1. Leseabschnitt: Kapitel 1 bis 5 (Beginn bis Seite 42)

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Mich hat bisher allen voran beeindruckt, wie authentisch der Roman wirkt. Und zwar sowohl in den Kindheitsszenen, als auch in den ersten beiden einleitenden Kapiteln der Gegenwart.

Durch den schnörkellosen Stil und das bedingungslose Einlassen auf die Perspektive des Kindes habe ich manchmal tatsächlich den Eindruck, eine Autobiografie zu lesen. Ich kann mir bei der Lektüre sehr gut vorstellen, dass ein Kind diese Kriegszeit so empfunden haben muss. Die Angst vor den Angriffen des "Feindes", die Faszination, die solche NS-Feiern (nicht nur) auf Kinder haben mussten - das bringt Felix Schmidt mir nahe, ohne dabei zu beschönigen oder zu übertreiben.

Ebenso die Ambivalenz des Vaters, der sich in der Erziehung als wenig liebevoll erweist, sich gesellschaftlich aber nicht einmal ansatzweise verbiegen lässt. Eine bemerkenswerte Figur, wie ich finde. Zudem erzeugt dieses Verhalten bei mir doch eine ziemliche Spannung, wie es mit ihm und seiner Familie weitergeht.

Zwischendurch gibt es immer wieder Sätze, die mich aufhorchen lassen und die mich berühren. Der letzte Absatz auf S. 15 zum Beispiel. Da habe ich eine Gänsehaut bekommen.

Oder eine Seite danach über die Großmutter: "Ihre wärmenden Hände haben mir auch in späteren Jahren die Liebe und den Halt gegeben, die ich von den Eltern nicht bekam."

S. 34: "Ich hätte gerne einen anderen, einen verständnisvolleren Vater gehabt."

Aus all diesen Sätzen lese ich eine große Ehrlichkeit heraus, die mir der wertvolle Kern dieses Buches zu sein scheint.

Lobend erwähnen möchte ich zudem noch den Umgang mit Corona. Ich habe schon Romane gelesen, die genau im ersten Lockdown spielten, und die Menschen lebten wie in früheren Zeiten, waren im Hotel, reisten umher etc. Felix Schmidt verschweigt die Pandemie nicht, gibt ihr aber genau den Raum, in dem sie für die Handlung und das Befinden des Ich-Erzählers von Bedeutung ist.

Was nun Fiktion ist und was autobiografisch? Unabhängig davon empfinde ich es als Geschenk, dass wir auch heute noch Romane von Zeitzeugen lesen können, die uns diese Zeit so in Erinnerung rufen, dass wir sie nicht vergessen. Gerade auch in den heutigen Tagen.

Sorry, falls das zu pastoral klang, aber genau so empfinde ich gerade.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Mich hat bereits der erste Satz gefangen genommen:
Ich habe diesem Tag gleich beim Aufstehen nicht getraut.
Diese ersten kurzen Seiten in der Gegenwart im Angesicht einer unheilvollen Diagnose sind unglaublich empathisch und realistisch geschildert.
Ein diffuses Gefühl existentieller Bedrohung, dem man hilflos ausgeliefert ist. (...) Es ist ein Seelengefängnis. Wie nur bin ich da hineingeraten? 9
Diese Gefühlslage lässt den Ich-Erzähler aufbrechen zurück in die Kindheit...

Empathie, Einfühlungsvermögen - das sind die Vokabeln, die mir zunächst einmal einfallen, wenn ich über diesen Schreibstil sprechen will. Man kann sich in die Emotionen des Protagonisten wunderbar hineinversetzen, sowohl in die des betagten Kranken, als auch in die des Kindes, von dem anschließend die Rede ist.
Siebenundachtzig Jahre sind vergangen, seit ich in diese Welt hineingeboren wurde. Ich bin um vieles älter geworden als der Vater. So lange hat es gebraucht, um über das schreiben zu können, was sein Schicksal war und in meinem Leben ein Angstgefühl hinterlassen hat. 15
Es gibt Sätze in diesem Buch, die muss man laut lesen und sie schwingen lassen. Das ist einer davon.

Die Liebe zur Großmutter, ihre Fürsorge, ihr Halt und ihre Frömmigkeit durchziehen die ersten Lebensjahre. Das Verhältnis zum Vater ist ambivalent und angespannt - vielleicht exemplarisch für die damalige Zeit? Die Patriarchen hatten das Sagen und die Söhne mussten sich unterordnen?

