Mich begeistert zunächst einmal diese altertümliche, gediegene Sprache, die wunderbar zu den intellekuellen Brüdern und zum Setting passt. Wir lesen einen personalen Erzählstil - ich vermute, dass Sulzer sich hier die Tagebuchaufzeichnungen zur Hilfe genommen hat, aus denen man gewiss eine hervorragende Biografie zaubern kann. Ist es Sulzers Stil oder der der Brüder? Sehr viele persönliche Anekdoten, Wertungen und Gefühle finden Einlass - ohne die Tagebücher (hat sie jemand (an-)gelesen?) wird das nicht funktioniert haben.
Das Wesen der Brüder wird schon im ersten LA bestens skizziert. Sie haben einen eigenwilligen Blick auf die Welt, scheinen keine Philanthropen zu sein. Musik können sie gar nicht ab, wie offensichtlich viele berühmte Literaten dieser Zeit. Hat mich verwundert: "Die Kreise berührten sich nicht, Musik und Literatur trennten sich auf natürliche Weise."56
Andere Größen werden wie nebenbei erwähnt und machen das Buch tatsächlich auch zu einem Sittengemälde. Barnes´roter Rock lässt grüßen. Alphonse Sax hat das Saxofon erfunden, ich kann mir den Lärm (Fanfarenstöße, Quetschgeschosse, Ventilfürze, musikalische Folterkammer - herrlich
) lebhaft vorstellen... Ebenso findet man die Kurtisane Anna Deslions in Wiki. Hugo und Balzac kennen wir.
Die Syphilis hat durch die Erfindung des Penicillins ihren Schrecken verloren. Bei netdoctor habe ich den fiesen Verlauf der Krankheit nachgelesen, er deckt sich mit dem von Jules. Das Tückische scheint mir, dass die Symptome über ein Jahrzehnt lang in der Versenkung verschwinden, um dann mit aller Deutlichkeit zurückzukehren und zu zerstören. Brutal. Ebenso wie AIDS nach wie vor nicht heilbar ist. Über die moralische Seite habt ihr schon viel gesagt. Frauen galten damals wenig, das wird auch in diesem Roman überdeutlich. Ihr Nutzen beschränkt sich klar auf sexuelle und andere Dienste.
Ich habe den Eindruck, dass Edmond den zunehmenden Verfall seines Bruders auch vor sich selbst verdrängt: nicht sein kann, was nicht sein darf.
Zahlreiche Formulierungen finde ich grandios! So wird jedes Syphilis-Opfer zum Jungbrunnen der Krankheit: "Ihre Kraft versiegte nie, ihre Zerstörungswut entzündete sich stets von Neuem." 41
"Erfolgreich war er (Sax) meistens, laut war er immer, und vielleicht war er besonders erfolgreich, wenn er lauter war als alle anderen."54
"Auch ihre Schönheit löste sich wie ein Regentropfen, der eben noch in der Sonne geglänzt hatte, in einer unscheinbaren Pfütze auf."60
Sind diese Ergüsse und Bonmots von Sulzer oder von Goncourt? Eigentlich egal, ich genieße sie sehr!