Micha empfindet sich als Wasser, seine Schwester sieht er als Geröll, Steve als Blätter, der Vater ist Licht und die Mutter das Meer.Und als wüssten die Gegenstände um den Verlust, löschen sie sich aus. Entgleiten ihren angestammten Plätzen, Perlen aus den Regalen. (6)
Dort hängt ein alter Stich an der Wand, auf der eine Schlange zu sehen ist -eine Aspis-Viper, ein Lauerjäger. Ein Hinweis auf Herr Ginster?Alles läuft bei Linne ins Leere. (17)
Kritik an unserer Gesellschaft, in der alles Funktionen soll und keine Zeit bleibt innezuhalten?Verschleppte Trauerarbeit wieder in Gang setzen. Wer beim Trauern auffällt, richtet gesellschaftlichen Schaden an. (76)
Fast war ich froh, als spätestens mit Herrn Ginster die skurrilen Elemente hinzukamen, wie z.B. der Angler am Brunnen. Die Autorin lässt den Leser / die Leserin spüren, wie ver-rückt die Welt ist, wenn die Trauer Einzug hält. Starre, Hilflosigkeit, Sehnsucht, Ohnmacht, ein Nicht-Wissen, wohin mit seinen Gefühlen...Aber eines Morgens ist es anders, und du setzt die Beine aus dem Bett auf den Boden und senkst deine Füße in stumpfes Schwarz, das durch deine Fußsohlen in dir emporwächst, und wenn du aufstehst, dauert jede Bewegung eine Ewigkeit, und willst du aus dem Fenster schauen, gibt es dort nichts mehr zu sehen, weil die Scheiben blind sind und Pech an ihnen herabrinnt. (...) Du stolperst und fällst und rutschst aus und schaffst es doch noch an den Tisch oder in das Bett, aber das Schwarz saugt sich weiter in dir empor, als wärest du ein gottverdammter Schwamm. (...) und ganz selten, wenn es einen Moment gibt, in dem du glaubst, es hinausschaffen zu können und -schafffen zu wollen, tastest du dich an der Wand entlang zur Tür, aber die ist nicht mehr da. (S. 25 f.)
Sie ist offenbar im Krankenhaus gestorben, und alle haben ihrem letzten Atemzug beigewohnt. Weil Johanne zuvor ihre Tagebücher "entsorgen" wollte und es nur ihrem Mann zuliebe nicht getan hat, wussten zumindest die Eltern womöglich von ihrem drohenden Tod? Also eine Krankheit? Andererseits verstehe ich dann nicht Steves Erleichterung, als er die leeren Notizbücher im Auto seiner Mutter fand: "Die Mutter wollte nicht sterben. Sie wollte nicht fortfahren und sie wollte nicht sterben. Vier neue Notizbücher erzählen etwas anderes." (S. 82) Dachte er, seine Mutter wollte sich umbringen? Ich mag es, dass hier noch vieles so vage ist und bin unbednigt neugierig darauf, mehr zu erfahren!Johanne Mohn ist gestorben, aus welchen Gründen erfahren wir nicht.
Das Zitat habe ich mir auch notiert. In der Regel schreibt Stefanie vor Schulte hier in kurzen Sätzen, aber derart bildhaft und eindringlich, das es mich immer wieder fasziniert.Auch die Gegenstände vermissen die Mutter: "Und als wüssten die Gegenstände um den Verlust, löschen sie sich aus. Entgleiten ihren angestammten Plätzen, Perlen aus den Regalen." (6)
Auch wieder wunderschöne Bilder, die auch zu passen scheinen, wie sich nach und nach herausstellt. Micha im Schwimmbad zu erleben (aus Steves Sicht), hatte etwas Besonderes, Linne als Stein passt für mich ebenfalls, mit ihrer Härte und der Wut, die die Trauer überlagert, Steve bei seiner Kamikazefahrt mit dem Rollbrett die Straße hinunter mit der großen Eiche als Ziel - die jedoch vom Eichenprozessionsspinner befallen ist und droht unterzugehen, wieder ein Kloß-im-Hals-Moment, was bleibt dann noch. Den Vater als Licht sehe ich noch nicht, und von der Mutter wissen wir noch sehr wenig - außer dass sie gestorben ist.Micha empfindet sich als Wasser, seine Schwester sieht er als Geröll, Steve als Blätter, der Vater ist Licht und die Mutter das Meer.
