1. Leseabschnitt: Kapitel 1 bis 13 (Beginn bis Seite 82)

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Johanne Mohn ist gestorben, aus welchen Gründen erfahren wir nicht. Sie hinterlässt ihren Mann Adam, der seine Arbeit kündigt, sowie drei Kinder. Steve, der Älteste unterbricht sein Studium und zieht wieder nach Hause. Micha (11) und Linne (12) kommen auf ihre Art nicht mit dem Tod der Mutter zurecht.
Alle essen sie das Tagebuch der Mutter, ohne es zu lesen, weil Adam ihr versprochen hat, dass niemand sie lesen werde. Als wollten sie sich ihre Erinnerungen einverleiben, um sie nicht zu vergessen. Nur Linne stiehlt Papierfetzen, um sie zu lesen.
Auch die Gegenstände vermissen die Mutter:
Und als wüssten die Gegenstände um den Verlust, löschen sie sich aus. Entgleiten ihren angestammten Plätzen, Perlen aus den Regalen. (6)
Micha empfindet sich als Wasser, seine Schwester sieht er als Geröll, Steve als Blätter, der Vater ist Licht und die Mutter das Meer.
Nach dem Lesen des 1. Kapitels erscheint der Eindruck einer fantastischen Welt, doch in den folgenden Kapiteln wird deutlich, dass das Setting fast unserer Welt entspricht. Die Kinder gehen zur Schule, es gibt ein Schwimmbad, eine Straßenbahn, nervige Nachbarn ;)
Und doch schleicht sich das Fantastische in die Handlung.
Linne, die eine unbändige Wut in sich trägt und sich auf dem Schulhof prügelt, wird zum Direktor bestellt.
Alles läuft bei Linne ins Leere. (17)
Dort hängt ein alter Stich an der Wand, auf der eine Schlange zu sehen ist -eine Aspis-Viper, ein Lauerjäger. Ein Hinweis auf Herr Ginster?
Steve sieht in allem Gesichter, genau wie die Mutter.
Das Ehepaar Kalster regt sich auf, weil die Mohns unmäßig trauern, das ist in dieser Welt nicht erwünscht, so dass das Traueramt einschreitet. Seltsam ist auch die Dame mit Hund, der eigentlich ein Ball ist und auch die Figur Brassert auf dem Friedhof, den die Kinder jeden Nachbesuchen, mutet märchenhaft an.
Im Schwimmbad wird deutlich, dass die Mohns nicht mehr zum „normalen Leben“ fähig sind. Herr Ginster, der Beamte vom Traueramt, tritt auf den Plan und beobachtet die Familie fortan wegen „verschleppter Trauerarbeit“. (58) Die Nachbarn haben sie denunziert, die alte Frau Schmidt hört sogar mit einem Glas an der Wand ihre Gespräche ab.
Verschleppte Trauerarbeit wieder in Gang setzen. Wer beim Trauern auffällt, richtet gesellschaftlichen Schaden an. (76)
Kritik an unserer Gesellschaft, in der alles Funktionen soll und keine Zeit bleibt innezuhalten?

Mir gefällt der Roman gerade wegen der märchenhafte Elemente und der Sprache sehr gut. Freue mich aufs Weiterlesen.
 

parden

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13. April 2014
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@Querleserin hat das Geschehen wunderbar zusammengefasst. Ich liebe das Buch bis hierher unbedingt! Gerade die ersten Kapitel, in denen jedes Familienmitglied für sich in Einsamkeit gefangen trauert und daraus nicht mehr aufzutauchen vermag, haben mich sehr berührt - es war, als sei ich mitgefangen. Dabei hat jede:r eine eigene Art, mit der Trauer umzugehen. Micha, der Leise, der droht darin unterzugehen, Linne, die Wütende, die Ventile für ihre Wut sucht und sich zumindest im Schmerz noch spürt, Steve, der Fürsorgliche, der sich selbst zu vergessen droht, und Adam, dessen drohende Depression so bildhaft beschrieben wurde, dass ich völlig fasziniert war.
Aber eines Morgens ist es anders, und du setzt die Beine aus dem Bett auf den Boden und senkst deine Füße in stumpfes Schwarz, das durch deine Fußsohlen in dir emporwächst, und wenn du aufstehst, dauert jede Bewegung eine Ewigkeit, und willst du aus dem Fenster schauen, gibt es dort nichts mehr zu sehen, weil die Scheiben blind sind und Pech an ihnen herabrinnt. (...) Du stolperst und fällst und rutschst aus und schaffst es doch noch an den Tisch oder in das Bett, aber das Schwarz saugt sich weiter in dir empor, als wärest du ein gottverdammter Schwamm. (...) und ganz selten, wenn es einen Moment gibt, in dem du glaubst, es hinausschaffen zu können und -schafffen zu wollen, tastest du dich an der Wand entlang zur Tür, aber die ist nicht mehr da. (S. 25 f.)
Fast war ich froh, als spätestens mit Herrn Ginster die skurrilen Elemente hinzukamen, wie z.B. der Angler am Brunnen. Die Autorin lässt den Leser / die Leserin spüren, wie ver-rückt die Welt ist, wenn die Trauer Einzug hält. Starre, Hilflosigkeit, Sehnsucht, Ohnmacht, ein Nicht-Wissen, wohin mit seinen Gefühlen...
 