Aber Familie ist Schicksal. Auf die Entscheidung, zu wem wir gehören, haben wir keinen Einfluss. 17
Wie wahr!

Schon früh spürt das Kind, dass der Vater "nicht linientreu" ist. Ich wundere mich, dass jener sich nicht stärker bemüht, das Hören des feindlichen Senders oder seine gefährliche Meinung zu verheimlichen vor dem kleinen Sohn. Aber das ist des Vaters Sache nicht: er tut, was er will. Nimmt er die Gefahr (noch) nicht ernst? Hält er sich wegen seiner Freundschaft zum Bürgermeister für unverwundbar?

"Gefühlsgebirge, Wolkenwülste" Anfang der 1940er Jahre. Der Vater hat sich erholt, brennt Schnaps, scheint gesellig und nach außen beliebt zu sein.

Der Erzähler wird eingeschult. Er möchte dazu gehören, zu den Hitlerpimpfen. Darf er aber nicht. Die Messdienerei ist keine Entschädigung, sondern führt sogar zum Spott der Gleichaltrigen. Heimlich schleicht er sich zur Sonnwendfeier, die mit Fliegeralarm jäh endet. Der Bunker wird zum Schutzraum - nicht nur gegen die feindlichen Angriffe... Sehr bedrückend muss das gewesen sein.

Ich bin fasziniert, wie es dem Autor gelingt, sich seinen persönlichen Erinnerungen nach so langer Zeit dermaßen authentisch zu stellen und das in dieser Weise und extrem fesselnd zu Papier zu bringen. Ich lese ganz langsam, lese manches laut. Da gibt es immer wieder Sätze, die mich aufmerken lassen, weil sie soviel Lebensklugheit besitzen.

Zum Beispiel auch dieser, als es um den Bruder geht, der die häuslichen Querelen einfach von sich abschütteln kann.
Er hatte einen günstigen Wind in seinem Lebenssegel. 17
Damit ist so unendlich viel ausgedrückt. Geschwister können sehr unterschiedlich sein - das liegt eben auch an der Art dieses Windes...

Ich höre jetzt auf zu schwärmen. Ihr sollt ja auch noch etwas zum Schreiben haben;)

Meine Begeisterung sollte euch nicht verborgen geblieben sein.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Ich wundere mich, dass jener sich nicht stärker bemüht, das Hören des feindlichen Senders oder seine gefährliche Meinung zu verheimlichen vor dem kleinen Sohn.
Das habe ich darauf geschoben, dass der Junge ja noch recht jung ist, und der Vater ihn gar nicht ernst nimmt. Obwohl der Junge sehr schlau ist für sein Alter, er versteht deutlich mehr Zusammenhänge als man für ein Kind seines Alters vermuten würde. Wobei viele Erkenntnisse vielleicht später aus dem Erlebten gezogen worden sein können.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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@Christian1977
Ich kann dir in allem nur beipflichten! Hier wird mit relativ wenigen Worten eine sehr intensive, historische Geschichte erzählt. Sie fühlt sich tatsächlich autobiografisch an. Aber eigentlich ist das egal. Sie könnte genau so stattgefunden haben. Das transportieren zu können, ist die Kunst der schreibenden Zunft.
Und genau das macht es für mich sehr schwierig beim lesen,ich leide enorm mit beim lesen, da ich mir vorstellen kann, dass es so stattgefunden hat. Das ein junger Mensch, der unbefangen aufwachsen sollte, geprägt wird von solchen Ereignissen. Dennoch hat die Handlung eine Sogwirkung auf mich, auch wenn sie mir an die Substanz geht, mich zum nachdenken anregt.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Vieles was mir beim lesen aufgefallen ist, wurde bereits angesprochen. Aber ein paar Kleinigkeiten möchte ich noch ergänzen.
Mir gefällt, dass der Erzähler auch Humor mit einbringt. Der Junge, der im Zuge der Erstkommunion den Pastor aus dem Konzept bringt, da der ihm keine Antwort auf die Frage geben kann, wie denn der Leib Christi in den Körper des Jungen gelangen konnte. Die Frömmigkeit der Großmutter, ein Aspekt den ich für sehr realistisch halte, aus Erzählungen von älteren Verwandten weiß ich, dass dies auch bei uns in der Familie so war. Es wurde geknausert und gespart, aber die kirchlichen Feste bildeten eine Ausnahme.

