1. Leseabschnitt: Kapitel 1 bis 3 (Beginn bis Seite 48)

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Gus ist über fünfzig und lebt allein auf einem Hof in den Cevennen, im Departement Lozère. Eine extrem dünnbesiedelte Gegend. Die wenigen Menschen leben im Einklang mit der Natur, was freundlich und nett klingt, in Wirklichkeit aber ein hartes und einsames Dasein bedeutet.
Gus züchtet Aubrac-Rinder, der Hof ist seit Generationen in der Familie und die Wohnverhältnisse sind sehr einfach, ohne jeden Komfort. Gus' einzige Gesellschaft ist sein Hund Mars, mit dem Nachbarn Abel verbindet ihn eine lose Männerfreundschaft.
Ein Wintermorgen, kalt und neblig. Nach der Morgenarbeit kommt Gus auf den Gedanken, Drosseln zu schießen (der Verzehr von Singvögeln - darauf soll es wohl hinauslaufen - ist in Frankreich immer noch verbreitet). Er geht hinaus in den Nebel und hört, dass Abel offenbar ebenfalls schießt. Kurz darauf Schreie. Gus geht hin und sieht nach, im dünnen Schnee ist ein großer Fleck "wie Blut". Mehr erfahren wir einstweilen nicht.
Sowohl in Gus' als auch in Abels Familie scheint es einige Geheimnisse zu geben. Beide sind einsame Männer ...

Das Buch macht den Eindruck, als gäbe es seinen Inhalt nur widerwillig preis ... was mir eigentlich gut gefällt bisher. Ich lese sowas gerne.

ps. Bin noch nicht ganz durch mit dem LA, nur bis Seite 33 bisher.
 

Querleserin

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Gus ist ein Einzelgänger und Außenseiter, der sich nur widerwillig im Leben eingefunden hat, wie wir bzgl. seiner Geburt erfahren.
Jedenfalls zögerten selbst die erbarmungsvollsten Seelen nicht, mit dem Finger auf diesen Fisch zu zeigen, der seit seiner Geburt gegen den Steom schwamm. (8)
Das Zitat offenbart gleichzeitig dieser metaphernreiche und poetische Sprache des Romans, die bisher gut gefällt. Eine Vorausdeutung weist uns darauf hin, dass am 22.1.2006 ein ungewöhnliches Ereignis stattfindet.
Bisher hatte er (Gus) seine Tage wie Perlen auf einer Halskette aufgereiht, eine sah aus wie die andere; doch an diesem Tag im Januar 2006, genauer gesagt, am zweiundzwanzigsten, schickte er sich an, eine seltsame Perle aufzureihen, eine, die wirklich nicht wie alle anderen aussah.“ (11)
Ein Ereignis hat @Die Häsin schon beschrieben. Das andere ist der Tod von Abbé Pierre, der Gus mitnimmt, ein barmherziger Abt.
Auf den Blutfleck im Schnee reagiert Gus völlig panisch, läuft nach Hause, sperrt sich ein, erstarrt. Da scheinen alte Erinnerungen hoch zu kommen.
In dem Zusammenhang findet sich auch ein echt ungewöhnliches Bild:
Die mit den Detonationen vermischten Schreie schwollen unter seiner Schädeldecke an, wie Kolloide aus Lehm, die sich an andere Partikel klebten und eine unaufhaltsame aufquellende Paste bildeten. (24)
Da frage ich mich, ob das nicht schon zu artifiziell ist oder der bildhafte Ausdruck besonders gut gelungen. Ich schwanke noch…
@Die Häsin hat bereits erwähnt, dass es ein Geheimnis darum gibt, warum sich Gus Vater und Abel sich nicht verstanden haben, während die beiden eine Freundschaft haben, seit der Sache mit der Kuh.
Gus hat irgendwann Abel nach diesem Geheimnis gefragt, Abel weicht aus und schiebt es auf Kühe, die auf seine Felder gelaufen seien, doch Gus glaubt ihm nicht, fragt aber nie mehr nach.
Nach dieser Erinnerung entschließt er sich der Sache mit dem Blutfleck auf den Grund zu gehen und besucht Abel unter dem Vorwand eine Kettensäge ausleihen zu wollen. Dabei dringt er in Abels Haus ein, da er niemanden vorfindet und wird von diesem überrascht. Abel ist offensichtlich verärgert, leiht ihm aber die Säge aus. Doch Gus versteckt sich anschließend auf einem Heuboden und beobachtet, wie Abel einen mit Blut befleckten Spaten sorgfältig reinigt. Seine Reaktion darauf, er rennt nach Hause und will vergessen…bin sehr gespannt, wie es weitergeht.
 

Die Häsin

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Gus ist ein Einzelgänger und Außenseiter, der sich nur widerwillig im Leben eingefunden hat, wie wir bzgl. seiner Geburt erfahren.