parden

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13. April 2014
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Johanne Mohn ist gestorben, aus welchen Gründen erfahren wir nicht.
Sie ist offenbar im Krankenhaus gestorben, und alle haben ihrem letzten Atemzug beigewohnt. Weil Johanne zuvor ihre Tagebücher "entsorgen" wollte und es nur ihrem Mann zuliebe nicht getan hat, wussten zumindest die Eltern womöglich von ihrem drohenden Tod? Also eine Krankheit? Andererseits verstehe ich dann nicht Steves Erleichterung, als er die leeren Notizbücher im Auto seiner Mutter fand: "Die Mutter wollte nicht sterben. Sie wollte nicht fortfahren und sie wollte nicht sterben. Vier neue Notizbücher erzählen etwas anderes." (S. 82) Dachte er, seine Mutter wollte sich umbringen? Ich mag es, dass hier noch vieles so vage ist und bin unbednigt neugierig darauf, mehr zu erfahren!
Auch die Gegenstände vermissen die Mutter: "Und als wüssten die Gegenstände um den Verlust, löschen sie sich aus. Entgleiten ihren angestammten Plätzen, Perlen aus den Regalen." (6)
Das Zitat habe ich mir auch notiert. In der Regel schreibt Stefanie vor Schulte hier in kurzen Sätzen, aber derart bildhaft und eindringlich, das es mich immer wieder fasziniert.
Micha empfindet sich als Wasser, seine Schwester sieht er als Geröll, Steve als Blätter, der Vater ist Licht und die Mutter das Meer.
Auch wieder wunderschöne Bilder, die auch zu passen scheinen, wie sich nach und nach herausstellt. Micha im Schwimmbad zu erleben (aus Steves Sicht), hatte etwas Besonderes, Linne als Stein passt für mich ebenfalls, mit ihrer Härte und der Wut, die die Trauer überlagert, Steve bei seiner Kamikazefahrt mit dem Rollbrett die Straße hinunter mit der großen Eiche als Ziel - die jedoch vom Eichenprozessionsspinner befallen ist und droht unterzugehen, wieder ein Kloß-im-Hals-Moment, was bleibt dann noch. Den Vater als Licht sehe ich noch nicht, und von der Mutter wissen wir noch sehr wenig - außer dass sie gestorben ist.
Das Ehepaar Kalster regt sich auf, weil die Mohns unmäßig trauern, das ist in dieser Welt nicht erwünscht, so dass das Traueramt einschreitet. Herr Ginster, der Beamte vom Traueramt, tritt auf den Plan und beobachtet die Familie fortan wegen „verschleppter Trauerarbeit“. (58) Die Nachbarn haben sie denunziert, die alte Frau Schmidt hört sogar mit einem Glas an der Wand ihre Gespräche ab. Kritik an unserer Gesellschaft, in der alles funktionieren soll und keine Zeit bleibt innezuhalten?
Das mit der Gesellschaftskritik würde ich so auch herauslesen. Stefanie vor Schulte treibt es hier auf die Spitze, was ich sehr gelungen finde. Zumindest aber stößt Herr Ginster tatsächlich eine Entwicklung an, die Familienmitglieder lösen sich etwas aus ihrer Starre. Ob es die von ihm beabsichtigte Entwicklung ist, bleibt jedoch abzuwarten. Die Familie neigt zum "Trotz"... ;)
Seltsam ist auch die Dame mit Hund, der eigentlich ein Ball ist
Allerdings. Ich kenne niemanden, der eine "verrückte Obdachlose" (ich schreibe das hier mal politisch unkorrekt und flapsig hin, ohne es so zu meinen, nur um den Kontrast zu verdeutlichen) als "Dame" bezeichnen würde. Ich musste spontan an die Erzählung von Anton Tschechow denken "Die Dame mit dem Hündchen". Die Begegnung mit besagter Dame verändert den Protagonisten von Grund auf. Ob diese Assoziation von der Autorin gewollt ist?
 