Am Ende dieses Abschnitts wird der Widerspruch herausgearbeitet, auf der einen Seite der Wunsch des Jungen dazuzugehören, bei den Pimpfen mitzumachen. Dann die Erkenntnis was Krieg bedeutet, die Angst bei den Angriffen, und die Angst, dass der Vater mit seiner Meinung die Familie gefährdet. Eine prekäre Situation. Ich als Leser bewundere auf der einen Seite die Geradlinigkeit des Vaters, doch ich weiß, dass er sich und seiner Familie damit Schaden wird, und verstehe nicht, dass er seine Meinung nicht etwas verhaltener kundtut. Es ist zwar feige, doch er bringt sich und die Familie tatsächlich in Gefahr. Es wird deutlich, dass es damals sehr schwer das Richtige zu tun, denn wer will schon abtransportiert werden?
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Empathie, Einfühlungsvermögen - das sind die Vokabeln, die mir zunächst einmal einfallen, wenn ich über diesen Schreibstil sprechen will. Man kann sich in die Emotionen des Protagonisten wunderbar hineinversetzen, sowohl in die des betagten Kranken, als auch in die des Kindes, von dem anschließend die Rede ist.
Das habe ich genauso empfunden. Deswegen konnte ich auch über die Bemerkung hinweglesen, der Schuldienst seines Freundes sei "gemächlich". Ich weiß nicht, ob es früher tatsächlich so war, aber aus heutiger Sicht kann man das nicht mehr so schreiben.
Das habe ich darauf geschoben, dass der Junge ja noch recht jung ist, und der Vater ihn gar nicht ernst nimmt.
Für deine These spricht auch, dass der Vater beim gemeinsamen Mittagessen ebenfalls über die Nazis schimpft und seine beiden Söhne offenbar nicht als mögliche "Bedrohung" wahrnimmt.
 

Literaturhexle

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Ich weiß nicht, ob es früher tatsächlich so war, aber aus heutiger Sicht kann man das nicht mehr so schreiben.
In früheren Zeiten könnte das aber (zumindest von außen und im Vergleich mit der schweren Arbeit auf dem Feld) zugetroffen haben. Die Klassen waren zwar groß, aber diszipliniert. Der Lehrer war eine Autorität. Gleich nach dem Bürgermeister. Kaum jemand hätte ihn kritisiert, die Bauern beschenkten ihn mit den Früchten ihrer Arbeit.

Für deine These spricht auch, dass der Vater beim gemeinsamen Mittagessen ebenfalls über die Nazis schimpft
Ich glaube, es ist ihm völlig egal, er steht dazu. Es ist allgemein bekannt, wie er denkt. Er zeigt den Nazis offen die Stirn. Da kann es kaum schaden, wenn der Sohn sich verplappern sollte. Denkt der Vater zumindest.
 

Barbara62

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Das habe ich genauso empfunden. Deswegen konnte ich auch über die Bemerkung hinweglesen, der Schuldienst seines Freundes sei "gemächlich". Ich weiß nicht, ob es früher tatsächlich so war, aber aus heutiger Sicht kann man das nicht mehr so schreiben.
Dieser Seitenhieb war die einzige Bemerkung, die mich in diesem Abschnitt gestört hat. Als Schulleiter hat dieser Freund einen größeren Betrieb geleitet, der viel Arbeit, Konfrontation mit Leid, Ärger und schwierige Situationen mit sich brachte. Mein Vater war stellvertretender Schulleiter eines kleineren Gymnasiums. Ich weiß also, wovon ich rede. Man kann sein Geld wesentlich bequemer verdienen.

Das ist aber dann auch schon meine einzige kritische Anmerkung. Ansonsten ist das Buch nach unserem letzten gemeinsamen Flop :oops: eine echte Wohltat. Die Perspektive des Kindes ist sehr gut getroffen, es wird nicht mehr in seine Gedanken hineininterpretiert als altersgemäß vorstellbar.

Die Zitate, die ihr aufgeführt habt, habe ich mir auch notiert. Eines möchte ich noch hinzufügen, das mir besonders gut gefällt:

"Die Erinnerung ist ja oft nur eine Annäherung, treibt seltsame Blüten. So mischen sich in das reale Geschehen Bilder ähnlicher Schicksale, von denen ich nur gehört habe." (S. 11)

Wie wahr! Der Ich-Erzähler will 14 Tage im Heimatort verbringen um zu recherchieren, Erinnerungen zu überprüfen, die Atmosphäre auf sich wirken lassen. Ich bin äußerst gespannt, wie gut ihm das gelingt!

