1. Leseabschnitt: Kapitel 1 bis 6 (Beginn bis Seite 61)

Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
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Ich eröffne dann mal die Runde und bin bislang total fasziniert von diesem Roman.

Die Entscheidung, auf viele verschiedene Erzählstimmen zu setzen, geht total auf. Zudem eine geniale Idee, wer die Erzähler sind. Ich habe mal ein Haus (kurzzeitig) als Erzähler in Andreas Schäfers "Das Gartenzimmer" erlebt oder das Moor in Gunther Geltingers "Moor", aber noch nie die Nacht oder ein Brot. Doch nicht nur durch die Erzählstimmen, die zudem auch noch unterschiedlich klingen, sondern auch durch das einnehmende "Wir" bietet "Wir sind das Licht" für mich etwas ganz Neues, das mich überrascht und begeistert.

Großartig zum Beispiel, als die Nacht das Erzähltempo beschleunigt und mal eben in einem Satz, der eine Seite dauert, alles herunterrattert. Lässig auch, wie verlockend das tägliche Brot tönt, um nicht nur Muriel zu überzeugen. Ich bin begeistert davon, wieviel Gerda Blees sprachlich wagt - und das in einem Debüt.

Auch inhaltlich sorgt der Roman bei mir für einen Sog. Wie sich das Rätsel um diese seltsame WG nach und nach zusammensetzt, ist äußerst spannend und klug konstruiert.

Ist es wirklich eine Art Sekte mit Melodie als Guru? Sind es esoterische Spinner, die mit der Gesellschaft nicht zurechtkommen? Oder steckt noch etwas anderes dahinter?

Die Stimme der Nachbarn ist auch ein Stück weit entlarvend, und ich frage mich, ob man wohl wirklich das Recht oder gar die Pflicht hätte einzugreifen, wenn jemand ganz offensichtlich sich bewusst zu Tode hungert? Auch hier übrigens ein total gelungener Kniff, eine spießige Reihenhaus-Nachbarschaft zu präsentieren, die sich weltoffen und liberal wähnt.

Kurzum, bisher ist der Roman für mich ein Hit, der immer wieder aufs Neue zu überraschen weiß.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Zunächst dachte ich, dass es bei den "unbelebten" Erzählstimmen bleibt, aber mit den Nachbarn kamen dann doch menschliche "Beobachtungen" dazu.
Das Haus fühlt sich in seiner Intimspähre verletzt, das Brot genießt sein Einweichen und Zerkauen und wirbt, wie @Christian1977 schon bemerkte, für seine Nützlichkeit. Die Fakten feiern ihre Verfechterin Liesbeth...
Ja, der Roman hat einen faszinierenden Sog. Die exotischen Sichtweisen befriedigen mich schon voll und ganz und eigentlich ist es "fast" egal, was da nun wirklich im Haus abgegangen ist, ich möchte wissen wen Frau Blees als nächstes auf die Bühne zerrt und im Wir-Modus reden lässt. Ihre Einfälle begeistern mich und trösten ein wenig über den düsteren Plot der Verhungerten hinweg.
 

Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
2.556
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Ihre Einfälle begeistern mich und trösten ein wenig über den düsteren Plot der Verhungerten hinweg.
Das habe ich auch so empfunden. Eine solche Geschichte könnte bei einer anderen Erzählweise auch in totaler Tristesse versinken.

Ich fühlte mich übrigens ein wenig an "Das Versprechen" erinnert. Natürlich nicht thematisch oder vom Sound, aber interessanterweise strahlen beide Romane vor allem wegen der ungewöhnlichen Art des Erzählens.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Ich bin begeistert davon, wieviel Gerda Blees sprachlich wagt - und das in einem Debüt.
Da kann ich dir nur zustimmen. Für ein Debüt ist das wirklich eine Wagnis, wie auch - bisher - eine Wucht!
Sind es esoterische Spinner
Das war bisher mein Eindruck. Aber das schienen mir bisher auch nur die Stimmen zu vermitteln. Ich habe die Vermutung, dass es genau der Kniff des Buches mit den vielen Stimmen sein könnte, dass eben am Ende alles anders ist, als es von außen schien.
Ihre Einfälle begeistern mich und trösten ein wenig über den düsteren Plot der Verhungerten hinweg.
Ich bin ebenso begeistert und lese dieses Buch wirklich sehr gern.

Vorweg: Ich habe das Buch gestern Abend vor dem Schlafen im Bett begonnen zu lesen. Nun möchte ich nicht auf "Wir sind die Nacht" abziehlen, sondern vielmehr auf das, was bei mir zuvor geschah und sich sofort auf den Eindruck des ersten Satzes auswirkte. Und zwar schauen mein Mann und ich seit mehr als zwei Jahren ganz gemächlich aus nostalgischen Gründen die Serie "Star Trek - Voyager" auf Netflix durch. Und gerade gestern Abend gab es eine "Borg"-Folge. Nun habe ich keine Ahnung, ob irgendwer in diesem Forum etwas damit anfangen kann, aber die Borg sind ein Kollektiv, was alles im Kollektiv denkt und spricht. Der erste Satz bei Kontakt mit den (sehr gefährlichen) Borg heißt dann immer in einer Wucht der vielen Stimmen: "We are the Borg." ... So, lange Rede. Also versteht ihr mein Erstaunen, als ich dann im Bett das neue Buch zur Hand nahm und der erste Satz sofort in einer multitonalen Stimme "Wir sind die Nacht." begann.