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29. März 2022
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Ich habe den ersten Abschnitt heute vormittag gelesen und bin bislang sehr angetan von dem Buch. Zum Thema Trauerbewältigung habe ich im Laufe der Jahre ja bereits sehr viele Bücher gelesen, dieses hier hat jedoch seinen ganz eigenen Tonfall. Die Geschichte wirkt irgendwie ein wenig wie so eine Art Schauermärchen.
Mutter Johanne ist tot und hinterlässt in ihrer Familie ein riesiges Loch. Doch das darf nicht sein, Johanne und die Erinnerung an sie, muss konserviert werden und sei es, wenn man dafür Notizen ihres Tagesbuch verzehren muss.
Jede/r trauert hier auf höchst individuelle Art und Weise. Wir wissen, wenn ich mich nicht täusche, nicht, wie lange Johanne bereits tot ist. Die Umwelt der Familie beschließt jedoch, dass der Trauerprozess zu lange dauere und das Leben weitergehen müsse. Da sind die Nachbarn, das Traueramt...
Ich bin gespannt, wie es weiter geht und was es mit den "Schlangen im Garten" auf sich hat.
Stilistisch und sprachlich bin ich bisher ganz angetan von der Schreibe der Autorin, von der ich bislang noch nichts las.
 

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29. März 2022
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Micha empfindet sich als Wasser, seine Schwester sieht er als Geröll, Steve als Blätter, der Vater ist Licht und die Mutter das Meer.
Eine sehr interessante Rhetorik wie ich finde.
Ein Hinweis auf Herr Ginster?
Wer ist das? Habe ich etwas Entscheidendes überlesen? :think
Herr Ginster, der Beamte vom Traueramt
Okay, ich hatte den Namen noch nicht abgespeichert...
Weil Johanne zuvor ihre Tagebücher "entsorgen" wollte und es nur ihrem Mann zuliebe nicht getan hat, wussten zumindest die Eltern womöglich von ihrem drohenden Tod? Also eine Krankheit? Andererseits verstehe ich dann nicht Steves Erleichterung, als er die leeren Notizbücher im Auto seiner Mutter fand: "Die Mutter wollte nicht sterben. Sie wollte nicht fortfahren und sie wollte nicht sterben. Vier neue Notizbücher erzählen etwas anderes." Dachte er, seine Mutter wollte sich umbringen?
Für mich klingt das auch sehr nach einer unheilbaren Krankheit o.ä. Mmh, die leeren Tagebücher- ein Hinweis vermutlich schon, dass sie weiterleben wollte. Einen Hinweis auf einen potentiellen Selbstmord habe ich nicht herausgelesen
 

otegami

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17. Dezember 2021
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Trauer - einmal total anders geschildert! Und ich finde es sehr gut!!!!! Ich fühle so richtig mit, es berührt mich sehr!
Herr Ginster, der Beamte vom Traueramt, tritt auf den Plan und beobachtet die Familie fortan wegen „verschleppter Trauerarbeit“. (58) Die Nachbarn haben sie denunziert, die alte Frau Schmidt hört sogar mit einem Glas an der Wand ihre Gespräche ab.