Aus heutiger Sicht ist der Ich-Erzähler vermutlich auch stolz auf den Vater, der so früh in der Opposition war und den Nazis nicht auf den Leim gegangen ist. Dem Kind allerdings, das den Vater fürchtete für seinen Jähzorn, seine Unberechenbarkeit und seine Düsternis, muss das Nazitum genau aus diesem Grund umso positiver vorgekommen sein. Doppelt bitter also, dass es davon ferngehalten wurde.
 

Barbara62

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Für deine These spricht auch, dass der Vater beim gemeinsamen Mittagessen ebenfalls über die Nazis schimpft und seine beiden Söhne offenbar nicht als mögliche "Bedrohung" wahrnimmt.
Der Vater war völlig unbeherrscht, hatte sich nicht unter Kontrolle. Zumindest zu Beginn mag er aber auch die Gefahr unterschätzt haben.
 

Renie

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Diese ersten kurzen Seiten in der Gegenwart im Angesicht einer unheilvollen Diagnose sind unglaublich empathisch und realistisch geschildert.

Unbedingt. Die Schilderung der Gefühlslage bei der Diagnose hat mich kalt erwischt. Besser kann man es nicht beschreiben:
Es ist Grauen, Lähmung und Panik in einem und kommt von tief unten aus einer Seelenschicht, in die das, was man mit dem Allerweltsbegriff Angst umschreibt, nicht herabreicht.
Genauso ist es - leider ein Gefühl, das man niemals vergessen wird.
 

Renie

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Ich kann mich den Lobeshymnen nur anschließen.
Spontan dachte ich, dass die Reise an den Ort seiner Kindheit als eine letzte Reise zu werten ist, die man nochmal macht, bevor man abtreten muss. Doch mich haben die Sätze
Ich will es zuordnen, Licht in die Zeit bringen, als sich der Alb auf meine Brust gesetzt hat. Ich will das Erbgut sequenzieren, um festzustellen, was ich vom Elternhaus mitbekommen habe. (S. 9)
stutzig gemacht. Die Angst, um die es hier geht, scheint unabhängig von der Diagnose bereits versteckt vorhanden gewesen zu sein. Sie ist nur durch die Krebsdiagnose zu Tage getreten. Ich frage mich, welche Kindheit der Protagonist erlebt hat, dass daraus eine derartige Angst resultiert und bin daher unglaublich gespannt, auf das, was im weiteren Verlauf der Geschichte noch kommen wird.
In Anbetracht des Alters des Protagonisten, ist dies eine unglaubliche Verdrängungsleistung, wenn ein Mensch es schafft, eine derartige seelische Belastung ein Leben lang unter Verschluss zu halten.
Eine hypothetische Frage: Hätte der Protagonist die Reise zurück in die Kindheit unternommen, wenn er nicht erkrankt wäre? Was glaubt Ihr?

Einen ähnlichen Hinweis auf prägende Vorkommnisse in der Kindheit liefert der Autor auch en passant auf der nächsten Seite.
Ich kehre in Gedanken in jene Kinder- und Jugendtage zurück, in denen sich etwas Zerstörerisches in das Familienleben eingeschlichen hatte, das seither in meinem Unterbewusstsein weiterlebt. (S. 10)

Schmunzeln musste ich bei dem Absatz "Vater als Urlaubsmuffel", denn Vater hatte also die Welt gesehen.
Mein Opa, der auch aus der Generation des Vaters stammt, hat sich in meiner Kindheit (70er Jahre) ähnlich geäußert. Wenn meine Oma ihn nötigte, in Urlaub zu fahren, kam immer sein Spruch "Was soll ich denn da? Es ist doch schön hier. Wir haben doch alles." Was hat meine Oma gelitten. Weiter als bis nach Österreich konnte sie ihn nicht bewegen, denn weiter wäre für meinen Opa zu exotisch gewesen.
Zwar lassen sich der Vater in diesem Roman und mein Opa charakterlich nicht miteinander vergleichen. Aber dennoch gibt es viele Momente, die mich an meine Großeltern und ihre Erzählungen aus der Kriegszeit/Nachkriegszeit erinnern. Daher empfinde ich vieles in diesem Roman als Seelenfutter.
 