Das mit der Gesellschaftskritik würde ich so auch herauslesen. Stefanie vor Schulte treibt es hier auf die Spitze, was ich sehr gelungen finde. Zumindest aber stößt Herr Ginster tatsächlich eine Entwicklung an, die Familienmitglieder lösen sich etwas aus ihrer Starre. Ob es die von ihm beabsichtigte Entwicklung ist, bleibt jedoch abzuwarten. Die Familie neigt zum "Trotz"...Das Ehepaar Kalster regt sich auf, weil die Mohns unmäßig trauern, das ist in dieser Welt nicht erwünscht, so dass das Traueramt einschreitet. Herr Ginster, der Beamte vom Traueramt, tritt auf den Plan und beobachtet die Familie fortan wegen „verschleppter Trauerarbeit“. (58) Die Nachbarn haben sie denunziert, die alte Frau Schmidt hört sogar mit einem Glas an der Wand ihre Gespräche ab. Kritik an unserer Gesellschaft, in der alles funktionieren soll und keine Zeit bleibt innezuhalten?
Allerdings. Ich kenne niemanden, der eine "verrückte Obdachlose" (ich schreibe das hier mal politisch unkorrekt und flapsig hin, ohne es so zu meinen, nur um den Kontrast zu verdeutlichen) als "Dame" bezeichnen würde. Ich musste spontan an die Erzählung von Anton Tschechow denken "Die Dame mit dem Hündchen". Die Begegnung mit besagter Dame verändert den Protagonisten von Grund auf. Ob diese Assoziation von der Autorin gewollt ist?Seltsam ist auch die Dame mit Hund, der eigentlich ein Ball ist
Eine sehr interessante Rhetorik wie ich finde.Micha empfindet sich als Wasser, seine Schwester sieht er als Geröll, Steve als Blätter, der Vater ist Licht und die Mutter das Meer.
Wer ist das? Habe ich etwas Entscheidendes überlesen?Ein Hinweis auf Herr Ginster?
Okay, ich hatte den Namen noch nicht abgespeichert...Herr Ginster, der Beamte vom Traueramt
Für mich klingt das auch sehr nach einer unheilbaren Krankheit o.ä. Mmh, die leeren Tagebücher- ein Hinweis vermutlich schon, dass sie weiterleben wollte. Einen Hinweis auf einen potentiellen Selbstmord habe ich nicht herausgelesenWeil Johanne zuvor ihre Tagebücher "entsorgen" wollte und es nur ihrem Mann zuliebe nicht getan hat, wussten zumindest die Eltern womöglich von ihrem drohenden Tod? Also eine Krankheit? Andererseits verstehe ich dann nicht Steves Erleichterung, als er die leeren Notizbücher im Auto seiner Mutter fand: "Die Mutter wollte nicht sterben. Sie wollte nicht fortfahren und sie wollte nicht sterben. Vier neue Notizbücher erzählen etwas anderes." Dachte er, seine Mutter wollte sich umbringen?
Das mit der Kritik an der Gesellschaft sehe ich auch so! Ist ja 'unangenehm', beim Trauern zusehen zu müssen.Herr Ginster, der Beamte vom Traueramt, tritt auf den Plan und beobachtet die Familie fortan wegen „verschleppter Trauerarbeit“. (58) Die Nachbarn haben sie denunziert, die alte Frau Schmidt hört sogar mit einem Glas an der Wand ihre Gespräche ab.
Kritik an unserer Gesellschaft, in der alles Funktionen soll und keine Zeit bleibt innezuhalten?
Genau!!!!! Du sprichst mir damit voll aus dem Herzen! Mich störte auch nicht im geringsten das 'Fantastische', dass Irrationale - Trauer ist einfach ein Ausnahmezustand.! Stilistisch und sprachlich bin ich bisher ganz angetan von der Schreibe der Autorin, von der ich bislang noch nichts las.Fast war ich froh, als spätestens mit Herrn Ginster die skurrilen Elemente hinzukamen, wie z.B. der Angler am Brunnen. Die Autorin lässt den Leser / die Leserin spüren, wie ver-rückt die Welt ist, wenn die Trauer Einzug hält. Starre, Hilflosigkeit, Sehnsucht, Ohnmacht, ein Nicht-Wissen, wohin mit seinen Gefühlen...
