1. Leseabschnitt: Kapitel 1 bis 3 (Beginn bis Seite 71)

alasca

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13. Juni 2022
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Auch ich bin eher verhalten, bisher gefällt es mir ebenfalls nicht besonders gut.
Frances hält an den altmodischen Dingen fest, schämt sich teilweise sogar dafür, lebt aber weiterhin so. Ihr Wunsch sich mit Nick und Alix anzufreunden ist zwar nachvollziehbar, dennoch müsste ihr doch klar sein, dass sie wahrscheinlich nur etwas oberflächliches erwartet. Alix ganzes. Erhalten ist nur darauf ausgelegt Aufmerksamkeit zu erregen. Als sie Frances dann direkt einlädt, obwohl sie sich gerade mal 2 Minuten kennen, kam mir das direkt deplatziert vor.
Die Konstellation mit Nancy ist auch so eine merkwürdige Sache. Sie leben nebeneinander her, sehen sich so gut wie nie, dennoch bleiben sie gemeinsam in der großen, altmodischen Wohnung.

Die Aussicht darauf, dass die Auswertungen ihrer Arbeit wieder näher in den Fokus rücken könnten, hebt bei mir ein wenig die Spannung. Ich hoffe sehr, dass wir nun nicht den kompletten Roman mit Alix, Nick und Fanny und deren Freundschaft verbringen werden
Die Hoffnung gehört zu den Dingen, die der Büchse der Pandora entfleucht sind ... :cool:
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich bin sehr angetan von diesem ersten LA. Es scheint mir so, als ob Frances eine Verwandte von Emma Bovary sei, die in dem fremden Ehepaar Vertreter einer glamourösen Lebensweise sieht und hofft, dass durch den Kontakt ein wenig auf sie abfärbt. Dabei hat sie selbst - finde ich - unglaublich viel zu bieten. Ihre Beobachtungsgabe begeistert mich.
S. 58: "Ich wollte nichts davon wissen, dass die Welt alt und aus den Fugen war, dass der Mensch ein verletzliches Geschöpf ist und jeder mehr oder weniger ein Sterbender war.(...) Jetzt brauchte ich die Erfahrung, dass nicht jeder Mensch eine Wunde trägt, die sein Leben lang immer wieder einmal blutet."
Oder S. 60: "Wahrscheinlich ist das der Grund, warum ich schreibe - um die Ereignisse neu zu ordnen, sie schärfer zu konturieren, auch um sie komischer zu machen, als sie in Wirklichkeit waren."
Gemessen an dieser stillen, zugewandten Art, den Blick auf andere Menschen zu richten, ist das Verhalten des bewunderten Ehepaars einfach nur unverschämt und grob. Vor allem Alix' Benehmen. Die Einladung ist in Wirklichkeit keine, sondern ein Kommando "bei Fuß" wie an einen Hund. Und dass sie Frances einlädt, Olivia aber ausschließt, dafür gibt es auch keine Entschuldigung. Simek wird einfach abserviert und kommt gar nicht zu Wort - kurz gesagt, diese ganze Szene ist eine Katastrophe. Im Grunde braucht diese Frau ordentlich eins hinter die Löffel.

Ein anderer Punkt: ich habe mich natürlich auch gefragt, warum Frances in dieser Wohnung bleibt, die einem Museum gleicht und für sie viel zu groß ist. Ich glaube, da spielt ein schlechtes Gewissen mit. Einmal gegenüber ihren Eltern, vor allem der Mutter, die von Nancy gepflegt wurde, während Frances der Kranken anscheinend aus dem Weg ging. Und dann will sie wohl auch Nancy aus dem gleichen Grund nicht ihr Zuhause nehmen.
Es ist ziemlich sprechend, dass sie beim Anblick von van Goghs Selbstporträts nicht an diesen selbstbewussten, inzwischen unfassbar hoch gehandelten Maler denkt, sondern an seinen bescheidenen Bruder Theo, der immer der gebende Teil dieses Brüderpaars war, auch auf Kosten seiner eigenen Familie.

