abgrund" verlassen hatte.
Ich weiß noch nicht, was ich mit Fritz anfangen soll, außer dass er fast genauso naiv war wie Carola Neher. War Russland damals vielleicht so ein Sehnsuchtsort, wie heute Amerika mit seinen unbegrenzenten Möglichkeiten?
Heftig, dass er seine Eltern mit in den Abgrund riss!
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich weiß noch nicht, was ich mit Fritz anfangen soll, außer dass er fast genauso naiv war wie Carola Neher. War Russland damals vielleicht so ein Sehnsuchtsort, wie heute Amerika mit seinen unbegrenzenten Möglichkeiten?
Heftig, dass er seine Eltern mit in den Abgrund riss!
Ich habe wenig Verständnis für Leute, die ein abstraktes "großes Ganzes" ausdrücklich über das Wohl ihrer Nächststehenden stellen nach dem Motto "das große Ziel fordert Opfer". Oft wird so ein Argument ja auch nur angeführt, um persönliche Verantwortungslosigkeit zu kaschieren, zb gegenüber Kindern, um die man sich nicht kümmern kann, weil man wichtigere Ziele hat, bla bla.
Es fällt mir ein bisschen schwer, mich so richtig für Fritz zu interessieren. Wenn es nur um ihn ginge, würde ich das Buch nicht lesen wollen. Stalinverehrung geht mir auf den Senkel.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Ich habe nochmal lange über Sabina und ihr Verhalten sowie ihr Verhältnis zur Kontrolle nachgedacht. Vielleicht verhält es sich so: sie strebt nach Kontrolle über andere, und um dies zu erreichen, gibt sie ihren Impulsen nach - schon hat sie Aufmerksamkeit und "kontrolliert" (im übertragenen Sinne) zumindest diesen kurzen Augenblick. Insofern ist ihr Verhalten völlig berechnend, auch wenn es wie "Verrücktheit" wirkt. Sabina hat über ihr eigenes Leben nämlich keine Kontrolle und wird diese auch nicht erreichen als Frau aus gutsituiertem Hause, sie besitzt keinen Handlungsspielraum, ihre Freiheiten (im Vergleich zu denen der Brüder) werden zunehmend beschnitten - in dieser Abwesenheit von persönlicher Kontrolle über das eigene Leben ist eine vage Parallele zu Fritz zu sehen, der im Gefangenenlager auch keine Kontrolle über sein eigenes Leben hat.

Dazu kommt, dass Frauen, die sich nicht an die Regeln hielten, als "verrückt" galten und im 19. Jahrhundert konsequent weggesperrt wurden (wir sind hier zwar schon im 20. Jahrhundert), aber es ist ja noch nicht allzu weit entfernt. Symptome für Wahnsinn waren unter anderem exzessives Lesen von Romanen oder auch Schlafwandeln. Allein ihre provokatives Verhalten, die Verwendung unflätiger Ausdrücke dürfte also für eine Einweisung schon fast reichen.

Sabina sieht die Möglichkeit zur Macht/Kontrolle ansonsten nur durch ihre Weiblichkeit begründet - daher das rote Kleid, der Lippenstift und die Idee der Verführung. Als Tochter aus gutem Hause ist ihr einziger "Karriereweg" eine Eheschließung - kein Wunder also, dass die Mutter ihr "Pride and Prejudice" mitgibt und nicht möchte, dass sie "Madame Bovary" liest.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Dazu kommt, dass Frauen, die sich nicht an die Regeln hielten, als "verrückt" galten und im 19. Jahrhundert konsequent weggesperrt wurden

Im Comedy Clash gestern Abend wurde es noch mal erwähnt, dass Hysterie als eine Frauenkrankheit galt. Wenn die Gebärmutter nicht regelmäßig mit Spermien gefüttert wurde, wanderte sie im Körper umher und landete schließlich im Kopf, um dort das Hirn zu fressen.:eek::rofl
Aber es war auch die Zeit der aufziehenden neuen psychiatrischen Behandlungen, dank Freud und seinem "Schüler" Jung.
 

Literaturhexle

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Teammitglied
2. April 2017
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Sabina hat über ihr eigenes Leben nämlich keine Kontrolle und wird diese auch nicht erreichen als Frau aus gutsituiertem Hause, sie besitzt keinen Handlungsspielraum, ihre Freiheiten (im Vergleich zu denen der Brüder) werden zunehmend beschnitten
Das scheint zumindest so im ersten Abschnitt. Dort klingt es nach traditionell weiblicher Unterdrückung. Deshalb war ich im zweiten LA überrascht, mit wie wenig Widerstand sich die Dinge für Sabina entwickeln.

Abwesenheit von persönlicher Kontrolle über das eigene Leben ist eine vage Parallele
Sehr vage;)
Er hat seine Freiheit zuvor ja reichlich ausgenutzt - auf Kosten anderer.
Dazu kommt, dass Frauen, die sich nicht an die Regeln hielten, als "verrückt" galten
Diese Gemengelage war wirklich unglaublich! In dem Zusammenhang interessiert mich das Buch
das es auch als Hörbuch gibt.

kein Wunder also, dass die Mutter ihr "Pride and Prejudice" mitgibt und nicht möchte, dass sie "Madame Bovary" liest.
Das ist kein Wunder. Aber der zweite LA zeigt, dass die Eltern doch willig sind, ihre Tochter andere Wege beschreiten zu lassen.