Kritik an unserer Gesellschaft, in der alles Funktionen soll und keine Zeit bleibt innezuhalten?
Das mit der Kritik an der Gesellschaft sehe ich auch so! Ist ja 'unangenehm', beim Trauern zusehen zu müssen.
Bei Frau Schmidt musste ich an die Stasi denken - dass nicht noch Wanzen angebracht worden sind vom Traueramt! :mad:

Herrlich unsensibel ist auch Marlene in der Straßenbahn geschildert: sie erzählt von einer alten Villa am Stausee............ Den ganzen Tag hätten sie nicht anderes getan als zu kochen, zu essen, abends Wein zu trinken...........
Genau das, was Steve braucht! *Ironie aus* :p

Fast war ich froh, als spätestens mit Herrn Ginster die skurrilen Elemente hinzukamen, wie z.B. der Angler am Brunnen. Die Autorin lässt den Leser / die Leserin spüren, wie ver-rückt die Welt ist, wenn die Trauer Einzug hält. Starre, Hilflosigkeit, Sehnsucht, Ohnmacht, ein Nicht-Wissen, wohin mit seinen Gefühlen...
Genau!!!!! Du sprichst mir damit voll aus dem Herzen! ;) Mich störte auch nicht im geringsten das 'Fantastische', dass Irrationale - Trauer ist einfach ein Ausnahmezustand.! Stilistisch und sprachlich bin ich bisher ganz angetan von der Schreibe der Autorin, von der ich bislang noch nichts las.
Bin ich auch! Ich habe 'Junge mit schwarzem Hahn' von ihr gelesen, fand ihn auch genial, aber dieses Buch finde ich - trotz der skurrilen Elemente 'handfester'.
Für mich klingt das auch sehr nach einer unheilbaren Krankheit o.ä. Mmh, die leeren Tagebücher- ein Hinweis vermutlich schon, dass sie weiterleben wollte. Einen Hinweis auf einen potentiellen Selbstmord habe ich nicht herausgelesen
Sehe ich genauso!
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Die Geschichte wirkt irgendwie ein wenig wie so eine Art Schauermärchen.
Genau, das ist auch mein Eindruck.
Ist ja 'unangenehm', beim Trauern zusehen zu müssen.
und wie reagiert man darauf? Besser die Familie macht weiter und steigt wieder ein ins Leben. Ich habe oft den Eindruck, dass wir keine Trauerkultur haben.
Auf die Schlangen bin ich auch gespannt, bisher ist nur das Bild im Zimmer des Direktors aufgetaucht.
 

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29. März 2022
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Ich habe oft den Eindruck, dass wir keine Trauerkultur haben.
Dem ist wohl leider so. Deshalb ist die Einschätzung völlig richtig, dass wir hier ein gesellschaftskritisches Buch vor uns haben.
Auf die Schlangen bin ich auch gespannt, bisher ist nur das Bild im Zimmer des Direktors aufgetaucht.
Ja, das Bild. Aber ich habe bislang nichts herauslesen können, obwohl dieser erste Hinweis bestimmt wichtig ist.
 

otegami

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17. Dezember 2021
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Ich habe oft den Eindruck, dass wir keine Trauerkultur haben.
Stimme ich voll zu! Die schwarze Kleidung ist ja schon länger weg - wird höchstens (auch nicht immer!) bei der Beerdigung getragen. Und dann erwartet die Umwelt, dass möglichst schnell wieder zum Tagesalltag übergegangen wird. Viele sind da auch hilflos, wie sie sich verhalten sollen.
Erzählte erst vor wenigen Tagen unsere knapp 13-jährige Enkeltochter aus ihrer Klasse, dass eine Mitschülerin ihre Mutter verloren hat. Logisch war die noch nach 2 Monaten 'neben der Kappe'. Eine weitere Mitschülerin: "Mensch, das ist doch schon zwei Monate her - wie lange will sie denn noch trauern!" :mad:
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Logisch war die noch nach 2 Monaten 'neben der Kappe'. Eine weitere Mitschülerin: "Mensch, das ist doch schon zwei Monate her - wie lange will sie denn noch trauern!"
Da hast du völlig Recht, in dieser Hinsicht erwartet unsere Gesellschaft, dass man schnell zur Tagesordnung übergeht. Insofern hat die Autorin da einen wichtigen Punkt angesprochen.
 

Barbara62

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19. März 2020
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mit-büchern-um-die-welt.de
Ich bin mit dem Abschnitt noch nicht ganz durch, fühle ich mich aber sofort in der Welt der Familie angekommen.