In einem Punkt geht's mir wie auch anderen hier - ich hätte dieses Buch zeitlich viel früher verortet. Ich kam mir anfangs vor wie in einem Roman von Barbara Pym, "Vortreffliche Frauen", in dem es auch um eine Erzählerin geht, die sich selbst als mittelmäßig empfindet und sich von der Schneidigkeit ihres Nachbarn angezogen fühlt wie die Motte vom Licht. Dieses Buch spielt in den Fünfzigern und da hätte ich anfangs Brookners Roman auch hingetan - ich weiß selbst nicht genau warum, vielleicht aufgrund des Erzähltons, der auf mich wie aus der Zeit gefallen wirkt.
 
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alasca

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13. Juni 2022
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Ich werde bislang leider nicht warm mit dem Roman, was weniger an der Sprache als an der Handlung und den Figuren liegt.

Am interessantesten finde ich den Handlungsort und die Tätigkeit der Ich-Erzählerin. Eine Bibliothek und ein Bilderarchiv über psychische Krankheiten finde ich spannend. Auch den Anfang mochte ich mit seinen Schnittstellen zur Kunst.

Die Protagonistin selbst ist gnadenlos langweilig, weiß dies aber erstaunlicherweise selbst. Sie betont ständig ihre Normalität, ihre Durchschnittlichkeit. Keine Träume, keine besonderen Kenntnisse, keine Leiden. Gähn. Ich mache Anita Brookner keinen Vorwurf, denn die Figur ist ja bewusst so angelegt.
Ich finde sie gar nicht langweilig. Sie hat ein reiches Innenleben, ihre Gedanken sind oft brillant formuliert und messerscharf. Sie durchschaut alle und jeden, nur sich selbst nicht.
Allein sie interessiert mich leider kaum.

Das größere Problem ist: Mit den anderen Figuren geht es mir nicht anders. Insbesondere die ach so wahnsinnig charismatischen Nick und Alix. Bei Letzterer ist immerhin der Name exotisch. Ansonsten regen die mich richtig auf mit ihrer Oberflächlichkeit und bislang verstehe ich überhaupt nicht, was Frances an ihnen findet.
Aber das erklärt sie doch sehr gut. Eben genau diese Raubtierhaftigkeit, der Egoismus, diese Fähigkeit, sich völlig gewissenlos zu nehmen, was sie wollen - findest du den Tiger nicht auch interessanter als die Antilope? Dagegen Frances, hoffnungslos gefangen im Korsett ihrer guten Erziehung und voller Widersprüche. Frances ist wie eine Maus, die hypnotisiert in die Augen einer Boa constrictor blickt. Sie weiß, dass sie gleich gefressen wird, aber sie rennt trotzdem nicht weg.
Sollen sie vielleicht auch, macht die Lektüre aber dadurch für mich nicht zu einem Vergnügen.

Anfangs hoffte ich ein bisschen, dass der Roman und seine Figuren vielleicht ein wenig in Richtung


Buchinformationen und Rezensionen zu Eine Laune Gottes von Margaret Laurence
Kaufen >

gehen würde, nicht nur wegen desselben Verlags und seines unbedingt zu unterstützenden Vorhabens, vergessene Autorinnen wieder in Erinnerung zu rufen.

Aber ich finde, dazwischen liegen doch Welten. Naja, vielleicht wird es besser...
Wird es. Finde ich.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Welche Funktion die Überlegungen über Melancholie und Wahnsinn haben, wird sich noch zeigen müssen
Ich gehe davon aus, dass diese Gedanken noch eine Rolle spielen und die Autorin nicht nur ihre Kunstkenntnisse zur Schau stellen wollte.
und das in den 80ern, der Zeit der dramatischen feministischen Umbrüche.
Die sind nicht gleich schnell in allen Gruppierenden angekommen.
Ich gehe ehrlich gesagt davon aus, dass das der Grundkonflikt des Romans sein wird. Ich finde, man spürt recht stark, dass die beiden ihr nicht guttun werden.
Das wird das Thema des Romans sein. So eine ungleichwertige Beziehung kann nicht funktionieren. Obwohl es solche in der Realität öfter gibt. Denn sonderbarerweise brauchen solche glamourösen Menschen ihre Bewunderer.
 