Sehe ich genauso!Für mich klingt das auch sehr nach einer unheilbaren Krankheit o.ä. Mmh, die leeren Tagebücher- ein Hinweis vermutlich schon, dass sie weiterleben wollte. Einen Hinweis auf einen potentiellen Selbstmord habe ich nicht herausgelesen
Genau, das ist auch mein Eindruck.Die Geschichte wirkt irgendwie ein wenig wie so eine Art Schauermärchen.
und wie reagiert man darauf? Besser die Familie macht weiter und steigt wieder ein ins Leben. Ich habe oft den Eindruck, dass wir keine Trauerkultur haben.Ist ja 'unangenehm', beim Trauern zusehen zu müssen.
Dem ist wohl leider so. Deshalb ist die Einschätzung völlig richtig, dass wir hier ein gesellschaftskritisches Buch vor uns haben.Ich habe oft den Eindruck, dass wir keine Trauerkultur haben.
Ja, das Bild. Aber ich habe bislang nichts herauslesen können, obwohl dieser erste Hinweis bestimmt wichtig ist.Auf die Schlangen bin ich auch gespannt, bisher ist nur das Bild im Zimmer des Direktors aufgetaucht.
Stimme ich voll zu! Die schwarze Kleidung ist ja schon länger weg - wird höchstens (auch nicht immer!) bei der Beerdigung getragen. Und dann erwartet die Umwelt, dass möglichst schnell wieder zum Tagesalltag übergegangen wird. Viele sind da auch hilflos, wie sie sich verhalten sollen.Ich habe oft den Eindruck, dass wir keine Trauerkultur haben.
Da hast du völlig Recht, in dieser Hinsicht erwartet unsere Gesellschaft, dass man schnell zur Tagesordnung übergeht. Insofern hat die Autorin da einen wichtigen Punkt angesprochen.Logisch war die noch nach 2 Monaten 'neben der Kappe'. Eine weitere Mitschülerin: "Mensch, das ist doch schon zwei Monate her - wie lange will sie denn noch trauern!"
Vielen Dank für diesen Tipp! Ist gleich auf meine Liste gewandert, denn unsere Enkel sind ja in diesem Alter und sind außerdem auch noch Leseratten! (Von w e m sie d a s nur haben?! )Parallel habe ich gerade meine alte Rezension zu Stefanie Höflers zum Thema passendem Jugendbuch "Der große schwarze Vogel" gepostet, ein ganz wunderbares, höchst empfehlenswertes Buch über eine Familie nach dem Verlust der Mutter:
Als ich am Tod meines Vaters länger knabberte bekam ich den Spruch auch immer wieder reingedrückt, wie lange es her sei und dass das Lben ja weiter gehe... Schlimm!Stimme ich voll zu! Die schwarze Kleidung ist ja schon länger weg - wird höchstens (auch nicht immer!) bei der Beerdigung getragen. Und dann erwartet die Umwelt, dass möglichst schnell wieder zum Tagesalltag übergegangen wird. Viele sind da auch hilflos, wie sie sich verhalten sollen.
Erzählte erst vor wenigen Tagen unsere knapp 13-jährige Enkeltochter aus ihrer Klasse, dass eine Mitschülerin ihre Mutter verloren hat. Logisch war die noch nach 2 Monaten 'neben der Kappe'. Eine weitere Mitschülerin: "Mensch, das ist doch schon zwei Monate her - wie lange will sie denn noch trauern!"
Das Cover sieht ja schon mal toll aus - so schön herbstlich.Ich bin mit dem Abschnitt noch nicht ganz durch, fühle ich mich aber sofort in der Welt der Familie angekommen.
Parallel habe ich gerade meine alte Rezension zu Stefanie Höflers zum Thema passendem Jugendbuch "Der große schwarze Vogel" gepostet, ein ganz wunderbares, höchst empfehlenswertes Buch über eine Familie nach dem Verlust der Mutter:
Oh ja, das kann ich mir gut vorstellen!Als ich am Tod meines Vaters länger knabberte bekam ich den Spruch auch immer wieder reingedrückt, wie lange es her sei und dass das Lben ja weiter gehe... Schlimm!