Parallel habe ich gerade meine alte Rezension zu Stefanie Höflers zum Thema passendem Jugendbuch "Der große schwarze Vogel" gepostet, ein ganz wunderbares, höchst empfehlenswertes Buch über eine Familie nach dem Verlust der Mutter:

 
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otegami

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Parallel habe ich gerade meine alte Rezension zu Stefanie Höflers zum Thema passendem Jugendbuch "Der große schwarze Vogel" gepostet, ein ganz wunderbares, höchst empfehlenswertes Buch über eine Familie nach dem Verlust der Mutter:

Vielen Dank für diesen Tipp! Ist gleich auf meine Liste gewandert, denn unsere Enkel sind ja in diesem Alter und sind außerdem auch noch Leseratten! :party (Von w e m sie d a s nur haben?! :think:cool: )
 

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29. März 2022
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Stimme ich voll zu! Die schwarze Kleidung ist ja schon länger weg - wird höchstens (auch nicht immer!) bei der Beerdigung getragen. Und dann erwartet die Umwelt, dass möglichst schnell wieder zum Tagesalltag übergegangen wird. Viele sind da auch hilflos, wie sie sich verhalten sollen.
Erzählte erst vor wenigen Tagen unsere knapp 13-jährige Enkeltochter aus ihrer Klasse, dass eine Mitschülerin ihre Mutter verloren hat. Logisch war die noch nach 2 Monaten 'neben der Kappe'. Eine weitere Mitschülerin: "Mensch, das ist doch schon zwei Monate her - wie lange will sie denn noch trauern!" :mad:
Als ich am Tod meines Vaters länger knabberte bekam ich den Spruch auch immer wieder reingedrückt, wie lange es her sei und dass das Lben ja weiter gehe... Schlimm!
 

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29. März 2022
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:) Ich bin mit dem Abschnitt noch nicht ganz durch, fühle ich mich aber sofort in der Welt der Familie angekommen.

Parallel habe ich gerade meine alte Rezension zu Stefanie Höflers zum Thema passendem Jugendbuch "Der große schwarze Vogel" gepostet, ein ganz wunderbares, höchst empfehlenswertes Buch über eine Familie nach dem Verlust der Mutter:

Das Cover sieht ja schon mal toll aus - so schön herbstlich.
 
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Reaktionen: Barbara62 und otegami