Das Zitat offenbart gleichzeitig dieser metaphernreiche und poetische Sprache des Romans, die bisher gut gefällt.
Ich bin mit der Sprache noch nicht so ganz einverstanden, empfinde sie manchmal als sperrig. Ein gutes Beispiel, was ich meine, ist der Satz auf S. 19 oben, wo es um den Hund geht. Nichts gegen eine Reihung von Nebensätzen (haben wir ja auch bei Thomas Mann), aber wenn es (fast) ausschließlich Relativsätze sind, empfinde ich die Passage als unbeholfen.
Was die Metaphern angeht, stimme ich aber zu. Die sind wirklich sehr ausdrucksvoll.
 

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Ich empfinde die Sätze auch manchmal als sperrig…muss manche zweimal lesen. Ich habe es so verstanden, dass Abel genauso alt ist, wie Gus Vater. Dass sie lange vor Gus Geburt gestorben ist, passt tatsächlich nicht. Vielleicht zwei Jahre zuvor? Dann wäre Abel 18 gewesen. Das wird bestimmt noch mal thematisiert.
 
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Mysteriös ist auch der Geruch, auf den Gus im Schlafzimmer Abels stößt:
in der Luft lag ein betörender Geruch, den er nicht genau identifizieren konnte, ein Duft, den man im Zimmer eines alten Menschen erwartete, aber nicht eines alten Mannes wie Abel, eine Mischung aus Kölnisch Wasser und Trockenblumen (41)
 

Renie

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Der Sprachstil hat mir den Einstieg in diesen Roman nicht leicht gemacht. Sätze und Formulierungen scheinen mit Bedacht gewählt zu sein und verbergen auf den ersten Blick eine tiefere Bedeutung. Es ist also kein Buch, das sich im Durchmarsch lesen lässt, da hier volle Konzentration gefordert ist.
Der Schauplatz ist schon mal vielversprechend gruselig. Les Doges - ein einsamer Ort, der aus zwei Höfen besteht, die von zwei Einsiedlern bewohnt werden, die ich mir in keinem anderen Szenario vorstellen kann. Eigenbrötlerisch, das Leben richtet sich nach der Natur und den Jahreszeiten, kein Kontakt zu anderen Menschen. (Das Buchcover passt übrigens ganz hervorragend zu diesem trostlosen Setting.)
Ob es sich bei diesem Roman um ein Kammerspiel für Zwei handelt? Ich bin gespannt.
Die ersten Seiten des Romans konzentrieren sich auf Gus, erzählen von seinem Leben, das unspektatkulär verläuft. Es geschieht also nicht viel. Den Wendepunkt bildet für mich das Gespräch zwischen Gus und Abel, bei dem Abel sich um die Antwort auf Gus' Frage nach der Vergangenheit und dem Konflikt zwischen den beiden "Familien" herumdrückt. Dafür, dass die beiden Freunde sind, reagiert mir Abel zu abweisend bis feindlich.
Zuvor haben wir noch die Episode mit dem "blutigen Ereignis" (Schuss, Schreie, Blut), das Gus verstört. Hier dachte ich zunächst, dass Abel ermordet worden ist. Daher war ich doch sehr verblüfft, als Abel quicklebendig in seinem Haus auftaucht und Gus beim Schnüffeln erwischt. Seitdem nimmt dieser Roman Fahrt auf, zumindest ist der Spannungsschalter umgelegt worden. Ich kann mir noch nicht vorstellen, wie sich die Handlung entwickeln wird und bin gespannt.
 

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Ich frage mich, was es mit diesem Ereignis auf sich hat, und ob es für die Handlung relevant ist. Denn Gus hatte scheinbar keinen Bezug zu dem Abbé, sein Tod interessiert ihn jedoch.
Ich frage mich auch, was das mit der Handlung zu tun hat. Und mir ging es ebenso wie dir - dachte auch, Abel sei ermordet worden.
 
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wal.li

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Der Sprachstil hat mir den Einstieg in diesen Roman nicht leicht gemacht.
Mir ging es ähnlich, so als ob man wirklich jeden Satz einzeln lesen müsste. Nach einer Weile habe ich mir aber dran gewöhnt. Ich glaube, das Buch wird dadurch in Teilen sogar fesselnder, weil man fast gegen seine Annahmen in den Bann gezogen wird.
 
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Literaturhexle

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Ich frage mich auch, was das mit der Handlung zu tun hat. Und mir ging es ebenso wie dir - dachte auch, Abel sei ermordet worden.
Ich denke, das war vollkommen beabsichtigt, dass wir das annehmen sollen;). Komisch ist, dass Gus sich nicht erklärt. Er traut Abel offenbar auch nicht richtig. Wo wäre das Problem gewesen zu sagen: Ich habe gestern seltsame Schreie gehört und wollte schauen, ob alles in Ordnung ist bei dir oder ich helfen kann...
 