Aber zurück zum Inhalt. Wie oben schon geschrieben, finde ich ebenso wie ihr die gewählte Form von Gerda Blees toll, einfach weil ganz anders als die Norm. Sowohl wer spricht, als auch wie gesprochen wird. Allein bei der Rechtshelferin, die ja nun einmal eine einzelne Frau ist, hatte ich etwas Probleme mit der ersten Person Plural. Aber es passt, da ja auch die WG wohl nur in dieser ersten Person Plural von sich gesprochen hat.
Vom "Brot" wurde mir der Mund wässrig und ich musste einfach nach dem Kapitel eine Scheibe Brot essen.
Am eindrücklichsten (obwohl alle Variantionen eindrücklich sind), empfand ich bisher die "Fakten" mit der Hintergrundgeschichte zur Ermittlerin Liesbeth.

Gespannt lese ich heute Abend im Bett weiter... mal sehen, wer mich dann mit "Wir sind..." anspricht. ;)
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Ich habe die Vermutung, dass es genau der Kniff des Buches mit den vielen Stimmen sein könnte, dass eben am Ende alles anders ist, als es von außen schien.
Das habe ich auch schon gedacht. Mal sehen, ob wir mit der Vermutung richtig liegen werden.
Nun habe ich keine Ahnung, ob irgendwer in diesem Forum etwas damit anfangen kann, aber die Borg sind ein Kollektiv,
Also, ich kenne nur Björn und Andy Borg. Aber deine Überraschung kann ich in diesem Fall sehr gut verstehen. :)
 

wal.li

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1. Mai 2014
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Ich fühlte mich übrigens ein wenig an "Das Versprechen" erinnert. Natürlich nicht thematisch oder vom Sound, aber interessanterweise strahlen beide Romane vor allem wegen der ungewöhnlichen Art des Erzählens.
So ging es mir auch. Und hier und dort fand ich das durchaus sehr positiv. Manchmal sind gerade sehr hoch gelobte Bücher so verdreht geschrieben, dass das Lesen keinen Spaß mehr macht. Und hier liest man gerne und freut sich über diesen Ideenreichtum.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Nun habe ich keine Ahnung, ob irgendwer in diesem Forum etwas damit anfangen kann, aber die Borg sind ein Kollektiv, was alles im Kollektiv denkt und spricht.

Ich bin die Penny (nur nicht so hübsch) im SF-Universum, ich habe mich in einen Nerd unter Nerds verliebt und "muss" seitdem damit leben... haha.

Ich habe bisher allen Stimmen etwas abgewinnen können und ich bin restlos begeistert!

P.S. Mein Haus hat mir gestern Nacht noch etwas vom Sturm, dass an ihm nervend gerüttelt hat, erzählt. ;-)
 

Renie

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renies-lesetagebuch.blogspot.de
Ich bin hin und weg. Die unterschiedlichen Perspektiven sind der Hit und bringen mich immer wieder zum Staunen.
Ich kann zwar noch nicht genau einordnen, warum die Autorin diesen Erzählstil gewählt hat, schätze aber, dass ich in dieser Runde ein paar Denkansätze erhalten werde.
Mein erster Ansatz: Bei den Erzählern handelt es sich allesamt um anonyme Nicht-Individuen, um die (Selbst-)Isolation der Gruppe zu betonen sowie das Desinteresse der Menschen aus dem Umfeld. Es hat keinen gekümmert, was innerhalb der vier Wände von Melodie passiert ist, also kann man auch keinen fragen.
Weiter bin ich noch nicht gekommen, und ich hoffe, Ihr versteht, was ich meine, habe nämlich noch einen Knoten in meinen Gedanken.
 