otegami

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17. Dezember 2021
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Als ich am Tod meines Vaters länger knabberte bekam ich den Spruch auch immer wieder reingedrückt, wie lange es her sei und dass das Lben ja weiter gehe... Schlimm!
Oh ja, das kann ich mir gut vorstellen!
Ich finde es sowieso eine Unart, dass Menschen alles kommentieren müssen, auch wenn sie das 'einen Schmarrn angeht'! Ich denke da an sehr gute Bekannte, wo von ihr der Vater gestorben ist. Und dann ist doch wirklich ein Freund der Familie nach 4 Monaten (!!!!) nach dem Tod bei ihrer Mutter eingezogen! Auf dem Dorf!!!!! :rofl
Kannst Du Dir vorstellen, w a s da los war? Was sich Ursel anhören musste? "Na Ursel, das geht doch nicht! Da musst Du doch mit Deiner Mutter reden!" :apenosee
Die Mutter war da Ende 40, hatte mit ihrem Mann eine glückliche Ehe geführt, und es bot sich gerade halt so an. Das musste sie wissen!!!!! (Sie führte auch mit dem neuen Mann an ihrer Seite noch einmal - bis zu ihrem Tod - eine glückliche Beziehung, er wurde auch herzlich aufgenommen in der Familie, wurde zum liebevollen Opa als ein Enkel kam.)
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Dort hängt ein alter Stich an der Wand, auf der eine Schlange zu sehen ist -eine Aspis-Viper, ein Lauerjäger. Ein Hinweis auf Herr Ginster?
Das ist ja ein toller Gedanke, der mir in überhaupt nicht gekommen ist beim Lesen. Danke für die Anregung!
Und doch schleicht sich das Fantastische in die Handlung.
mutet märchenhaft an.
Diese märchenhafte/fantastische Komponente hatte ich gar nicht erwartet im Roman. Muss aber auch sagen, dass ich den Vorgänger "Der Junge mit dem schwarzen Hahn" nicht gelesen und gerade eben erst aus dem Infotext von @Literaturhexle aus dem Vorstellungsbeitrag entnommen habe, dass es dort auch märchenhaft zugeht. Scheinbar ein Stilmittel der Autorin und nicht nur etwas, was begrenzt auf eine Veröffentlichung aufgetaucht ist.
Dabei hat jede:r eine eigene Art, mit der Trauer umzugehen.
Genau! Und ich finde, der "Vorwurf", der von Seiten des Traueramtes erhoben wird, hier werde Trauer verschleppt, gar nicht unbedingt gerechtfertigt. Trauer sieht eben immer anders aus. Und dass die Familie trauert, sieht man schon.
Andererseits verstehe ich dann nicht Steves Erleichterung, als er die leeren Notizbücher im Auto seiner Mutter fand: "Die Mutter wollte nicht sterben. Sie wollte nicht fortfahren und sie wollte nicht sterben. Vier neue Notizbücher erzählen etwas anderes." (S. 82) Dachte er, seine Mutter wollte sich umbringen? Ich mag es, dass hier noch vieles so vage ist und bin unbednigt neugierig darauf, mehr zu erfahren!
Man könnte es auch so deuten, dass er vielleicht (z.B. im Rahmen einer Krebserkrankung der Mutter) zeitweise gedacht hat, sie habe "aufgegeben" und habe nicht weiter kämpfen wollen. Etwas, was häufig Angehörige von Krebskranken ja fast fordern, obwohl manchmal das Aussetzen von Therapien angebrachter ist, um würdevoll sterben zu können.
Zum Thema Trauerbewältigung habe ich im Laufe der Jahre ja bereits sehr viele Bücher gelesen, dieses hier hat jedoch seinen ganz eigenen Tonfall.
Genau! Und dieser Tonfall lässt auf jeden Fall beim lesen aufhorchen. Wirklich sehr gut gemacht.
Da hast du völlig Recht, in dieser Hinsicht erwartet unsere Gesellschaft, dass man schnell zur Tagesordnung übergeht. Insofern hat die Autorin da einen wichtigen Punkt angesprochen.
Und nicht nur die Gesellschaft erwartet das. Mittlerweile ist das schon auf die Trauernden übergegangen diese Norm der "schnellen Trauer". Ich habe in der psychologischen beratung immer häufiger Menschen, die nicht zu mir kommen, weil sie selbst denken, dass sie eine Trauerbegleitung benötigen, sondern weil sie denken, sie bräuchten im Vergleich zur Norm zu lange. Dabei ist häufig der Trauerprozess als solcher vollkommen "normal" und überhaupt nicht (psychopathologisch) auffällig. Da kann ich dann häufig allein mit der Aussage schon viel Druck rausnehmen. Trauernde haben schon genug zu tragen und dann müssen sie noch die Erwartungen der Umwelt mittragen.

Mir gefällt, ebenso wie meinen Vorrednerinnen, das Buch auch sehr gut. Die unkonventionelle Art, mit der vor Schulte an das Thema Trauer herangeht, zeigt noch deutlich die Konventionen auf, die bezüglich dieses Themas in der Gesellschaft existieren. Mir gefallen die mitunter auch sehr homuvollen Sprachbilder sehr gut. Alles ist etwas skurril oder eben "verrückt", wie @otegami oben schon meinte. Und so "verrückt" ist eben die Welt, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat. Gerade die fantastischen Elemente hatte ich gar nicht erwartet, sie gefallen mir aber sehr bisher.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Ich habe in der psychologischen beratung immer häufiger Menschen, die nicht zu mir kommen, weil sie selbst denken, dass sie eine Trauerbegleitung benötigen, sondern weil sie denken, sie bräuchten im Vergleich zur Norm zu lange.
Da leistet du eine wichtige Arbeit, denn jeder von uns trauert auf seine Weise und sollte sich in dieser Phase nicht an Normen der Gesellschaft halten müssen. Und dass diese Familie alle Normen sprengt, wird im Folgenden deutlich ;)
 

Barbara62

Bekanntes Mitglied
19. März 2020
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Baden-Württemberg
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Ich bin total geplättet vom Umschlag ins Fantastische und muss erst eine Nacht darüber schlafen. Es kam für mich völlig unerwartet und ich schwanke noch, ob ich es genial oder skurril finde. Davor hatte mich das Buch sehr mitgenommen, weil die Atmosphäre in der trauernden Familie so unglaublich greifbar war. Ich habe nicht jedes Bild und jeden Gedankengang verstanden, aber egal, gefühlsmäßig war ich den Trauernden sehr nah. Jeder reagiert auf seine Weise, aber alle glaubhaft.
Morgen mehr.