Das ist ja ein toller Gedanke, der mir in überhaupt nicht gekommen ist beim Lesen. Danke für die Anregung!Dort hängt ein alter Stich an der Wand, auf der eine Schlange zu sehen ist -eine Aspis-Viper, ein Lauerjäger. Ein Hinweis auf Herr Ginster?
Und doch schleicht sich das Fantastische in die Handlung.
Diese märchenhafte/fantastische Komponente hatte ich gar nicht erwartet im Roman. Muss aber auch sagen, dass ich den Vorgänger "Der Junge mit dem schwarzen Hahn" nicht gelesen und gerade eben erst aus dem Infotext von @Literaturhexle aus dem Vorstellungsbeitrag entnommen habe, dass es dort auch märchenhaft zugeht. Scheinbar ein Stilmittel der Autorin und nicht nur etwas, was begrenzt auf eine Veröffentlichung aufgetaucht ist.mutet märchenhaft an.
Genau! Und ich finde, der "Vorwurf", der von Seiten des Traueramtes erhoben wird, hier werde Trauer verschleppt, gar nicht unbedingt gerechtfertigt. Trauer sieht eben immer anders aus. Und dass die Familie trauert, sieht man schon.Dabei hat jede:r eine eigene Art, mit der Trauer umzugehen.
Man könnte es auch so deuten, dass er vielleicht (z.B. im Rahmen einer Krebserkrankung der Mutter) zeitweise gedacht hat, sie habe "aufgegeben" und habe nicht weiter kämpfen wollen. Etwas, was häufig Angehörige von Krebskranken ja fast fordern, obwohl manchmal das Aussetzen von Therapien angebrachter ist, um würdevoll sterben zu können.Andererseits verstehe ich dann nicht Steves Erleichterung, als er die leeren Notizbücher im Auto seiner Mutter fand: "Die Mutter wollte nicht sterben. Sie wollte nicht fortfahren und sie wollte nicht sterben. Vier neue Notizbücher erzählen etwas anderes." (S. 82) Dachte er, seine Mutter wollte sich umbringen? Ich mag es, dass hier noch vieles so vage ist und bin unbednigt neugierig darauf, mehr zu erfahren!
Genau! Und dieser Tonfall lässt auf jeden Fall beim lesen aufhorchen. Wirklich sehr gut gemacht.Zum Thema Trauerbewältigung habe ich im Laufe der Jahre ja bereits sehr viele Bücher gelesen, dieses hier hat jedoch seinen ganz eigenen Tonfall.
Und nicht nur die Gesellschaft erwartet das. Mittlerweile ist das schon auf die Trauernden übergegangen diese Norm der "schnellen Trauer". Ich habe in der psychologischen beratung immer häufiger Menschen, die nicht zu mir kommen, weil sie selbst denken, dass sie eine Trauerbegleitung benötigen, sondern weil sie denken, sie bräuchten im Vergleich zur Norm zu lange. Dabei ist häufig der Trauerprozess als solcher vollkommen "normal" und überhaupt nicht (psychopathologisch) auffällig. Da kann ich dann häufig allein mit der Aussage schon viel Druck rausnehmen. Trauernde haben schon genug zu tragen und dann müssen sie noch die Erwartungen der Umwelt mittragen.Da hast du völlig Recht, in dieser Hinsicht erwartet unsere Gesellschaft, dass man schnell zur Tagesordnung übergeht. Insofern hat die Autorin da einen wichtigen Punkt angesprochen.
Trauernde haben schon genug zu tragen und dann müssen sie noch die Erwartungen der Umwelt mittragen.
Da leistet du eine wichtige Arbeit, denn jeder von uns trauert auf seine Weise und sollte sich in dieser Phase nicht an Normen der Gesellschaft halten müssen. Und dass diese Familie alle Normen sprengt, wird im Folgenden deutlichIch habe in der psychologischen beratung immer häufiger Menschen, die nicht zu mir kommen, weil sie selbst denken, dass sie eine Trauerbegleitung benötigen, sondern weil sie denken, sie bräuchten im Vergleich zur Norm zu lange.