RuLeka

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Als sie Frances dann direkt einlädt, obwohl sie sich gerade mal 2 Minuten kennen, kam mir das direkt deplatziert vor
Sie scheint das ihrem Mann zuliebe zu tun. Die Bemerkungen, die Frances noch aufschnappt, legen das nahe.
Die Konstellation mit Nancy ist auch so eine merkwürdige Sache. Sie leben nebeneinander her, sehen sich so gut wie nie, dennoch bleiben sie gemeinsam in der großen, altmodischen Wohnung.
Das scheint mit Frances‘ Beziehung zu ihren Eltern zusammenzuhängen. Sie bleibt ja in deren Wohnung und lebt im Grunde weiter wie bisher. Sie bleibt das Kind, das tut, was für Eltern von ihr erwarten. Und Nancy ist ein Teil ihrer Eltern.
Sie durchschaut alle und jeden, nur sich selbst nicht.
Bis zu einem gewissen Grad durchschaut sie auch sich selbst, ist aber unfähig, Konsequenzen daraus zu ziehen.
Sie weiß, dass sie gleich gefressen wird, aber sie rennt trotzdem nicht weg.
Sie will lernen, eine Boa zu werden. Doch als Maus wird das schwierig.
 

RuLeka

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Ein anderer Punkt: ich habe mich natürlich auch gefragt, warum Frances in dieser Wohnung bleibt, die einem Museum gleicht und für sie viel zu groß ist. Ich glaube, da spielt ein schlechtes Gewissen mit. Einmal gegenüber ihren Eltern, vor allem der Mutter, die von Nancy gepflegt wurde, während Frances der Kranken anscheinend aus dem Weg ging. Und dann will sie wohl auch Nancy aus dem gleichen Grund nicht ihr Zuhause nehmen.
Es ist ziemlich sprechend, dass sie beim Anblick von van Goghs Selbstporträts nicht an diesen selbstbewussten, inzwischen unfassbar hoch gehandelten Maler denkt, sondern an seinen bescheidenen Bruder Theo, der immer der gebende Teil dieses Brüderpaars war, auch auf Kosten seiner eigenen Familie.
Gut auf den Punkt gebracht.
 
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Literaturhexle

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Ich bin sehr angetan von diesem ersten LA
Ja, ich auch. Ich dachte schon, ich wäre allein, aber zum Glück stellten sich doch noch positive Stimmen ein.
Fasziniert bin ich von der Sprache! So müsste man formulieren können, so wortgewandt und präzise ohne Schwurbeleien. Wenn Brookner so weiter schreibt, würde ich ihr die ein oder andere Durststrecke verzeihen...
Die Einladung ist in Wirklichkeit keine, sondern ein Kommando "bei Fuß" wie an einen Hund. Und dass sie Frances einlädt, Olivia aber ausschließt, dafür gibt es auch keine Entschuldigung.
Auf mich wirkt die Einladung auch sehr berechnend, als ob sie einem Auftrag oder Plan entspringt. "Was tue ich nicht alles für England", legt das nahe.
Ich habe die schlimme Vermutung, dass die beiden Fanny um ihre große Wohnung bringen wollen, die doch viel besser zu ihnen passt als zur grauen Maus. Fannys Überhöhung und Idealisierung dieses müßiggehenden Glamourpaares tut mir richtig weh.
warum Frances in dieser Wohnung bleibt, die einem Museum gleicht un
Neben den genannten Gründen fehlt ihr schlicht der Antrieb, etwas zu verändern. Sie redet mehr, als dass sie handelt.
ich hätte dieses Buch zeitlich viel früher verortet.
Ist es sicher, dass es in den 1980ern spielt, nur weil es da veröffentlicht wurde? Fanny lässt uns ja an einer Geschichte, einer Erinnerung teilhaben, die durchaus auch in ihren jungen Jahren spielen könnte. Ich brauche die genaue Verortung mal wieder nicht. Ich genieße, was ich lese. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass in England die bourgeoisen Uhren auch anders laufen.
Sie hat ein reiches Innenleben, ihre Gedanken sind oft brillant formuliert und messerscharf
Genau. Langeweile verspüre ich überhaupt keine! Hier prallen zwei Lebenswelten aufeinander.
Mit welcher Dekadenz die beiden in der Bibliothek aufschlagen, die sortierten Bilder durcheinander bringen, den Schreibtisch okkupieren - nur um über eine FRISUR zu debattieren, das ist schon ausgesucht dreist und lässt jegliche Art menschlichen Respekts vermissen.