Die Häsin

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Tja, so sehr gut verstehen sich die beiden halt auch nicht ...
Neben meiner Schwiegermutter wohnt so ein alter alleinstehender Bauer. Der ist derart heruntergekommen, dass ich mich manchmal frage, ob er überhaupt noch zu einer normalen Unterhaltung in der Lage ist. Wenn ich durch den Zufahrtsweg fahre, sehe ich ihn manchmal. Er läuft über den Hof, brabbelt vor sich hin und redet mit seinen Katzen und Kühen, und er sieht aus, als schlafe er im Rinnstein. Er dürfte so um die sechzig sein. Ich scheue davor zurück, mir unsere beiden, Gus und Abel, so vorzustellen, aber ganz abwegig ist es nicht.
 

Literaturhexle

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Da ich ohnehin eine langsame Leserin bin, fühlte sich der Text für mich gar nicht sperrig an. Schon der erste Satz ist gut gewählt:
Es war ein merkwürdiger Tag, einer jener Tage, an denen man den Ort verlässt, wo man, ohne um seine Meinung gefragt worden zu sein, schon immer ansässig war.
Puh. So eine Einöde mag man sich gar nicht vorstellen. Alles wird sehr anschaulich beschrieben. Auch das Ende des Großvaters, der von dem gepeinigten Stier an die Wand genagelt wurde. Diese vermeintlich friedliche Welt hat also auch ihre Gefahren, wenn man nicht aufpasst.

Gus mag den Schnee, der Dreck und Unordnung verbirgt, er mag das reflektierende Licht, das Spiel der Sonne im Schnee:
Vorerst waren die Oberflächen makellos, glatt, hohl oder holprig, ein Albinokörper der Natur 11
Der bewusste Tag versetzt ihn in Unruhe. Zunächst werden die Routinen erledigt. Ich liebe diese auseinandergezogenen, wohlformulierten Beschreibungen, die eine sehr gute Vorstellung der täglichen Arbeiten vermitteln. Die muffelnden Kühe, die übermütigen Kälber. Schade, dass alle mehr oder weniger in Ketten liegen. Die alte Bauernkate, in der der Ofen noch wie vor 100 Jahren angezündet werden muss. Alles sehr bescheiden.
Der Hund, der Gus mehr bedeutet, als alle Hunde zuvor. Warum wird das erwähnt? Sofort erscheint mir Gus über seinen Hund verletzbarer, hoffentlich passiert ihm nichts.
Das Tier gab ihm Gewicht, verlieh seiner eigenen Existenz eine Bedeutung, die seine Einsamkeit in gewisser Weise verringerte. 19
An diesem seltsamen Tag flattern Erinnerungen wie Krähenschwärme auf. Die Metaphern sind herrlich! Auch Gus´ Gefühle werden immer wieder treffend in Sprachbilder verpackt, gerne in solche, die zum einsamen Landleben auch passen (verschluckter Strick, Jauchegrube im Sommer, Fledermäuse an Sommerabenden, etc.)

Abel wird zunehmend geheimnisvoller und unheimlicher gezeichnet. Seit dem Tod der Mutter sind 20 Jahre vergangen, die beiden Männer sind "Freunde" geworden. Trotzdem spricht man nicht über die Vergangenheit. Gus traut dem anderen nicht, will ergründen, was es mit dem Blut auf sich hat. Gleichzeitig hat er auch Angst vor Abels Zorn... Obwohl Abel der Ältere/Schwächere sein müsste, fühlt es sich für mich nicht so an. Irgendwas hat er zu verbergen.

Warum ist der Tod des Abbes gleichermaßen bedeutsam? Ich fühle mich von dem ruhigen Text in einen starken Bann gezogen. Dass mich die Sprache fasziniert, habt ihr sicherlich schon festgestellt. Herrlich!
 

ulrikerabe

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14. August 2017
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Ich lese auch manche Passagen mehrfach. Es ist wie die Splitter im Wein, die sich erst setzen müsse, weil man sich sonst daran verschluckt. Die Metapher habe ich mir von Seite 28 geliehen.

Abel vergleicht das Land mit einem Kind. Man könne beide nicht leiden sehen. Gus wirft Abel, dass er doch das gar nicht wissen kann, weil er(Abel) nie Kinder hatte.

Vielleicht doch, vielleicht nur sehr kurz. Abels Frau ist "an einem Unfall verstorben, den nur Frauen haben können." Klingt stark nach Tod im Kindbett.
 

ulrikerabe

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Ich bin durch und durch Stadtmensch. Die Szene mit der Kuh hat mir Schmerzen verursacht. Es scheint aber Praxis zu sein, den Uterus einer Kuh einfach wieder zurück an seinen Platz zuschieben.

Blut und Wehleidigkeit passt also nicht ganz zusammen. Die Männer sind wohl einiges gewohnt. Der Blutfleck macht Gus aber sehr viel aus.

Mich hat das Buch mit seiner Scgriffgeit und Kälte jedenfalls außerordentlich gepackt.