Renie

Moderator
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19. Mai 2014
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renies-lesetagebuch.blogspot.de
Ist es wirklich eine Art Sekte mit Melodie als Guru? Sind es esoterische Spinner, die mit der Gesellschaft nicht zurechtkommen? Oder steckt noch etwas anderes dahinter?
Ich habe nicht damit gerechnet, dass wir in einer Sekte o. ä. landen werden. Durch den Plot und den ersten Sätzen des Klappentextes habe ich damit gerechnet, dass wir etwas über den Hintergrund des Geschehens erfahren, so dass der Leser am Ende ein Stück weit Verständnis für das aufbringt, was passiert ist - auch, wenn es schwer vorstellbar ist. Im Moment bin ich weit von Verständnis entfernt, sondern rege mich über das esoterische Geschwafel von Melodie auf.
Daher frage ich mich, was der Roman am Ende sein wird. Im Moment sieht es mir nach einer Warnung vor den geistig abgedrehten Manipulatoren dieser Welt aus. Aber sicher bin ich mir nicht, was diesen Roman unglaublich spannend macht, da ich nicht weiß, wo die Reise hingehen wird.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
sondern rege mich über das esoterische Geschwafel von Melodie auf.
Oh ja, das geht mir ganz genauso. Wie schon oben gesagt, ist meine Vermutung, dass es vielleicht ganz zum Schluss durch einen (vielleicht gar nicht so besonderen sondern „gängigen“) Perspektivwechsel in z.B. direkt die Gruppe hinein, Einblicke bekommen, die die Sache auflösen. Aber ja, ich stimme zu: Melodie ist bisher schecklich.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Großartig!!! Ich hatte nach dem Klappentext etwas anderes erwartet - sozialkritisch, morbid, harter Realismus und was habe ich bekommen: bisher ein absolutes Lesehighlight mit dem Markenzeichen innovative Erzählstimmen, auf das ich persönlich wirklich so viel Wert lege.

Doch nicht nur durch die Erzählstimmen, die zudem auch noch unterschiedlich klingen, sondern auch durch das einnehmende "Wir" bietet "Wir sind das Licht" für mich etwas ganz Neues, das mich überrascht und begeistert.
Es geht mir also genauso wie Christian1977.

Der Text ist richtig gut geschrieben, ich finde ihn äußerst spannend, aber ich muss gestehen, dass dies weniger der Geschichte um unsere vier (jetzt nur noch drei) merkwürdigen Gestalten geschuldet ist, sondern, weil ich so ungeduldig bin zu erfahren, wer das nächste Kapitel erzählt. Ich bin da ganz derselben Meinung wie
eigentlich ist es "fast" egal, was da nun wirklich im Haus abgegangen ist, ich möchte wissen wen Frau Blees als nächstes auf die Bühne zerrt und im Wir-Modus reden lässt.
Die Multiperspektivität wird in diesem Roman bisher perfekt genutzt und bekommt in Verbindung mit dem "Wir" ganz neue Dimensionen.

Die Idee mit dem "Wir sind..." ist begeisternd, unverbraucht und fast poetisch. Ich finde nicht nur die Stimmen richtig gut angepasst an die jeweiligen Erzähler, auch inhaltlich ist es richtig gut ausgewählt. Bisher hat mich "Die Nacht" tatsächlich am meisten fasziniert und der Umstand, dass auf einmal nicht nur Objekte, sondern auch Menschen als Erzähler auftauchen, war noch eine zusätzliche gelungene Überraschung und ein Bonus. Hier ist nichts normal oder vorhersehbar und das ist wunderbar.
Der erste Satz bei Kontakt mit den (sehr gefährlichen) Borg
Ich kenne die Borg nicht (also noch ein Banause hier ;-), aber den Kollektivgedanken hatte ich auch beim Lesen. Das "Wir", dieser seltsame pluralis majestatis, hat für mich einen ganz deutlichen, beabsichtigen Effekt. Die Erzähler werden dadurch vielleicht nicht "sehr gefährlich", aber in gewisser Weise mächtig - die Macht der Vielen. Für mich schwingt auch immer etwas leicht Bedrohliches in diesem "Wir" mit, das auf mich fast wie ein Summen aus vielen Stimmen wirkt. Das "Wir" hebelt für mich die Individualität aus, es suggeriert stattdessen ein deutliches Maß an Einigkeit, einen Anspruch auf die Gültigkeit der Aussage, irgendwie auch Unantastbarkeit und Erhabenheit.
In Verbindung mit der Multiperspektivität wird so eine gewisse beobachtende Distanz erreicht und vielleicht sogar eine Objektivität suggeriert, die eigentlich gar nicht da ist, aber von der Vielstimmigkeit unterstützt wird. Das wären so meine ersten Eindrücke dazu.
Auf jeden Fall sehe ich "Die Nacht" jetzt mit anderen Augen!
sondern rege mich über das esoterische Geschwafel von Melodie auf
Ich mich auch - aber die Namenswahl ist genial!

Das war jetzt mein Leserunden-Premieren-Beitrag - ich hoffe, ich habe es richtig gemacht: ich übe das noch mit dem Zitate einfügen:) falls ich lieber mit Einzelbeiträgen auf die Beiträge reagieren soll, sagt es mir bitte!
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Als ich mit dem lesen begann erinnerte mich die Erzählweise an die Bücherdiebin, dort führt der Tod durch die Handlung. Doch hier haben wir immer wechselnde Perspektiven. Ein ganz außergewöhnliches Leseerlebnis.
Viele Fragen stellen sich, und ich bin gespannt auf die Erklärungen. Warum ist Petrus so wütend? Warum ist Muriel so zurückhaltend? Glauben sie tatsächlich daran, das Melodie ihnen hilft? Das ganze wirkt so surreal und meine Neugierde auf die Zusammenhänge, die Hintergründe ist enorm
 
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Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
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