Großes Kino, ich lese begeistert weiter!
 

Die Häsin

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Ist es sicher, dass es in den 1980ern spielt, nur weil es da veröffentlicht wurde? Fanny lässt uns ja an einer Geschichte, einer Erinnerung teilhaben, die durchaus auch in ihren jungen Jahren spielen könnte.
Die Erzählerin bemerkt an einer Stelle (wo genau, weiß ich gerade nicht), dass ihre Eltern die Wohnung während des Krieges bezogen haben und sie selbst dann dort aufwuchs (S. 31). Es ist nicht unbedingt zwingend, klingt aber so, als sei Frances kurz nach dem Krieg geboren. Nehmen wir weiter an, dass sie jetzt etwa Mitte zwanzig ist (was auch nicht zwingend ist, vielleicht erinnert sich noch jemand an irgendeine Altersangabe?), dürften wir uns in den Sechzigern befinden. Ich finde die zeitliche Verortung schon wichtig, weil London in den 60ern ja geradezu Symbolwert hat. Aber mir ist es nicht gelungen, einen genaueren Hinweis zu finden.
In den 80ern kann ich mir absolut nicht vorstellen. Dann wäre sie ja annähernd meine Generation, und mir käme ihr ganzes Verhalten, einschließlich Kleidung, geradezu zwanghaft ältlich vor.
 

Literaturhexle

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noch jemand an irgendeine Altersangabe?), dürften wir uns in den Sechzigern befinden
Dann passt doch alles. Ich meine, oben wurde von den 80er Jahren gesprochen als Verortung und der Inhalt dafür zu altbacken gehalten.
Man kann dann einem Buch leicht Unrecht tun, wenn man die Zeit falsch definiert.
 
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alasca

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Dann passt doch alles. Ich meine, oben wurde von den 80er Jahren gesprochen als Verortung und der Inhalt dafür zu altbacken gehalten.
Man kann dann einem Buch leicht Unrecht tun, wenn man die Zeit falsch definiert.
Auch für Ende der 60er finde ich Frances sehr altmodisch. Damals lag Revolution in der Luft, in Paris brannten Barrikaden, es gab Swinging London ... Ich hab auch keine Lust, komplizierte Berechnungen anzustellen, bloß um herauszufinden, wann der Roman spielt, und gehe ohne Zeitangaben von der Gegenwart aus - in dem Fall die frühen 80er.
 
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Literaturhexle

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Damals lag Revolution in der Luft, in Paris brannten Barrikaden
Haha! Aber doch nicht überall! Die Briten sind stockkonservativ und schau, in welchem Umfeld die gute Fanny aufgewachsen ist... Die ist gewiss nicht zur Demo marschiert, so behütet, wie sich sich gibt, ohne Selbstbewusstsein und angepasst bis zum Gehtnichtmehr.
Das einzig Spitze an ihr ist ihre Feder und ihre Zunge (angabegemäß, gemerkt habe ich noch nichts davon).
 
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