Barbara62

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19. März 2020
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Ich frage mich, welche Kindheit der Protagonist erlebt hat, dass daraus eine derartige Angst resultiert und bin daher unglaublich gespannt, auf das, was im weiteren Verlauf der Geschichte noch kommen wird.
Reicht dafür nicht schon die beständige Angst vor dem jähzornigen, unberechenbaren Vater?

Eine hypothetische Frage: Hätte der Protagonist die Reise zurück in die Kindheit unternommen, wenn er nicht erkrankt wäre? Was glaubt Ihr?
Eher nicht. Ich hatte es so verstanden, dass er der Frage nachgeht, warum die Ungewissheit der Diagnose ihn so aus der Bahn wirft. Er sucht die Erklärung dafür in den Kindheitserlebnissen.

Spontan dachte ich, dass die Reise an den Ort seiner Kindheit als eine letzte Reise zu werten
Mein Opa, der auch aus der Generation des Vaters stammt, hat sich in meiner Kindheit (70er Jahre) ähnlich geäußert. Wenn meine Oma ihn nötigte, in Urlaub zu fahren, kam immer sein Spruch "Was soll ich denn da? Es ist doch schön hier. Wir haben doch alles."
Der Alt-OB von Stuttgart, Manfred Rommel, soll einmal sinngemäß gesagt haben: "Do hocksch irgendwo und dohoam könndschd Äpfel ernte". (Sorry, ich kann nicht schwäbisch schreiben, nur reden.)
 

Renie

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Die geschilderte Familienkonstellation ist befremdlich. Der Vater als jähzorniger Tyrann, eine Mutter, die kaum existiert und eine Großmutter, die dem Protagonisten alles gibt, was er eigentlich von den Eltern bekommen sollte.
Der Einfluss der Großmutter auf das Familienleben ist bemerkenswert. Ich habe verstanden, dass der Protagonist auch bei seiner Großmutter gelebt, zumindest geschlafen hat, zwar im elterlichen Haus, aber dennoch in separater Wohnung. Was war mit den Eltern los, dass sie sich nicht an diesem Arrangement gestört haben?
Ich vermisse jegliche Elternliebe. Welches Verhältnis gab es zu der Mutter? Momentan sieht es so aus, dass sie ihrer Pflicht, den Nachwuchs auszutragen nachgekommen ist, und das wars dann zum Thema Mutterschaft.
 

Renie

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Reicht dafür nicht schon die beständige Angst vor dem jähzornigen, unberechenbaren Vater?
Der Fritz hatte durch die Großmutter Rückzugsmöglichkeiten und konnte ihm aus dem Weg gehen. Wenn die Angst vor dem Vater so groß gewesen wäre, hätte sich der Junge nicht auf Diskussionen mit dem Vater eingelassen und Widerworte gegeben oder Forderungen gestellt, selbst in dem Wissen, dass die Reaktion seines Vaters sehr schmerzhaft sein wird.
 

Helmut Pöll

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Ebenso die Ambivalenz des Vaters, der sich in der Erziehung als wenig liebevoll erweist, sich gesellschaftlich aber nicht einmal ansatzweise verbiegen lässt. Eine bemerkenswerte Figur,
Bemerkenswert im Sinne von "nicht verbiegbar", tatsächlich aber eher ein unangenehmer Zeitgenosse, da offenbar völlig unempathisch seiner Familie gegenüber und ein schlechter Vater. Und es interessiert ihn auch nicht, dass er mit seinem Verhalten die ganze Familie gefährdet.
Nimmt er die Gefahr (noch) nicht ernst? Hält er sich wegen seiner Freundschaft zum Bürgermeister für unverwundbar?
Ich glaube eher, dass er so weit nicht denkt. Er ist eher spontan, hat keine Impulskontrolle und denkt vermutlich über Konsequenzen - wenn überhaupt - erst nach, wenn es zu spät ist.
 

Helmut Pöll

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9. Dezember 2013
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München
Eine hypothetische Frage: Hätte der Protagonist die Reise zurück in die Kindheit unternommen, wenn er nicht erkrankt wäre? Was glaubt Ihr?
Ich glaube nicht, dass er das gemacht hätte. Das war wohl eher so ein "Wakeup call". Möglicherweise schleppt er den Wunsch schon länger mit sich herum, ist aber hin und her gerissen, weil er sich sorgt, was da alles wieder aufbrechen könnte. Die Diagnose sagt ihm aber, dass er die Reise möglicherweise nicht mehr beliebig vor sich herschieben kann, bevor sie unmöglich wird.